Im ersten Drittel von Les Égarés,
André Téchinés diesjährigem Cannes-Beitrag, gibt
es eine Szene, in der sich der 17-jährige Ivan als jemand beschreibt,
der immer in Bewegung sein muss. Später wird Ivan ruhelos durch ein
Feld pirschen, sich mit einem Mal fallen lassen und in den Himmel blicken.
Doch selbst hier findet Ivans Blick keine Ruhe. Stromkabel zerschneiden das
Blau, Ivans Gefängnis ist allgegenwärtig.
Les Égarés basiert auf einem Roman von Gilles Perrault.
Die Geschichte spielt im Jahr 1940. Die Deutschen haben Paris okkupiert,
tausende befinden sich auf der Flucht in die Provinz. Unter ihnen Odile
(Emmanuelle Béart) und ihre beiden Kinder Philippe und Cathy. Bald
wird die Karawane der Vertriebenen von einem deutschen Jagdflugzeug attackiert.
Die Menschen werfen sich verzweifelt in den Straßengraben, Bomben fallen.
Einige vesuchen über ein Maisfeld zu entkommen. Das Ausgeliefertsein
der Opfer, die Schrecken des Krieges, in dieser einen Szene komprimiert,
gerät Téchiné nie zum filmischen Klischee, zur sich endlos
wiederholenden Perversion. Die Sequenz ist vielmehr dramaturgischer
Ausgangspunkt, verweist auf den Konflikt seiner Hauptfigur, nicht etwa Odile,
der mit ihren Kinden die Flucht in den Wald gelingt und aus deren Pespektive
die Geschichte erzählt wird, sondern Ivan, der dazustößt
und mit dessen Hilfe die drei in einem verlassenen Landhaus Unterschlupf
finden.
Mit Ivan stimmt etwas nicht. Er spricht nicht gerne über sich,
kann nicht lesen und nicht schreiben, ist ein Experte im Überlebenskampf,
jagt, klaut wie ein Rabe. Odile wird ihn später als ihren älteren
Sohn ausgeben, dabei fühlt sie sich zu ihm hingezogen, ist wie alle
fasziniert von seiner Virilität, seiner unbändigen Energie.Doch
wenn die Kamera einen Moment länger als nötig auf seinen Augen
verharrt, wird das ganze Ausmaß seines Dilemmas spürbar. Ivan
ist ein Suchender, angetrieben vom nie erwiderten Bedürfnis nach Liebe
und Akzeptanz.Er sieht sich hilflos gegenüber dem gesellschaftlichen
Kodex, ist dessen komplexen Regeln ausgeliefert, wird immer Außenseiter
bleiben. Er ähnelt in vielem den Antihelden aus Téchinés
früheren Filmen, dem großartigen Jembrasse pas
etwa, oder Les roseaux sauvages, die allesamt dem Untergang
entgegentrudeln. Man könnte einwenden, dass Téchiné den
historischen Bezug zum bloßen Setting degradiert. Vielleicht lässt
sich damit die teils heftige Kritik in Frankeich erklären, die sich
daran festmachte, dass die zusammengewürfelte Kleinfamilie den Weinkeller
des Hauses inspiziert, während daußen der Krieg tobt. Erneut gelingt
Téchiné jedoch ein aufregender Film, dessen Figuren in ihrer
Widersprüchlichkeit verstören, nachdenklich machen und uns in ihren
Bann ziehen.
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