Mabel Cheung Yuen-ting und Alex Law Kai-yui sind seit langem
Arbeitspartner und Lebensgefährten. Ende der 70er Jahre lernten sie
sich bei Arbeiten für den Regierungssender Radio Television Hong Kong
(RTHK) kennen. Seitdem verfolgen sie einen gemeinsamen Lebensweg. Während
Mabel Cheung zur zweiten Welle der sogenannten New Wave des Hong-Kong-Kinos
gezählt wird und sich durch ihre engagierten Arbeiten ab Mitte der 80er
Jahre schnell als ambitionierte Filmkünstlerin einen Namen machte (neben
Ann Hui On-wah und der inzwischen nach Australien ausgewanderten Autorenfilmerin
Clara Law Cheuk-yiu ist sie die wichtigste Regisseurin der kantonesischen
Filmmetropole), spezialisierte Alex Law sich aufs Drehbuchschreiben und
Produzieren. Gemeinsam gelingt es ihnen über die Jahre, auf einem geraden
Kurs durch die Untiefen der Hong Konger Filmindustrie zu manövrieren,
da sie ihr Boot nie mit faulen Kompromissen beladen haben.
Mit der Dokumentarfilm TRACES OF A DRAGON - JACKIE CHAN AND HIS LOST
FAMILY (HK, '02) spüren Cheung und Law der in der Öffentlichkeit
weitgehend unbekannten Familiengeschichte Jackie Chans, seit fast einem
Vierteljahrhundert einer der Superstars des Actionkinos, nach. Lange war
man erstaunt, mit welcher Diskretion es Chan gelang, sein Privatleben vor
den Augen der Welt zu verbergen. Bis in die 90er Jahre hinein war etwa seine
schon '82 geschlossene Ehe mit dem ehemaligen taiwanesischen Filmstar Joan
Lin Fengjiao eines der bestgehüteten Geheimnisse der Hong Konger
Filmindustrie. '96 erklärte Chan gegenüber dem Autor: "Langsam
kann ich sogar durchsickern lassen, daß ich einen schon fast erwachsenen
Sohn mit meiner langjährigen Lebenspartnerin habe. Es wäre früher
einfach zu heikel gewesen, solche Informationen an die Öffentlichkeit
zu lassen. Die Mädchen, meine Fans, hätten das nicht ertragen.
Sie wollten mich für sich, jede für sich allein. Die
Veröffentlichung meiner Beziehung hätte da tragisch enden
können."
Vor
dem Hintergrund der großen Umwälzungen Chinas im 20. Jahrhundert,
der unruhigen Jahre der frühen Republik, des '32 beginnenden, verlustreichen
sino-japanischen Kriegs, schließlich des erst '49 endenden
Bürgerkriegs zwischen Nationalisten und Kommunisten entwickelt sich
aus dem von Cheung und Law zusammengetragenen Material schnell ein bewegendes
Bild der jüngeren chinesischen Zeitgeschichte. Kaum eine Familie, von
den Stürmen der großen Politik oft wie Herbstlaub durchs Land
gewirbelt, zwischen die großen Machtblöcke gepreßt, die
in jenen Jahren nicht großes Leid erfahren mußte: erste durch
die Willkür der schnell wechselnden Militär-Cliquen der chinesischen
Warlords, dann durch die unmenschlichen Grausamkeiten der japanischen Besatzer,
schließlich während der ersten chaotischen Jahrzehnte der
Volksrepublik China. Diese Zerrissenheit der Landesgeschichte setzt sich
in den auseinandergesprengten Familien fort, auch in denen von Jackie Chans
Mutter und Vater.
Die beiden Regisseure begeben sich auf die Suche nach den aus Scham
oder Schmerz - oder weil es schlicht inopportun war, am Vergangenen zu
rühren - lange verborgenen Teilstücken in den Biographien von Chans
Eltern, die Ende der 30er Jahre durch die Unbilden des Kriegschaos
zusammenführt werden. So beginnt sich aus den nicht selten einem wahren
Abenteuerroman gleichenden persönlichen Erinnerungen von Chans Vater
und den Berichten seiner ihm lange unbekannt gebliebenen älteren
Stiefgeschwister eine vielfach gebrochene, für nicht unwesentliche Teile
der chinesischen Gesellschaft exemplarische Chronik des 20. Jahrhunderts
zu formen. Dies ist das Hauptanliegen der beiden Filmemacher.
Das dabei entstehende Bild des in seinen Fundamenten erschütterten
Riesenreichs, daß auch heute noch nicht wirklich zur Ruhe gekommen
ist oder seine Mitte wiedergefunden hätte, kann wegen seines auf relativ
wenige Personen bezogenen "spoken history"-Ansatzes nur ein sehr subjektives
sein. Um den Ausschnitt zu vergrößern, werden die Interviews mit
den Familienangehörigen durch eine Vielzahl beeindruckender
allgemein-historischer Archivaufnahmen (viele bislang unbekannt) kommentierend
begleitet. Angesichts dieses lebendigen Geschichtsunterricht wird die enge
Verzahnung zwischen persönlichem Schicksal und politischen
Entwicklungslinien deutlich. Erst vor diesem Hintergrund gewaltiger
Umwälzungen läßt sich erahnen, was Chans Vater dazu bewegt
haben mag, seine beiden älteren, damals erst sechs bzw. acht Jahre alten
Söhne einem ungewissen, sicher aber vorhersehbar harten Schicksal zu
überlassen, da er keine Möglichkeit sah, sie bei seiner Flucht
durchs ganze Land mitzunehmen.
Eines moralischen Urteils über diesen noch immer rüstigen
Patriarchen enthalten sich Cheung und Law. Kein Geheimnis macht dieser aus
seinen undurchsichtigen Geschäften im Namen der Nationalen Volkspartei
(Guomindang) des Generalissimo Chiang Kai-shek, die ab Ende der 20er Jahre
die gewalttätige Drecksarbeit in der zwischen den damaligen
Weltmächten aufgeteilten Sektorenstadt Shanghai in aller Offenheit von
den Gangsterbanden der Triaden (hauptsächlich der "Grünen Bande"
Du Yueshengs) erledigen ließ. Damals mag er, durch die gesetzlose Halbwelt
des sogenannen "Jiang Hu" treibend - eher Hasadeur und cleveren Profiteur
im Dienst der Herrschenden als ein wahrer Nationalist - ebensoviel in seine
eigene Tasche gewirtschaftet haben wie an seine Auftraggeber weitergeleite.
In TRACES OF A DRAGON erklärt er ganz offen: "It's a violent business.
I was more or less a henchman, a tough guy. A hood really."
Über seine zweite Frau, Jackie Chans Mutter, berichtet er, sie
sei nach ihrer Flucht in die ab Ende der 30er Jahre von den Japanern besetzten
Weltmetropole erst Handlangerin und Hausmädchen, dann Animierdame,
Opiumschmugglerin, Hehlerin und stadtbekannte Spielerin gewesen, um sich
und ihre beiden Töchter aus erster Ehe durchzubringen. Der Film kommentiert:
"A brave and daring woman who traveled the underworld all by herself." Chans
Vater wiederum ergänzt: "Your Mother was known as 'Third Sister' in
old Shanghai. A free spirit, and she walked like a hood."- Wer wäre
nicht baff, dies über seine Mutter zu erfahren! Jackie Chan, der Weltstar,
dem das inzwischen natürlich alles längst bekannt ist, sitzt jedoch
auch bei diesen erneuten Unterweisungen wieder mit großen, staunenden
Augen neben seinem schwadronierend Vater. Bislang mag er die Auseinandersetzung
mit seiner Ursprungsgeschichte wohl nur sehr zaghaft angegangen sein. Auch
das Verhältnis zu den ihm seit Jahren nun schon bekannten Stiefbrüdern
in der Volksrepublik gibt Hinweise darauf: von seiner Seite ist kein Kontakt
erwünscht.
Mögen die alten Geschichten Anekdoten im Familienkreis sein.
Jackie Chan aber, in seinen Filmen immer der Superheld wider Willen, ist
eben nicht irgendwer - obwohl er sich seit den frühen Tagen seiner
Starkarriere bemüht, seinem Screen-Image entsprechend, auch im Alltag
jenen Jedermann zu geben, der er seit seinen ersten gigantischen Filmerfolgen
gewiß nie mehr war. Hier nun erscheint ein weiterer wichtiger Aspekt
dieser Dokumentation: Wo endet bei Chan die Inszenierung, wo beginnt die
reale Person? Lange war das nicht auszumachen; zu perfekt die Abschirmung
und persönliche Verleugnung. Entsprechend dem Chan-Mythos sind Cheung
und Law allerdings so diskret, dies, trotz der von Chan inzwischen bekannten
Skandalgeschichten, die eine ganz ungewollte Normalität des Idols
aufscheinen lassen, nicht in den Vordergrund zu stellen.
Was lange in einer mit großer Umsicht aufgebauten, idealisierten
Unbestimmtheit und unter Schichten verschiedener medialer Folien,
Projektionsebenen für sein Publikum, verborgen blieb, wird durch TRACES
OF A DRAGON in Deckungsgleichheit mit einer Realität gebracht, die Chan
selbst den größten Teil seines bisherigen Lebens unbekannt geblieben
ist. Plötzlich erhält das Bild des Stars tatsächliche Transparenz
und unbekannte Konturen erscheinen in diesem generationsübergreifendem
Querschnitt durch die Zeit.
Wie geht jemand um mit der Entdeckung so großer Blindflächen
in der eigenen Biografie, die jetzt von einem teilweise in Frage gestellten
Selbst ein gehöriges Stück Rekonstitutionsarbeit verlangen? Es
ist fast so, als müsse ein Amnesiepatient mit einer Realität
klarzukommen lernen, von der er nie angenommen hat, es könne sich um
seine eigene handeln.
Darauf, wie sich die Rekonstruktion einer verlorenen Lebensgeschichte
bei einer in so hellem Rampenlicht stehenden Kunstperson und Medienikone
wie Jackie Chan auswirkt, gibt TRACES OF A DRAGON leider keine Antworten
- sicher, weil damit der Rahmen dieser Annäherung gesprengt worden
wäre. Nur Spekulationen bleiben dem Zuschauer daher bei den Versuchen,
etwas aus Jackie Chans Gesicht zu lesen. Ganz sicher kann man darin Betroffenheit
erkennen. Ein zweiter Teil des Films, der hierüber vielleicht Auskunft
geben könnte, wäre wünschenswert.
-MAERZ-
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