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Tamer Yigit: Selda (D 2008)

Von Michel Freerix

David ist Migrant, das heißt seine Eltern kamen nach Deutschland, um hier zu arbeiten und zu leben. Er ist hier aufgewachsen und lebt in einem Netzwerk von Freunden mit ähnlichem Hintergrund. Obwohl sich David pausenlos mit seinen Freunden herumtreibt, lehnt er ihr Wertesystem doch auch ab. Er möchte sich den Kategorisierungen dieser Migrantenwelt nicht unterordnen. Sie sind für ihn keine Orientierungspunkte mehr. Es sind Eckpfeiler einer Welt, die für ihn weder Inhalt hat noch Heimat sein kann. Gleichzeitig hat er innerlich noch keine Gegenwelt aufgebaut, die ihm Identität sein kann. Stattdessen lehnt er alles ab. Unterschwellig ist da ein großer Selbsthass zu spüren. David ist ein Außenseiter in einer Außenseiterwelt. Er ist seltsam ambivalent. Voller Wut und Verzweiflung, aber ziellos.

Er driftet durch eine namenlos wirkende Stadt. Tag und Nacht, das ist ihm gleich. Er schläft mal bei Freunden, mal im Auto oder auch in fremden Wohnungen. Trotzdem gibt es ein Netzwerk aus Freunden, auf das er sich bezieht. Das ihn vor dem freien Fall, in dem er sich zu befinden scheint, bewahrt.

Selda ist seine Ex-Freundin. Sie lebt sehr zielbewusst, hat einen fest geregelten Tagesablauf. Immer wieder ist sie, als Parallelwelt, im Film zu sehen. Erst langsam offenbart sich ihre unterschwellige Unsicherheit. Es fällt ihr offensichtlich schwer, sich auf andere Menschen einzulassen. Ihre Selbstbestimmtheit wirkt nach und nach angestrengt, wie eine Fluchtbewegung.

"Selda" von Tamer Yigit beschreibt zwei Menschen, die sich in jeder Großstadt Deutschlands finden lassen; vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der von Ambivalenzen geprägt ist. Es sind Migranten, denen die Migration die Möglichkeit nimmt, sich eine Identität zu bauen, die ihnen als Selbstbestätigung dient. Stattdessen klopfen sie Sprüche und leben voller unlösbarer Widersprüche. Realität und Irrealität gehen hier Hand in Hand.

Yigit hat offenbar bewusst vermieden, eine bestimmte Großstadt in seinem Film zu porträtieren. Sein Stadtbild setzt sich aus Straßen, Hinterhöfen, Industriekomplexen, halbleeren Wohnungen und Geschäften zusammen, die wie Fragmente einer Traumstadt zusammengesetzt sind. Die mehr eine Art industrielle Zone mit teilweise städtischem Charakter ist. Die Menschen, die darin leben, haben keine spezifische Stadtidentität, sondern leben losgelöst davon in einer in sich geschlossenen Welt der Zufälligkeit.

Im gesamten Film trifft David seine Ex-Freundin Selda nur ein einziges Mal, und da lässt sie ihn nicht in ihre Wohnung. Frustriert fährt er anschließend durch die Straßen, gabelt eine Frau auf, holt sich einen runter, und ist dabei komplett gefangen in seiner ziellosen Leere. Der Film zelebriert diese Leere und hat doch gleichzeitig eine Kraft, die berauschend und verstörend ist. Selbst der Titel des Films bezieht sich auf eine Leerstelle in Davids Leben.

Christoph Bach spielt diese Hauptfigur mit einer undurchdringlichen Verzweiflung, wie er, der "deutsche Robert de Niro", sie sonst selten zeigt oder zu zeigen wagt.

Der Film gibt keinen Aufschluss darüber, wie David wurde was er ist, sondern deutet dies nur an. David hat einen Vater, dem er manchmal Geld vorbei bringt, den er aber total verachtet. Und auch der Vater weiß nicht, wie er sich seinem Sohn mitteilen soll, wie er überhaupt mit ihm umgehen soll. Er fordert nur Respekt ein, den er selber niemandem entgegenbringen kann. Es gibt keine Brücke zwischen diesen beiden Polen und genau diese zusammengebrochene Kommunikation als Dauerzustand thematisiert der Film.

Es sind diese Ambivalenzen, aus denen Tamer Yigit seinen Film gebaut hat. Dabei werden David und Selda als zwei Personen gezeigt, die mit ähnlichen Prozessen beschäftigt sind, nur äußert sich dies bei ihnen vollkommen unterschiedlich. Die Frauenfigur ist im Grunde die Utopie in diesem Film: selbst bestimmt und selbstverständlich geht sie ihrer Arbeit nach. Sie hat eine doch – stellenweise fragile – Identität. Ganz im Gegensatz dazu ihr Ex-Freund der wie ein Geist herumwandert. Er kann die Konflikte seiner Existenz nicht lösen und bleibt in ihnen gefangen.

Er lehnt es ab, sich mit ihnen zu beschäftigen.

Er lehnt alles ab: das sein und das nichts.

Es sieht nicht so aus, als würde der Film darin etwas spezifisch Männliches, bzw. Weibliches konstruieren. Es sind vielmehr Einzelschicksale. Davids Wut auf alles wendet sich gegen ihn selbst und ist dabei, ihn zu Grunde zu richten. Sie hingegen kennt diese Wut gar nicht. Seine Haltlosigkeit und ihre Zerbrechlichkeit sind wie die zwei Seiten einer Medaille.

Ein Film, der Charaktere beschreibt, die wahr und erschreckend zugleich sind. Aber auch ein Stück Wirklichkeit, wie sie im Film selten zu sehen ist. Man kann über diesen Film nur fragmentarisch schreiben. Anders täte man ihm Gewalt an.

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