Ein Unfall ist geschehen, der Film beginnt. Ein Mann ist vor
Ort und bringt mit den Händen des Experten eines der Opfer, das vor
ihm liegt, auf die Wiese geschleudert, in stabile Seitenlage. Wir werden
den Mann und seine Expertenhände im weiteren sehen, über den Unfall
erfahren wir nur noch: Die Frau ist tot, der Mann wird vielleicht leben,
vielleicht sterben, es war ein Selbstmordversuch.
Der Retter, Markus (Andreas Müller), ist bei der Freiwilligen Feuerwehr,
er ist Schlosser. Er lebt in dem brandenburgischen 200-Einwohner-Dorf
Zühlen, in dessen unmittelbarer Nähe der Unfall passierte. Markus
hat eine Frau, Ella (Ilka Welz) und ein Kind. Er liebt seine Frau, ohne viele
Worte zu machen. Er zweifelt, ob es sein Recht war, dem Mann der sterben
wollte, das Leben womöglich zu retten. Sonst sehen wir ihm beim Schweigen
zu und seinen Händen bei der Arbeit an Schlössern und Gittern.
Erst recht keine Worte hat er für das, was ihm widerfährt, aus
heiterem Himmel. Mit den Kameraden macht er einen Ausflug zum alljährlichen
Feuerwehrtreffen in einem anderen, größeren Ort. Sie feiern, sie
trinken, wir sehen Markus versunken im Tanz zu Robbie Williams Musik. Robbie
Williams singt: "I just wanna feel real love, Feel the home that I live in."
Es folgt ein Schnitt, der harmlos aussieht, aber er ist kühn, sehr
kühn, von der lauten Musik auf die Stille des Morgens. Aber Markus erwacht
in einem fremden Bett, am Frühstückstisch sitzt eine fremde Frau.
Mit ihr hat er die Nacht verbracht, beim Frühstück mit den Kameraden
erfährt er ihren Namen: Rose (Anett Dornbusch).
Wer weiß, wie teuer die Filmrechte an bekannter Musik sind, ahnt, wie
wichtig der Regisseurin Robbie Williams' Song gewesen sein muss. Eine andere
Zeile: "Not sure I understand, This role Ive been given." In der Tat:
Markus versteht es nicht. Er liebt seine Frau, er liebt auch Rosa. Das ist
die ganze Tragödie. So einfach ist das - und Grisebach inszeniert es,
als das, was es ist: eine einfache, eine furchtbar einfache Tragödie.
Die Kamera ist ganz nah an den Gesichtern der Figuren. Alle wissen sie nicht,
wie ihnen geschieht. Alle verstehen sie nicht, warum ihr Leben aus den Fugen
gerät. Sie blicken sich an, als ließe sich im Gesicht des anderen
etwas lesen. Und Ella ahnt, dass etwas nicht stimmt, bevor sie es überhaupt
wissen kann. Ganz nebenbei, ganz beiläufig begrüßt sie ihn
bei seiner Rückkehr mit dem scherzhaft gemeinten Satz: "Hallo, fremder
Mann."
Dabei ist tatsächlich ein Fremder zurückgekehrt. Sie spürt
es und sucht, fast verzweifelt, nach Worten für das Große, das
sie fühlt: "Ich begehre dich so", sagt sie, "ich liebe dich". Was soll
sie sagen? Es sind irgendwie nicht die richtigen Worte, aber andere Worte
hat sie nicht. Sie handhabt sie wie etwas, das sie noch nie gebraucht hat.
Valeska Grisebach hat in "Sehnsucht" ausschließlich mit Laien gearbeitet.
Was sie mit ihren Darstellerinnen und Darstellern erreicht, macht staunen.
Sie spielen keine Rollen, sondern sie führen eine Aneignung vor: Aneignung
der Geschichten, die nicht ihre sind, Aneignung von Gefühlen, die sie
kennen, wenn auch vielleicht nicht genau so. Aneignung von Worten, die ihnen
fremd sind, um die Grisebach sie kämpfen macht. Und obwohl, vielleicht
auch: weil diese leichte Unschärfe bleibt, obwohl die Darsteller in
den Rollen nie ganz aufgehen, obwohl sie immer wie ein wenig über sich
selbst verwundert scheinen, stimmt jeder Ton.
Grisebach erzählt eine Tragödie mit Anspielungen auf "Romeo und
Julia", auf dem Dorf. Dabei überhöht sie nicht, sondern reduziert.
Sie legt im Innersten eines überzeugenden naturalistischen
Äußeren eine Geschichte frei, die so konkret wie universal ist.
Die als universale nur überzeugt, weil sie so unendlich konkret ist,
bis zum Einsatz der Sprühsahne, bis zum wackligen Gesang im Dorfchor.
Die Regie, der Schnitt, die Kamera zeugen von einem wunderbaren
Rhythmusgefühl. Im rechten Moment gibt es den Trost fürs
aufgewühlte Empfinden, Blicke hinaus, auf Natur, auf das Rauschen der
Bäume.
Und wie jede ordentliche Tragödie hat der Film ein bezauberndes Satyrspiel
als Epilog. Die Geschichte und ihr möglicher Ausgang werden spielerisch
verhandelt, aus Kindermund kommentiert. Ein großartiger Einfall fürs
Ende eines großartigen Films.
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