Friday, August 20, 2004

Herman Melville: Benito Cereno

Erzählung (1956)

Es beginnt mit einem Bild bleierner Stillstellung der Meereslandschaft: „Es war ein für jene Küste bezeichnender Morgen. Trotz einer langhin rollenden Dünung schien das Meer unbewegt zu sein. Es war glatt wie Blei, das in der Gießform abgekühlt, in Wellen erstarrt ist. Der Himmel bildete eine graue Decke.“ Dieses Bild wird kaum in Bewegung gebracht durch das fremde Schiff, das sich zögernd, verzögert nähert, ohne Flagge, mit verdeckter Galionsfigur, mit verblasster, ehemals goldener Schrift „San Dominick“, daneben aber der enigmatische Schriftzug „Seguid vuestro jefe“. Am Heck eine Allegorie, die einen maskierten Mann zeigt, der mit dem Fuß im Genick einen gleichfalls maskierten Mann am Boden hält. Herrschaft ist angespielt, das Feld der Macht eröffnet. Delano, der Kapitän des ankernden Schiffs, betritt die „San Dominick“, bietet Wasser, Nahrung, Hilfe. Die Szenerie an Bord kann er nicht deuten. Eine Überzahl an Schwarzen, ein Sklavenschiff und ein von Hustenanfällen, Trübsinn, Absenzen geplagter Kapitän Benito Cereno. Delano kann sich keinen Reim machen, auf die herumsitzenden Schwarzen nicht, die Beile wetzen und Werg zupfen, man weiß nicht wozu, auf die Spanier nicht, die sich gegen Angriffe nicht wehren. Ein höchst verschlungener Knoten, an dem einer knüpfte, wird ihm zugeworfen, er solle ihn rasch zerschlagen, ein Schwarzer nimmt ihn ihm aus der Hand.

Delano schwankt zwischen Angst, dem Gefühl einer allgemeinen, aber nicht genau zu ortenden Bedrohlichkeit und dem Gedanken der Lächerlichkeit dieses Gefühls. Er geht in die unaufgeräumte Messe – alle spanischen Offiziere sind tot -, sieht zu, wie Babo, der treue Helfer Cerenos, diesen rasiert – ein Blutstropfen -, er weiß das Verhalten des Gefangenen Atufal nicht zu deuten, der mehrfach in Ketten erscheint. Gefangen auf dem Schiff, während das eigene in einer Flaute sich kaum zu nähern scheint, verharrt Delano in diesem subtil geschilderten Zustand der Unschlüssigkeit, deutet Zeichen, die vielleicht keine sind, übersieht, was auf die wahren Verhältnisse hinweisen könnte. In dieser Schwebe des Ahnens, Fürchtens, Rätselns belässt der Erzähler, sehr nahe an den Wahrnehmungen Delanos, auch den Leser. Zur Entscheidung und Auflösung kommt es erst, als der Kapitän das Schiff verlässt, Benito Cereno hinterherspringt und von Babo, der ihm nachsetzt, beinahe erdolcht wird.

Klärung der Verhältnisse erst duch die in Auswahl mitgeteilten Gerichtsakten. Die schwarzen Sklaven hatten gemeutert, die Offiziere ermordet, ihren Besitzer zerlegt und seine Skelett als neue Gallionsfigur angebracht („seguid vuestro jefe“). Benito Cereno wurde gezwungen, in Richtung Senegal zu segeln und bei der Begegnung mit dem fremden Schiff Tragikomödie zu spielen als Kapitän und Führer des Schiffes, der er nicht mehr war. Babo war der Anführer des Ganzen. Unklar bleibt die Position weniger des Erzählers als der Erzählung. Die Klischees nämlich, die der Erzähler äußert – von der Gutartigkeit der Schwarzen, ihrer Eignung zur Unterordnung, ihrem Mangel an Scharfsinn -, werden durch die Aufklärung über die Geschehnisse ad absurdum geführt.

2 Comments:

Julia C said...

Eine schöne Zusammenfassung, die jedoch nicht weitgenug geht. Die Thematisierung eine gewaltsamen Rassenkonflikts in der enge eines Schiffes aus 'der alten Welt', Spanien, so kurz vor Beginn des Bürgerkriegs muss als kritische Auseinandersetzung Melvilles mit der Spaltung seines eigenen Landes gesehen werden. Die die Erzählung durchgehende Unfähigkeit des amerikanischen Kapitäns die Situation richtig zu deuten (auf Grund seines zu naiven Charakters) ist eine deutliche Warnung an Melvilles Zeitgenossen. Denn nur der Kapitän, nicht etwa der Erzähler, glaubt an die Minderwertigkeit und genetische Dummheit der Schwarzen. Diese Fehleinschätzung führt zu der Ironie und Doppeldeutigkeit der gesamten Erzählung.

6:30 AM  
Wildkatze said...

Ich stimme Julia hier voll und ganz zu. Es ist interessant, die Kurzgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Ethik nochmal zu lesen. Ich denke, die geschichtliche Situation muß nicht einmal unbedingt berücksichtigt werden, um den Standpunkt des Kapitäns und der ermordeten Offizierschaft herauszukristalisieren. Brilliant ist die Erzählkunst Melvilles, der auf den Höhepunkt, die Auflösung der tristen und fragwürdigen Situation hinarbeitet. Allein schon die Beschreibung des Meeres am Anfang zeigt die Gesamtlage des Delano: Mehrdeutigkeit, die unklare Situation, das "woher" und "wohin" ist neblig (wortwörtlich) belassen - Melville malt hier als Landschaftsbild, was die Gesamtaussage der Kurzgeschichte ausmacht, nämlich die Unsicherheit. Erst danach würde ich die Interpretation historisch angehen und die genannte Unsicherheit auch auf Unsicherheit des Autors gegenüber der Geschehnisse im eigenen Land beziehen. Hier kann man meiner Ansicht nach vielleicht sogar versuchen, in den Figuren des Delano, der ermordeten Offiziere oder des Cereno den Autoren und seine Zeitgenossen wiederzufinden. Bzw. in den Erlebnissen/Eigenschaften/Ansichten dieser Charaktere. Will sagen: Das Schiff kann nicht nur mit den Staaten kurz vor dem Bürgerkrieg verglichen werden, sondern der Zeitgeist und die - offenbar vorhandenen - inneren Konflikte der Menschen der Zeit finden sich in den Charakteren der beiden Kapitäne wieder. Wobei es mir etwas zu denken gibt, daß wirklich nur die Figuren der Weißen so deutlich ausgearbeitet sind und die Sklaven in der Kurzgeschichte doch relativ nebulös und farblos bleiben. Bei der harschen Kritik, die Melville mit dieser Kurzgeschichte übt, sollte man da doch erwarten, daß die Sklaven auch als Menschen - als ausdifferenzierte Charaktere - geschildert werden. Mir stößt der starke Kontrast zwischen der Schilderung der Weißen und der Schilderung der Sklaven etwas bitter auf. Aber das läßt sich wohl auch aus der Einstellung des Autors erklären...

5:53 AM  

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