Angst im Dunkeln
Nicht wissen, wo oben und unten ist, ob man sich tiefer in das Labyrinth
hinein oder aus ihm heraus bewegt, das war der Sinn des in den 90er Jahren
erschienen Computerspiels Descent. Mit einem Raumschiff flog
man durch enge Gänge, war gezwungen, sich ständig um alle
möglichen Achsen zu drehen, um voran zu kommen und nur ein hin und wieder
auftauchender Schriftzug auf einer der Wände um einen herum, verriet
dem Spieler, in welcher Position zur Wirklichkeit er sich gerade
befand. Dass es in Neil Marshals Film The Descent um ein ganz
ähnliches Thema geht, liegt angesichts der Titelbedeutung auf der Hand.
Zusammen mit dem sechs Protagonistinnen, die ein unbekanntes Höhlensystem
erforschen, verliert hier auch der Zuschauer mehr und mehr die Orientierung.
Die dann auftauchenden Crawler, in den Tiefen der Höhle
lebende, menschenartige Raubtiere, wären in diesem Sinne dann als ein
höheres Level zu verstehen.
Dass die Frauen sich in der Höhle verirren und unter den extremen
Umständen nach und nach immer agressiver gegeneinander werden, liegt
in der Natur des Thriller-Genres. Die kannibalischen Lebewesen, die
übrigens sehr an den Gollum aus Peter Jacksons Herr
der Ringe-Adaption erinnern, sind jedoch neu und führen ein Element
in den Film ein, das den Verirrungsplot und mit ihm seine Protagonistinnen
voran treibt. So kommt zum Horror, in den engen Gangsystemen stecken zu bleiben,
noch der Thrill, diesen Wesen entkommen zu müssen, die zwar blind sind,
sich aber über ihren Gehörsinn bestens orientieren können
und die auch kopfüber über die Wände und Decken huschen. Nach
und nach werden die Amateur-Höhlenforscherinnen zum Fraß der Monster,
die oft wie aus dem Nichts auftauchen und wieder in der Dunkelheit verschwinden.
The Descent ist ein extrem affektreicher Film. Auf die unangenehmsten
Weise schafft er es, die Platznot der Situation auf den Zuschauerkörper
zu übertragen, indem er die Körper in extremen Nahaufnahmen und
die Gesichter in heller Panik vor Augen führt. Hinzu kommt der recht
hohe Blutanteil, der die Zusammentreffen der beiden Spezies bestimmt. Unwohlsein
im Zuschauerraum stelllt sich also auf jeden Fall auf die eine oder andere
Weise ein. Leider, aber das ist nur ein minimaler Kritikpunkt, leider fehlt
es bei all dem Spannungsreichtum, dem Horror und der Affektproduktion an
einer ordentlichen Motivation, die vor allem zu den erzählerischen
Wendepunkten hinführen könnte. So wird zwar zu Beginn des Films
irgendwie angedeutet, dass der Autounfall, bei dem eine der Frauen ihre gesamte
Familie verliert, für das Folgende Bedeutung bekommen wird; wie sich
diese Bedeutung dann allerdings auf das Verhalten in der Gruppe auwirkt,
ist nur unzureichend geklärt. Das wäre zu vernachlässigen,
wenn eben diese Frau nicht eine besondere Rolle für das Ende des Films
bekommen hätte.
Als Unterhaltungsprodukt ist The Descent ist ein überaus
dichter und gelungener Film, der zu Beginn exzellent, im weiteren Verlauf
aber nur noch gut ist, weil er sich dann ausschließlich
auf den Horror der Situation und den Reiz des Settings verlässt. Neben
der Handlung selbst (sechs Frauen steigen in ein Loch und werden dort von
wilden Männern gefressen) lädt vor allem der Schluss zur Interpretation
und Diskussion ein. So kann man über die monierten Schwächen der
Erzählung hinwegsehen, wenn man den Film als Metapher für
individual-psychische oder Gruppen-Prozesse liest. Das verleiht dem Film
neben seinen Schock- und Horrorsezenen, die bei einer zweiten Sichtung nicht
mehr wirken, einen besonderen Reiz.
The Descent
(GB 2005)
Regie: Neil Marshall
Länge: 99 Minuten
Verlieh: Lions Gate
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