Das schönste Erlebnis, das man auf einem Filmfestival
haben kann, ist es, im Kino zu sitzen, nichts zu erwarten, den Film eines
völlig unbekannten Regisseurs zu sehen und nach wenigen Minuten zu
begreifen, dass man es mit einem Geniestreich zu tun hat. Leider ist das
nicht nur das schönste Festivalerlebnis, das sich vorstellen lässt,
es ist auch eines der seltensten. Gestern aber ist mir genau das passiert,
aus heiterem Himmel, natürlich im "Forum des Internationalen Films",
wo sonst.
Liu Jiayin ist eine Regisseurin aus Peking, 22 Jahre alt. Sie hat gerade
erst mit dem Studium an der Filmhochschule ihrer Heimatstadt begonnen, "Oxhide"
ist ihr Debüt. Hergestellt ist es mit den einfachsten Mitteln: Eine
Digitalkamera, zwei Mikrofone, die sie sich geliehen hat, ein gutes, sagt
sie später, ein schlechtes, daher die Unterschiede im Ton. Für
zwei gute Mikrofone war kein Geld da. Es gibt keine Schauspieler, genauer
gesagt: Es spielen Liu Jiayin selbst und ihre Eltern (und die Katze). Sie
spielen sich selbst. Gedreht ist der Film in der 40 Quadratmeter großen
Wohnung, die für keine Einstellung verlassen wird. Die Eltern und die
Tochter spielen sich selbst und ihr Leben in der eigenen Wohnung.
Große Kunst wird daraus durch die Form, in der die Regisseurin diese
nahe liegende Idee umsetzt. Der Film besteht aus 23 Einstellungen, die mit
unbewegter Kamera gedreht sind. So radikal wie umwerfend sind die Ausschnitte
kadriert. Nie erhält man einen Überblick über die Wohnung,
nie bekommt man eine der Personen ganz in den Blick. "Oxhide" ist ein Film,
dessen Intelligenz in der Art liegt, in der das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte
zugleich im Spiel sind. Ein Film, der die platte Abbildung vermeidet, indem
er mit großer Bewusstheit und atemberaubender Entschlossenheit den
Raum der Familie für die Kamera arrangiert. Nur für den
oberflächlichsten Blick kann das kunstlos wirken.
Eine der ersten Einstellungen schon macht einem klar, wie präzise Liu
Jiayin ihre 23 Kapitel inszeniert. Ins Bild kommen, wie es zunächst
scheint, sinnlos zusammengestellte Gegenstände. In der Mitte der Teppich,
links ein Foto, rechts etwas, das wie ein Sessel aussieht. Man kann das alles
nicht genau erkennen, das Bild wirkt amateurhaft. Im Off unterhalten sich
ein Mann und eine Frau. Es geht um Schriftzeichen, um Typografie, die Rede
ist auch von einem Discount, man versteht nicht recht, was das soll. Das
geht ein paar Minuten so, die Einstellung bleibt unverändert. Dann kommt
ein bisher nicht gehörtes Geräusch hinzu, ein rotes Blatt schiebt
sich aus dem Sessel, der, wie man nun begreift, ein Drucker ist. Die Stimmen
haben über den Laden gesprochen, Zettel, die einen 50prozentigen Rabatt
versprechen. Damit ist, aus dem Off, aus dem Drucker, der ein Sessel schien,
eines der Leitmotive des Films entworfen. Jede Einstellung des Films ist,
wie diese, wenn auch nicht immer mit einem Verblüffungseffekt, von einer
formalen Konzentration, die man in der Sprache als gebundene Rede bezeichnen
würde.
"Oxhide" ist ein Film über eine Familie. Diese Familie, die die Familie
der Regisseurin ist. Es geht um den Vater, der Ledertaschen produziert und
verkauft, seit Jahren gehen die Geschäfte schlecht, seit Jahren sind
sie verschuldet. Man sieht die Familie beim Essen, beim Arbeiten, beim
scheinbaren Nichtstun. Der Vater klagt sich an für seinen Misserfolg,
er verachtet die Verkaufsmethode, die dem Kunden einen Discount vorgaukelt.
Man spricht über die Zeitungsverkäuferin, die plötzlich gestorben
ist, Mutter und Tochter beraten, wie man den Geburtstag des Vaters feiern
kann. Jede dieser Szenen wirkt, wie man so sagt, ganz wie aus dem Leben
gegriffen.
Und natürlich sind diese Szenen aus dem Leben gegriffen. Alles, was
sie zeigt, wird die Regisseurin erklären, hat sich so oder ähnlich
ereignet. Dennoch ist "Oxhide" kein Dokumentarfilm. Liu Jiayin hat ein genau
ausgearbeitetes Drehbuch geschrieben, die Szenen lange mit ihren Eltern geprobt,
Improvisation gibt es kaum. Die Eltern und die Regisseurin stellen sich selbst
und ihr Leben dar, aber als Darsteller ihrer selbst. Die Einstellungen verknappen
den Raum und reformulieren in der gebundenen Rede einer hier auf Anhieb fast
schon in Vollendung gesprochenen Filmsprache die Wirklichkeit. In keinem
der aktuellen Filme der Berlinale habe ich dergleichen gesehen, im Forum
nicht und schon gar nicht im Wettbewerb. "Oxhide" ist eines der Wunder, die
es ganz selten gibt. Es ist bisher der eine Film, den man unbedingt gesehen
haben sollte.
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