Michael Winterbottom: In This World (GB 2003)

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Michael Winterbottom: In This World (GB 2003)
Kritik von Ekkehard Knörer

 [Image]

Berlinale-Kritik

Glückwunsch zur Programmierung, Herr Kosslick. Stärker hätte der Kontrast zwischen dem außer Konkurrenz laufenden Eröffnungsfilm und dem ersten richtigen Beitrag zum Wettbewerb nicht ausfallen können. Wo „Chicago“ sich ohne alle Reue in Kunstwelten tummelt, hartschalig abschließt gegen alles, was mit der Realität außerhalb von Song-and-Dance zu tun haben könnte, unternimmt der britische Regisseur Michael Winterbottom mit „In This World“ das gerade Gegenteil. Sein Film erzählt die Geschichte einer Reise, die in Peshawar an der pakistanischen Grenze ihren Ausgang nimmt und die Cousins Enayat und Jamal (der, gerade mal sechzehn Jahre alt, nur mitkommt, weil er Englisch spricht) ins gelobte Land, genauer: nach London führen soll.

Dünn ist die Linie zwischen Realität und Fiktion. Die Reise, von der der Film berichtet, haben Winterbottom und sein kleines Team tatsächlich unternommen, die beiden großartigen Hauptdarsteller wurden in Pakistan gecastet, viele der Szenen auf den Straßen von Peshawar, Teheran und Istanbul haben dokumentarischen Charakter. Dazu trägt die Digitalkamera bei, mit der man gedreht hat, in gelbstichigen, wackligen Bildern, die sich gelegentlich ins beinahe Unentzifferbare auflösen, in schwarz-weißes Gegrissel etwa beim Grenzübergang vom Iran in die Türkei. Ein Dokumentarfilm ist „In This World“, der ersten Anmutung zum Trotz, jedoch mit aller Entschiedenheit nicht. Zweimal meldet sich aus dem Off ein Sprecher erläuternd zu Wort, danach spricht das Gezeigte für sich. Die Bilder aber, die Szenen, die Figuren werden in die Struktur des Road Movie eingefädelt, mit vorgegebenen Dialogen, Auslassungen, Spannungsmomenten – entlang einer zur Orientierung regelmäßig eingeblendeten Karte, auf der die Route eingetragen ist.

Dazu kommen Ortsangaben, in großen Lettern wie auf die digitalen Bilder getüncht, aber rissig, durchlässig für die Landschaften, die zu sehen sind. Dies Verhältnis von Vorder- und Hintergrund kennzeichnet Winterbottoms Verfahren im ganzen: in die Szenerie der Wirklichkeit wird die fiktive, aber nach wahren Begebenheiten modellierte Erzählung wie al fresco eingetragen. Der Raum der Fiktion schließt sich um den dokumentarischen Kern, mit allen Konsequenzen. Der Betrachter ist aufgefordert zum Mitfiebern wie zum Mitleiden, nicht zuletzt durch die Musik. Ohne Zurückhaltung untermalt Winterbottom seine Bilder mit emotionalen Orchesterklängen, verstreicht die Momentaufnahmen ins Flächige eines Nacheinander, das keine Längen kennt. Das heißt auch: von der Erfahrung, die geschildert wird, von Stunden, Tagen, Wochen des Ausgeliefertseins, des Nichtstuns und des Nicht-Weiter-Wissens, die eine solche Flucht ausmachen, gibt es nur Auszüge, Andeutungen und Ahnungen.

Das ist kein Fehler des Films, denn er behauptet nirgends, dass mehr zu zeigen wäre als Annäherungen ans Unbegreifliche eines solchen lebensgefährlichen Unternehmens. Dezent bleibt die Kamera in den finstersten Momenten – die in Wahrheit Ewigkeiten sind, während der Überfahrt per Schiff von der Türkei nach Triest. Tagelang sind Jamal, Enayat und weitere Flüchtlinge, darunter ein Baby, eingesperrt in einen finsteren Container, ohne Nahrung, Wasser, frische Luft. Andere Bilder aber als ein gelegentliches Flickern, sekundenkurze Blicke in gequälte Gesichter zeigt der Film nicht. Auf alle Ausbeutung der Schicksale, von denen er erzählt, verzichtet er. Und berührt doch, gerade durch die Selbstverständlichkeit, mit der er vorgeht.

Zu sehen sind nicht nur Bilder aus fremden Welten, sondern auch die im Verlauf der Reise fürs westliche Auge zunehmend vertrauten Umgebungen werden unterm Blick der Migranten plötzlich fremd. Und wie von selbst wird einem klar, was, wie Winterbottom unumwunden feststellt, von Anfang an die Botschaft seines Projekts gewesen ist: Kalten Herzens von Elendsflüchtlingen zu reden, die so eilig wie möglich auszuweisen sind, ist ein Wohlstandszynismus, der nichts als Verachtung verdient. Am Ende übrigens, ist in der Pressekonferenz zu erfahren, hat die Realität den Film dann endgültig eingeholt: Jamal, der nach Ende der Dreharbeiten in seine Heimat zurückgekehrt war, hat die Flucht gewagt, lebt nun mit außerordentlicher Duldung in London und wird am Tag vor Vollendung seines 18. Lebensjahrs abgeschoben werden.

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