Während meine Kusine in Indien war, habe ich ein gewisses Bedürfnis nach Exotismus verspürt und, um es wenigstens kompensatorisch zu befriedigen, eine ethnologische Forschungsexpedition in ein tribales Territorium der näheren Umgebung unternommen, nebbich in die Schrebergartenkolonien nördlich meines Blocks. Meine Recherchen haben ergeben, daß sich das Schrebergartenterrain fünf Stämme teilen: Gegen West erstreckt sich die grüne Kolonie Oeynhausen. Gegen Nord stemmt sich die Kolonie Mannheim gegen die Forckenbeckstraße. Gegen Ost ruht die unauffällige Kolonie Alt-Rheingau im Schatten der Reemtsma-Fabrik. Gegen Süd schluckt die Kolonie Friedrichshall den eventuell anbrandenden Schall. Gegen Südost tut die Kolonie Kissingen eigentlich nichts besonderes, außer dem Wanderer zu bedeuten, daß das wahre Kissingen weit entfernt liegt. Ich habe keine Beweise, aber den distinkten Eindruck, daß die Kolonien nach Straßen benannt sind, die auf die Kolonien zuführen bzw. an sie grenzen bzw. irgendwie in der Nähe sind. Ein echtes Problem für diese Theorie stellt die Kolonie Alt-Rheingau dar, es gibt allerdings eine Rheingauer Straße ca. 1 km östlich.
Die Expeditionsroute verläuft von Friedrichshall nach Mannheim und darüber hinaus. Es ist mir vergönnt, eine sich von Süd nach Nord tief ins Herz der Kolonie erstreckende Schneise zu finden. Ein Schild kündet, daß die Schneise von den Eingeborenen der "Rosenweg" genannt wird; er endet im Norden an einem vom West nach Ost verlaufenden "Dahlienweg", der seinerseits im Osten auf den von Nord nach Süd verlaufenden "Veilchenweg" stößt und dort auch endet. Am westlichen Ende stößt der "Dahlienweg" auf noch einen vierten Weg, dessen Namen nicht erfindlich ist. (Meine Theorie lautet, daß dieser Weg ebenfalls nach einer Blume benannt sein dürfte, aber das steht nirgends und Verifizierung der Theorie wird auf eine spätere Expedition vertagt werden müssen, weil ich nämlich vom Dahlienweg nordwärts in den Veilchenweg einbiege.)
Die Forschungen in situ sind Artefakten, d. h. zunächst vor allem Fahnen und anderen Utensilien gewidmet, mit denen die Einheimischen ihr Terrain und ihre Potenz im weitesten Sinne markieren. Schon nach kurzer Zeit stoße ich auf der Westseite des Rosenwegs auf ein besonders enigmatisches Exemplar: Ein roter Zettel in Klarsichtfolie ist befestigt an zwei in ein Beet gerammten Stangen. Auf dem Zettel steht:
"Schlacken und Steine
statt Gemüse und Obst."
Wird hier ein Wunsch zum Ausdruck gebracht? Handelt es sich um eine Warnung? Eine Drohung? Homöopathische Magie? Eine Art negative Utopie? Vor diesem Rätsel versagt die Findigkeit des Forschers, aber schon bald trifft er auf Artefakte, deren Interpretation weniger Schwierigkeiten bereitet: Viele Bewohner haben, vielleicht aus irgendeinem bevorstehenden oder vergangenen festlichen Anlaß, ihren Garten mit Leinen, an den bunte Wimpel hängen, dekoriert. Immer noch auf dem Rosenweg, weiter nördlich, stoße ich gegen West auf ein besonders markant markiertes Environment: ein handtuchgroßer Garten so dicht mit Deutschland- und Bayernwimpeln behängt, daß man nicht weiß, wie sich der Bewohner in diesem Gestrüpp noch vom Gartentor zu seiner Hütte bewegen will. Weiter nördlich sehe ich gegen Ost die erste Hertha BSC-Flagge des Tages, schwach flatternd über einer besonders kleinen Hütte, vor der zwei bärtige Männer in kurzen Hosen an einem Tisch vor einem Getränk sitzen und den Wanderer ansehen. Westlich des Rosenwegs treffe ich noch weiter nördlich auf eine weitere Fahnenstange mit einer weiteren Hertha BSC-Flagge, unweit von einer hüfthoch in einem Rasen steckenden Bayrischen Flagge. Noch weiter nördlich ist an der Ostseite des Rosenwegs eine Abwehrzauberformel zu finden: eine ovale Holzplatte mit teilweise in blau und gelb angemalter Gravur, abbildend einen stilisierten lachenden Mann und eine stilisierte lachende Frau, beide mit mit Knollennasen und Latzhosen, der Mann hat einen Strohhut auf. Das Paar steht vor einem Kürbis, der vermutlich Fruchtbarkeit und generell Holz vor der Hütte symbolisiert. Darunter steht in Schreibschrift:
"Des Gärtners größter Fluch
sind Unkraut und Besuch.
Unkraut geht noch…"
Am westlichen Ende des Dahlienweges schließlich eine Fahnenstange mit zwei untereinander hängenden Fahnen. Die obere Fahnenhälfte der oberen Fahne ist schwarz, die untere Fahnenhälfte weiß. Im Zentrum, in einem weißen Kreis, befindet sich ein stark stilisiertes Wappen, das ein Kranich oder sonst ein großer Vogel sein könnte, ein langer, waagrechter, von links nach rechts leicht ansteigender, leicht nach oben hin gebogener schwarzer Strich, von dem nach oben fünf ein wenig dickere, nach links biegende Striche abzweigen. Die untere Fahne zeigt ein rotes Kreuz auf weißem Grund, am oberen Kreuzbalken eine Krone, im Zentrum des Kreuzes ein sechszackiger Stern. Am Rand ist der Stern rot, sein Inneres ist weiß, in diesem weißen Feld eine stilisierte rote Hand. Ich will gar nicht anfangen, darüber zu spekulieren, was das nun wieder alles zu bedeuten hat. Wahrscheinlich sind diese Fahnen nur dazu da, Ortsfremde in den Wahnsinn zu treiben. Psychologische Kriegsführung. Oder so.
Es ist zu bemerken, daß sich die Domizile mit markanten Artefakten vor allem in der Nordostecke der Kolonie häufen. Ein auffallendes Exemplar (das übrigens auf der Westseite des Veilchenwegs sich befindet) ist ein beigegelb angestrichenes Holzhaus mit waagrechter Bretterschalung, sehr niedrig, weiß nicht, ob die Leute da drin aufrecht stehen können. Das Dach sehr weit ragend, zur Giebelseite mit dicken Holzplatten verstärkt. Am Giebel selbst ist eine Platte aus Plastik o. ä. angeklebt, auf der die Bewohner mit unvermischten Acrylfarben o. ä. einen Abwehrzauberspruch appliziert haben:
"Wer frei sein Zung nit zügeln kann
und böse red [sic!] von Jedermann [sic!],
der selbig [sic!] weiß zu dieser Frist
das [sic!] ihm dies Haus verboten ist"
Die Schrift in schwarz, links haben alle Buchstaben noch einen verwischten roten Rand, für angedeuteten dreidimensionalen Effekt. Drumherum sind schematische Blümchen gemalt, oben Veilchen ohne Stiel, unten unidentifizierbare rote Blumen mit Stiel und ein wenig Grünzeug, das nur aus Stiel zu bestehen scheint, gesetzt der Fall, das sollen nicht die Stiele von den Veilchen oben sein. Es könnte sich dabei um Fruchtbarkeitssymbole handeln: Ich habe in den entsprechenden Milieus schon manchmal beobachten können, daß weibliche Eingeborene der südwestlichen Bezirke bei einsetzender Geschlechtsreife überall schematische Blümchen hinmalen, wenn man ihnen die Hände nicht irgendwo festbindet. Die zum beigen Haus gehörigen Anwohner habe ich bisher nicht in situ beobachten können. (Unweit davon war aber unjüngst eine Gruppe von Handwerksmännern zu vermerken, die Tischtennis gespielt und dabei aus mir nicht ganz erfindlichen Gründen laut gebrüllt hat.) Vorne am Haus ein von Steinplatten eingekreister Gemüsegarten, hinten Rasen, beide werden offenbar nicht regelmäßig gepflegt. Im Gemüsegarten stakt ein gebogener Draht in der Erde, von der etwas Blütenimitierendes herunterhängt. Ich wage gar nicht mir auszumalen, was für gräßliche Initiationsriten mit Hilfe dieser Vorrichtung an leicht bewölkten Sonnabendnachmittagen abgehalten werden. Vor den Fenstern des beigen Hauses weiße, breite Lattengitter; sie scheinen ebenso gut dafür geeignet zu sein, Leute draußen am Reinkommen wie Leute drinnen am Rauskommen zu hindern. Beides ist vermutlich eine gute Idee, diese kleine Welt ist wahrlich auf das Schönste geordnet.
Ich neige langsam zu der Vermutung, daß die Stämme, die ich da erforsche, ein durchaus kriegerisches Volk sind, mit dem vorsichtig umzugehen ist. Zu dieser Vermutung paßt, daß ich auch vergleichsweise wenige Einheimische treffe; vielleicht haben sie sich schon in jahrelangen tribalen Auseinandersetzungen wechselseitig dezimiert. Wie in Jugoslawien. Oder so.
An zahlreichen Gärten zum Weg hin hängt ein kleines, rundes Schild, das vermutlich "Kackverbot für Hunde" signalisieren soll. Das Schild ist dem Überholverbotsschild nachempfunden, nur daß auf ihm statt zweier schematisierter nebeneinanderfahrender Autos ein schematisierter kackender Hund zu sehen ist. Die meisten Eingeborenen halten denn auch nur Hausgenossen, die überhaupt keinen Dreck machen, d. h. die aus Keramik. Es handelt sich nicht nur um Gartenzwerge, sondern um eine durchaus vielfältige Fauna. Generell ist zunächst zu sagen, daß gegen Norden die Statuen größer werden, gegen Süden kleiner, die südlichen aber dafür häufiger im Rudel auftreten. Auf dem Rosenweg sind vor allem Individuen der Klassen Aves und Hominides zu beobachten: rosa Flamingos, ein Reiher und diverse Gänsekolonnen, ein weißes Elfchen mit einer Schubkarre und Arrangements von die Passanten z. T. böse musternden Gartenzwergen. Auf dem Veilchenweg sind mehr Amphibien und herbivore Säugetiere anzutreffen, Rehe und vor allem diverse Lämmer, was vielleicht damit in Verbindung steht, daß wir jetzt einen deutschen Papst haben. Lämmer wie Rehe treten normalerweise paarig auf, was vermutlich auch irgendwas zu bedeuten hat. Unter den Amphibien dominieren die Frösche, speziell im Gedächtnis ist mir noch ein geistesabwesend aussehender Frosch, um den man einen Gartenschlauch gewickelt hat. Aber auf dem nördlichen Veilchenweg bin ich auch überraschend auf einen Vorgarten voller Keramikgänse gestoßen, was zur Differenzierung meiner geographischen Einteilung zwingt. Die Gans ist übrigens generell stark vertreten, man kann sich fragen, woher ihre Attraktivität rührt. Vielleicht ist sie ein passender Ausdruck großbäuerlicher Ambitionen? Die eigentlich verblüffende Entdeckung mache ich dann aber am äußersten nördlichen Ende des Veilchenwegs: Der Garten vor einem kleinen, dunklen Holzhaus, von dessen Dach aus mir nicht erfindlichen Gründen zwei gelbe Räder hängen, ist mit Keramikfiguren bedrohlich übervölkert. Entlang dem steingepflasterten Weg, der zum Haus führt, sind eine Taube, ein Hund und ein Gartenzwerg postiert, im Beet entlang des östlichen Gartenzauns befinden sich dann noch, von Süden nach Norden, eine Gans, ein Karnickel, dann noch eine Gans und ein Frosch. Irgendwie unkoordiniert stehen auf dem dahinter befindlichen Rasen ein Rabe, ein Storch und ein Hund herum. Direkt vor einem großen Strauch ungefähr in der Mitte des Gartens steht ein Schäfer mit einem Lamm im Arm und einem Schaf zu seiner Linken. Hinter dem Strauch sind ein Reiher und ein Ferkel auszumachen, eventuell noch weitere Tiere, die aber vom Strauch selbst verdeckt werden. Restlos alle dieser Figuren sind gegen den Weg gekehrt und scheinen den Passanten anzusehen. Wie Travis Bickle in "Taxi Driver" zu seinem Spiegelbild sagt: "You talkin' to me? You talkin' to me? You talkin' to me? Then who the hell else are you talkin' to? You talkin' to me? Well, I'm the only one here. Who the fuck do you think you're talking to? Oh, yeah? Okay."