Das totale Vergessen
Film ist ein Medium des Erinnerns und Vergessens. Zum einen speichert
es Momente der Vergangenheit; zum anderen ist der filmische Moment so kurz,
dass er - kaum wahrgenommen -, schon wieder vorbei ist. Damit wird Film zum
idealen Medium für Lebensgeschichten, die es aus der Vergangenheit
hervorerzählen und gleichzeitig als längst vergangen
vorüberziehen lassen kann. Handelten solche Filme dann selbst noch vom
Erinnern und Vergessen, so ließ sich das Thema oft ästhetisch
ansprechend umsetzen: Total Recall (1990), Twelve Monkeys (1995)
oder nun Eternal Sunshine of the Spotless Mind.
Gondrys zweiter Spielfilm erzählt die Liebesgeschichte von Joel
(Jim Carrey) und Clementine (Kate Winslet). Sie lernen sich wie zufällig
an einem Bahnhof kennen und sofort verlieben sie sich ineinander und verbringen
einen Tag und eine Nacht auf einer verrückten Reise. Als Joel Clementine
am nächsten Morgen nach Hause bringt, begegnet ihm vor ihrem Haus ein
junger Mann (Eliah Wood), der ihn zu kennen scheint. Von da ab verliert Joels
und Clementines Geschichte ihren Halt.
Vergiss mein nicht, so der deutsche Titel von
Eternal Sunshine of the Spotless Mind, gibt nach dem oben beschriebenen
Prolog seine chronologische Erzählung auf. Er fügt Szenen aus
verschiedenen Zeitabschnitten zusammen: Joel, der auf Clementine trifft,
die sich nicht an ihn zu erinnern scheint; Joel, der herausfindet, dass
Clementine ihn durch einen neurologischen Eingriff aus ihrem Gedächtnis
entfernen ließ; Joel, der sich aus Trauer und Wut nun auch Clementine
löschen lassen will; der Akt des Löschens, der im Schlaf geschieht
und Joels plötzlicher Wunsch, doch nicht vergessen zu
müssen.
In wildem, aber keineswegs zufälligem Rhythmus rekonstruieren
Gondry und sein Drebuchautor Charlie Kaufman die Liebesgeschichte zwischen
Joel und Clementine. Die Erzählung ist geprägt von
Erinnerungsbruchstücken Joels, Momenten der Liebe und des Hasses. Dazwischen
werden die Praxis des Neurologen Dr. Mierzwiaks und seiner Mitarbeiter, die
sich allesamt aneinander, an Joel und Clementine schuldig machen, berichtet.
Auf nicht anders als genial zu bezeichnende Weise führt Gondry diese
Erzählfäden zusammen.
Das eigentlich Atemberaubende des Films ist neben der originellen
Erzählung seine Inszenierung. Gondry greift tief in seine Trickkiste,
die er als langjähriger Videoclip-Regisseur mit optischen und akustischen
Einfällen gefüllt hat. Er schafft es tatsächlich zu "zeigen",
wie Vergessen funktioniert und welche Angst damit einhergeht, sich nicht
mehr erinnern zu können ... zu dürfen! Da verschwinden Menschen,
die wie Seifenblasen platzen, aus Joels Erinnerung, Szenenaufbauten bauen
sich sukzessive ab, Dunkelheit schiebt sich von hinten in (Erinnerungs-)Szenen
und Joel und seine imaginierte Clementine fliehen und verstecken sich an
Orten, wo sie der Erinnerungslöschmaschine zu entkommen hoffen.
Unterstützt werden Erzählung und Inszenierung von den
Schauspielerischen Leistungen Jim Carreys und Kate Winslets, die hier die
Höchstleistungen ihrer bisherigen Karriere erreichen. Es ist kaum zu
glauben, wie einfühlsam und bedrückend Carrey, der sonst eher durch
verschrobenes Mienenspiel brilliert, das Leid und die Angst Joels fühlbar
macht. Kate Winslet spielt im Counterpart die Clementine als leicht
verrückt-impulsive, originelle junge Frau, die durch das verschlossene
Wesen Joels in Depression und Agression getrieben wird. Auch ihr Spiel ist
an Authentizität kaum zu überbieten.
Was das Gespann Gondry/Kaufman mit Vergiss mein nicht jenseits
aller Genrekonventionen inszeniert hat, dürfte einer der originellsten
Filme seit David Lynchs Lost Highway (1997) sein. Damit ist der etwas
langatmige Erstling Human Nature (2001) mehr als wettgemacht. Etwas
Ähnliches, wie Vergiss mein nicht, hat man sicherlich lange Zeit
im Kino vermisst. Die ausgeklügelte Filmkunst, der man die
Videoclip-Vergangenheit Gondrys deutlich ansieht, ist eine konstruktive
Bereicherung für den Spielfilm und lässt - nach Spike Jonzes Filmen
- ahnen, dass da wohl eine neue Generation von Filmemachern vor der Tür
steht.
Vergiss mein nicht
(Eternal Sunshine of the Spotless Mind, USA 2004)
Regie: Michel Gondry
Buch: Charlie Kaufman nach einer Story von Gondry, Kaufman und Pierre
Bismuth
Kamera: Ellen Kuras; Schitt: Valdís Óskarsdóttir; Musik:
Jon Brion
Darsteller: Kate Winslet, Jim Carrey, Kirsten Dunst, Mark Ruffalo, Elijah
Wood u. a.
Verleih: Constantin; Länge: 115 Minuten
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