Andrew Lau Wai-keung hat sich über die Jahren immer wieder
als kompetenter Gebrauchs- und Zweitvisionär empfohlen, bereitet die
schweren Brocken der HKer Filmkunstavantgarde für das Durchschnittspublikum
konsumptions- und verdauungsgerecht auf. In Fachkreisen wird er daher der
"Mann mit dem grünen Punkt" oder einfach "Compost Andrew" genannt (oder
vielleicht auch nicht). Lau zählt jedenfalls mit Sicherheit seit der
zweiten Hälfte der 90er zu den wichtigsten und einflußreichsten
Mainstream-Kräften des HK-Kinos. Wer auf richtig geil vergoldete oder
wurzelholzverkleidete Motorblöcke in Opel Astras steht, wird sich einen
skrupellosen Handwerker wie Lau suchen. Schwerer zu sagen, ab wo genau dieses
ästhetische zu einem moralischen Problem wird. Fest steht jedenfalls
weiterhin, daß sehr viele Leute sehr weitgehende Probleme mit
Andrew-Lau-Filmen haben. So weitgehende, daß sie Laus Filme fast schon
als Kapitalverbrechen ansehen und den Regisseur einer entsprechenden Strafe
zugeführt wissen wollen.
Laus neuer Film INFERNAL AFFAIRS, der in Zusammenarbeit mit dem jungen
Regietalent Alan Mak Siu-fai (gleichzeitig mit Felix Chong Man-keung der
Koautor des Films) entstand und der erste Film seiner '02 neugegründeten
Firma Base Production ist, muß als starker Entlastungsbeweis
zu seinen Gunsten gewertet werden.
Finanziell ist dieser Polizei-/Triaden-Thriller (wieder einmal für
den erfolgsverwöhnten Lau) ein ganz großer Wurf: Mit einem Box-Office
von mehr als 55 Mio. HK $ wird er der dritterfolgreichste HK-Film aller Zeiten.
In Hollywood, wo Neuauflagen asiatischer Filme derzeit hoch im Kurs stehen,
ist man an diesem Projekt schon interessiert, als ein halbes Jahr vor seiner
Veröffentlichung zum Weihnachtsgeschäft Mitte '02 gerade erst die
Dreharbeiten beginnen. Und nur zwei Monate nach dem Start in HK sind schon
die Verträge für ein Remake in Hollywood unterschrieben! Warner
Bros. Pictures erhält nach einer Bieterschlacht zwischen den
US-Major-Studios für 1,75 Mio. US $ den Zuschlag. Das Investment von
40 Mio. HK $ hat sich somit für Laus Geldgeber Media Asia ausgzahlt.
Nichts ist allerdings wirklich neu an diesem
mit vielen Topstars besetzten, in seiner ästhetischen Haltung am Ideal
des klassischen HK-Neo-Noirs (späte 80er bis mittlere 90er) orientierten
Thriller; sein Innovationspotential ist sehr begrenzt. Aber die Ausformulierung
der einzelnen bekannten Komponenten ist - abgesehen von Filmen aus dem
Produktionsumfeld von Johnnie To Kei-fung und Wai kar-fai, auf deren Platz
Lau und Mak gerade spielen - lang nicht mehr so überzeugend gelungen
wie hier. Und lange ist in diesem Genre, das in den letzten Jahren für
das Milkyway-Erfolgsteam reserviert schien, auch schon kein so stilsicherer
Film mehr gedreht worden.
Die Ausgangsidee ist interessant: Sowohl die Ermittlungsbehörden
als auch die Triaden-Banden plazieren Undercover-Agenten in den Reihen ihrer
Gegner. Seitdem sind Jahre vergangen und die Gegenspieler sind in der jeweiligen
Hierarchie weit vorangekommen. Damit ist der thematische Rahmen abgesteckt,
innerhalb dessen sich ein verwirrendes Drama um die unablässige Verschiebung
von Konfliktgrenzen und schließlich die fließende Vermischung
von Gut und Böse abspielen wird.
Tatsächlich handelt es sich bei INFERNAL, in der Motivwahl ein
typischer B-Film, allerdings mit großem A-Produktionsbudget gedreht,
um den Mittelteil einer noch fertigzustellenden Trilogie. Das Spiel von INFERNAL,
dessen chinesischer Originaltitel in der buddhistischen Mythologie den tiefsten
Höllenschlund bezeichnet, beginnt, als die beiden großen Bezugssysteme
in Bewegung geraten sind, sie die Phase des Aufeinanderzustrebens ebenso
wie die der fließenden Übergänge hinter sich gelassen haben
und nun beginnen, sich in einem Strudel der Mehrdeutigkeiten zu durchmischen.
Ihre Position diesbezüglich stellen die beiden Filmemacher gleich
in der ersten Szene unmißverständlich klar: Das einzige, was sich
mit Sicherheit sagen läßt, ist, daß es keine gibt. Nichts
ist, wie es auf den ersten Blick scheint; alle führen ein doppeltes
Spiel; wohin man schaut: eine Welt der vielfachen Brechungen und Spiegelungen,
aber auch der elektronischen Überwachungs- und Kontrollsysteme (PC-Screens,
Handy-Displays u.ä. Hitech-Gadgets wichtige Bild-Accessoires dieser
Krypto-Ästhetik). Die Mächtigkeit der Entschlüsselungstechnik
entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg. Daher die unablässigen
Versuche der Mustererkennug in chaotischen Systemen. Aber: die ankommenden
Informationen können nicht vollständig dekodiert und verstanden
werden. Es kommt zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen.
Das ist ein entscheidender Subtext des Films: Die Wirklichkeit ist wie von
einem Kodierungsvirus befallen.
Spannung und Dynamik gewinnt der Film neben seiner starken
Charakterentwicklung aus dem doppelten Katz-und-Maus-Spiel der beiden
Protagonisten, die erst kürzlich, während einer großen
Polizeiaktion, mit der man ein ganze Triaden-Bande auffliegen lassen will
(brillant, sehr spannend, hochdynamisch inszeniert), von der Existenz eines
unbekannten Gegenspielers im jeweils eigenen Lager erfahren haben und nun
dem anderen Zug um Zug näherzukommen trachten, ohne dabei selber
aufzufliegen.
Foto: Tony Leung, Andy Lau
Durch ein fortdauerndes tödliches Strategiespiel voller Fallen,
Täuschungsmanöver, Aufklärung und Gegenaufklärung - bei
dem die Sympathien unfairerweise gleichmäßig verteilt sind - erzeugt
INFERNAL seinen Thrill. Die psychotische Züge annehmende Angst vor der
Enttarnung, das Infragestellen jeder Beziehung weist viele Gemeinsamkeiten
mit der schizophrenen Atmosphäre in Laus Undercoveragenten-Thriller
TO LIVE AND DIE IN TSHIM SHA TSUI (HK, '94) auf. In INFERNAL werden die
Existenzkonflikte jedoch nicht bis zum sich von innen nach außen
durchfressenden Persönlichkeiszerfall des Protagonisten getrieben. Die
Richtung der Negativkräfte ist nun umgekehrt, sie wirken von außen
nach innen, schüren natürlich Selbstzweifel, hauptsächlich
aber einen starken, durchaus berechtigten Verfolgungswahn.
Tony Leung Chiu-wai als Undercoveragent für das OCTB (Organized
Crime and Triad Bureau) hat nach mehr als zehn Jahre verdeckter
Ermittlungstätigkeit bei den Triaden einige Verhaltens-, aber keine
existenzbedrohenden Identitätsprobleme. Und auch Andy Lau Tak-wah als
Triaden-Maulwurf bei der Polizei hat sie nicht, wenngleich er nach ebenso
langer Wühl- und Tarnarbeit wie Leung nun die Seiten wechseln will.
Aber das ist kein pathologisches Symptom einer schweren
Persönlichkeitsstörung, wie bei dem schon völlig neben der
Spur laufenden V-Mann Jacky Cheung Hok-yau in TO LIVE AND DIE, sondern rein
praktisches Kalkül. Gemeinsam ist den beiden Maulwürfen in INFERNAL,
daß sie nach einem Jahrzehnt des Verstellens und der systematischen
Täuschung sogar ihres nächsten Umfelds aus dem Gefängnis des
Selbstbetrugs ausbrechen wollen - ausbrechen müssen, weil ihr Spielraum
immer enger wird, ihr Leben in Gefahr ist.
Verglichen mit dem, was zur Zeit im HKer Kinoalltag gezeigt und
worüber eben nicht mehr (oder nur noch in den allerseltensten Fällen)
debattiert wird, ist INFERNAL großes moralisches Actionkino wie man
es hauptsächlich von Einzelkämpfern wie Ringo Lam Ling-tung (z.B.
aus CITY ON FIRE [HK; '87]) kennt. Zwar fehlt INFERNAL die existentialistische
Schärfe einiger früherer Filme dieses Subgenres, dafür verzichten
die beiden Regisseure aber auf Mythenbildung und überzogene Romantisierung
des Gangsterlebens. Ohne plakativ zu werden oder sich allzu sehr festzulegen,
bleibt INFERNAL in der Schwebe. Dies Uneindeutigkeit (die nichts mit
Unentschlossenheit zu tun hat) dürfte wohl eher Alan Maks als Andrew
Laus Verdienst sein. Andererseits: Verschiedene interessante, in den Hauptfiguren
angelegte existentielle Widersprüche werden ebensowenig ausgebaut, noch
nicht einmal ausformuliert. Das findet sein Echo in den sehr schwachen weiblichen
Nebenfiguren, die kaum mehr sind als schwache Alibis, weitere Stars (die
Popsuperstars Sammie Cheng Sau-man, Kelly Chan Wai-man und Elva Hsiao Ah
Hin) ins Spiel zu bringen.
Foto: Eric Tsang & Bande, Tony Leung
Ohnehin ist überzeugende Charakterentwicklung noch nie Laus
Stärke gewesen. Er ist Stilist. Und auf dieser Ebene funktioniert INFERNAL
hervorragend. Einige konsequenter entwickelte und deutlicher gezeichnete
Charaktere hätten diesem Thriller gut getan, waren aber nicht zwingend
für seinen Erfolg; zudem hätte der Ausbau romantischer Beziehungen
den Plot viel Drive und Dynamik gekostet. INFERNAL funktioniert als visuelles,
stilistisches Ereignis auch so. Hier liegen seine eigentlichen Stärken:
die coole, sehr selbstsichere Präsentation, der ungewöhnliche Look.
Ein fast schon körperlich spürbares, dichtes Neo-Noir-Feeling,
betont durch einen ungesunden grün-orangestichigen Neon-Look liegt unter
den oft auch fahlen, grau-bleich ausgewaschenen Bildern der Stadt,
großartig gefilmt von Lau selbst (er ist eben gelernter kameramann)
und seinem langjährigen früheren Assistenten Lai Yiu-fai (inzwischen
selbständig Kameramann). Als visuellen Berater engagiert Lau den Bild-Guru
Christopher Doyle, mit dem er gemeinsam an einigen frühen Filmen Wong
Kar-wais gearbeitet hat. (Und vieles deutet darauf hin, daß Doyle in
dieser Phase mehr von Lau gelernt hat als umgekehrt [z.B. die dynamisierende
Wirkung der entfesselten, wackeligen Handkamera, die als Stilmittel in Laus
Arbeiten früher auftaucht als bei Doyle, der hierfür jedoch
international die Lorbeeren erntete].) Doyles Handschrift ist in vielen
Einstellungen deutlich erkennbar, besonders in den auf Hochhausdächern
spielenden konspirativen Unterredungsszenen, die in strahlende Helligkeit
getaucht sind: diese als Kontrapunkte gesetzten Panoramaaufnahmen vor grandiosem,
riesenweitem blauweißen Sommerwolkenhimmel scheinen wie aus Wong Kar-wais
ASHES OF TIME (HK, '92 - '92) herausmontiert und bilden einen denkbar starken
Kontrast zur sonst über den Szenarios liegenden Düsternis.
Bleibt die Frage, was die Hongkies so sehr an diesem Film angesprochen
hat - wirklich nur die Aussicht auf gut gemachtes Starkino? Oder hat es
vielleicht etwas mit ihrem kollektiven Selbstverständnis und ihrem
Verhältnis gegenüber dem kommunistischen Mutterland zu tun? Die
Maulwurftaktik des Aushöhlens? Einen anderen Schluß als die moralisch
ambivalent endende HKer-Kinofassung besitzt jedenfalls die für den
chinesischen Mainland-Markt bestimmte DVD. Diese, in sich abgeschlossene
Version stellt moralisch altbacken klar, daß Verbrechen sich nicht
auszahlt. Für viele Produzenten wird es sich allerdings lohnen, sich
in der einen oder anderen Weise an INFERNAL anzuhängen: Ein Aufschwung
des Polizeifilms und des Undercover-Cop-Subgenres in HK ist möglich.
-MAERZ- (Axel Estein)
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