Angela Schanelecs Filme stellen eine der Grundfragen des Kinos,
eine Frage, die so grundsätzlich ist, dass fast der ganze Rest der
Filmemacher so tut, als verstünde sich die Antwort darauf von selbst.
Die Frage lautet: Wie rücke ich die Figuren ins Bild? Und die Antworten,
die man an den Filmschulen lernt, sind topisch. Man lernt das Handwerk der
Kadrierung, der Auflösung von Szenen in Einstellungen, als läge
dem keine Frage zugrunde, als wäre das Handwerk nichts weiter als
Einübung in die Verwendung eines Transportinstruments. Man lernt, wie
man eine Geschichte in Bildern erzählt, man lernt, wie man Dialoge in
Schuss und Gegenschuss zerteilt, man bekommt eine Logik des Schnitts und
der Mise-en-Scène eingetrichtert, deren Konventionalität sich
ganz tautologisch durch nichts anderes als ihre Konventionalität unsichtbar
macht. Angela Schanelec tritt, Einstellung für Einstellung ihrer Filme,
einen Schritt zurück, wenn nicht zwei, und stellt diese Frage ganz obstinat
und in immer anderen Variationen neu. Mehr als alles andere sind ihre Filme
daher eine Schule des Sehens - Meta-Kino in Form einer Grund-Schule, manchmal
atemberaubend, in den gestellten Fragen wie in den gefundenen Antworten,
manchmal in ihrer Überdeutlichkeit auch etwas anstrengend. Von "Plätze
in Städten" zu "Mein langsames
Leben" gibt es jedoch einen Zugewinn an Souveränität, an
Leichtigkeit im Umgang mit dem erarbeiteten Vokabular, eine Entwicklung,
die logisch ist und zugleich gespannt sein lässt, was als nächstes
kommt.
"Plätze in Städten" konzentriert sich, ganz paradigmatisch,
auf eine einzige Figur: die Schülerin Mimmi, die Eindrücke aus
ihrem Leben verdichten sich erst im letzten Drittel des Films zu einer Art
Plot - sie ist schwanger von einem Mann, den sie auf einer Klassenfahrt in
Paris kennengelernt hat; sie fährt zurück nach Paris, zu einer
erneuten Begegnung kommt es jedoch nicht. Plotförmig ist der Film als
ganzer keinesfalls. Er setzt sich zusammen aus meist sehr langen Einstellungen,
Fragmenten aus dem Alltag Mimmis, in dem nichts Besonderes geschieht, Fragmenten,
die sich nie zu einem vollständigen oder runden Porträt der Figur
zusammenfügen. In der allerersten Einstellung sitzt Mimmi mit dem
Rücken zur Kamera, am Rande einer Straße, man bekommt die zwei,
drei Minuten, die die Einstellung dauert, keinen Blick auf ihr Gesicht.
Stattdessen redet ein junger Mann, der sie begehrt, der weiß, dass
sie ihn nicht begehrt, der sie gerne nach oben begleiten möchte und
verspricht, sie nicht anzurühren. Mimmi spricht kaum. Der junge Mann
wird im weiteren Film nicht wieder auftauchen. Bald darauf eine lange
Einstellung, im Dunkeln im Bett ein älterer Mann, Fahrlehrer, Mimmi
legt sich nackt dazu, bleibt minutenlang unbewegt so liegen, die Kamera blickt
unverwandt, irgendwann steht Mimmi auf (Schnitt), schaltet das Licht ein,
sagt kein Wort, steht nackt da. Mehr erfährt man nicht über diese
Beziehung. Mehr als das, was man sieht, erfährt man nicht über
Mimmi, auch wenn der Film fast zwei Stunden lang beinahe ausschließlich
nur ihr folgt. "Plätze in Städten" ist keine Annäherung an
diese Figur: Schanelec macht das in der Staffelung ihrer Raum-Bilder ganz
unmissverständlich klar, indem sie zwischen den Blick der Kamera und
die Figur weitere Ebenen legt, eine Straße, aber auch Scheiben oder
weitere Figuren. Es gibt einige wenige Großaufnahmen, die jedoch in
ihrer Tendenz zur kühlen Ikonisierung alles andere als Emotionalisierung
(gar Sentiment) im Sinn und zum Effekt haben. Einmal löst sich die
Figuralität in der Großaufnahme fast völlig auf: Mimmis Haare
füllen Sekundenlang die Leinwand, eine Komposition in Schattierungen
von brauner Farbe.
Oft gleichen die Einstellungen Fotografien, in ihrer Statik, in ihrer
Komponiertheit, in ihrer Abgeschlossenheit. Fotografien aber, deren Raum
in die Tiefe geöffnet wird. Schanelec ist eine Meisterin dessen, was
der Filmwissenschaftler David Bordwell "Präzisionsinszenierung" nennt
und gegen den Vorwurf undynamischer Theatralität vehement - und sehr
überzeugend - verteidigt. Die Präzisionsinszenierung nutzt den
gerade filmischen Raum, das Dreieck in die Tiefe, das die Kamera eröffnet.
Es geht um die Inszenierung der Figurenbewegung, die durch die Nicht-Bewegung
der Kamera gerade sichtbar wird (freilich wird umgekehrt die Stillgestelltheit
der Kamera oftmals geradezu physisch spürbar, bekommt der unsichtbare
Blick ein eigenes Gewicht, das nicht Reflexion ist, sondern Präsenz,
ein nicht formuliertes Bewusstsein ihrer Anwesenheit). Schanelec spielt bei
der Staffelung in die Tiefe - das ist das naturgemäße Ausdrucksmittel
dieser Inszenierungsform - mit den Schärfebereichen. In einer Szene
des heftigen Konflikts zwischen Mutter und Tochter bleibt die Mutter im
Vordergrund unscharf, die Kamera fokussiert Mimmi. Kurz darauf ein Negativ
der Einstellung. Die Mutter liegt auf der Couch, in der Raumebene davor die
verschwommene Kontur der Tochter. Dann aber (und das sind oft große
Momente von stiller Dramatik) wird die scheinbar fotografische Komposition
in Bewegung gesetzt: Mimmi geht an der Mutter vorbei auf den Balkon, so dass
zwischen Mutter und Tochter (in der unveränderten Einstellung) eine
weitere Schicht eingezogen wird: die Differenz von Innen und Außen
liegt nun zwischen den Figuren. Es folgt ein Schnitt auf Mimmi, dann einer
weg von ihr, ein Blick nach draußen, freies Feld. Darauf aber einer
der wenigen Momente, in denen sich die Kamera ganz von der Figur zu lösen
scheint. Ein Blick auf spielende Kinder, ein Blick, der selbst nach "außen"
gelangt ist, außerhalb des Koordinatenbereichs, in den sonst fast jede
Einstellung des Film einzutragen wäre. Der Nullpunkt dieses
Koordinatensystems ist Mimmi.
Ihr zusehen bei dem, was sie tut und nicht tut, ihrem Schweigen, ihrem
Handeln und ihrer Handlungsverweigerung: das ist das Konzept des Films. Die
Ausrisse aus einem Leben, die "Plätze in Städten" präsentiert,
sind formal in sich geschlossen (manchmal bis zur Klaustrophobie), nach
außen aber haben sie scharfe Kanten des Nicht-Erklärten, des
Nicht-Eingeordneten. Alle Fragen nach Motivierung, nach Vor- und Nachgeschichten
bleiben offen. Der Film erzählt nicht mehr als er zeigt. Er erschöpft
sich im Zeigen, das Zusehen ist. Die Dialoge scheinen auf derselben Ebene
zu liegen wie die Figuren, es fällt derselbe Blick auf sie: als wären
sie nichts als physische Präsenzen. Sie sind nicht der Schlüssel
zum Inneren der Figur, sondern ihre Erweiterung in den Klang. Das gilt für
die Tonspur als ganze: der Originalton, Geräusche, Geschirrgeklapper,
vorbeifahrende Autos sind nicht das Nebenbei eines sinn- und wortzentrierten
Klangs, kein Teppich, sondern eigenständiger Teil des Einstellungsbildes,
das je und je eine abgeschlossene Totalität für sich besitzt. Der
"Blick" der Kamera (das Visuelle wäre Metapher für die umfassendere
Wahrnehmung, die den Ton, die Physis und die Kamera selbst einschließt)
prallt auf die Figur im Raum. Der Film ist nichts als die Serie von Bildern
der Figur, von Bildern ihrer physischen Präsenz (als Bild- und
Klangerscheinung). In jeder der meisterhaften Einstellungen dieses Kinos
wird und ist die grundsätzliche Frage aufgehoben, aufgelöst in
einem sehr anspruchsvollen Sinn des Wortes: Wie rücke ich die Figur
ins Bild?
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