Michael Haneke: Wolfzeit (F 2003)

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Michael Haneke: Wolfzeit (F 2003)
Kritik von Thomas Groh

 

Gutbürgerliche Wochenendausflüge mit Tier und Kegel sind in Michael Hanekes Filmen mit Vorsicht zu genießen. Das weiß man seit Funny Games (Österreich 1997). Die Stimmung in der hier beobachteten Familie scheint von Beginn an etwas gedämpft: Wortkarg, wenn nicht verschreckt reserviert räumt man den Wagen aus, das mitten im Wald gelegene Häuschen erweckt kaum Vertrauen. Heimelig ist das hier nicht, auch sehen Wochenendausflüge meist anders aus, werden freudiger begangen. Warum trägt der Kleine seinen kleinen Vogel im Käfig mit sich? Man scheint länger bleiben zu wollen. Drinnen dann der Schock: Das Haus ist besetzt, eine andere Familie hat sich eingenistet. Man wird bedroht, mit Waffengewalt geplündert. Unvermittelt dann ein Schuss, der Vater: tot. Die Mutter Anne (Isabelle Huppert) darf mit Sohn Ben (Lucas Biscombe) und Tochter Eva (Anais Demoustier) das Gelände verlassen, was stutzig macht. Wäre es nicht im Sinne der Mörder, Zeugen aus dem Weg zu räumen, sie zumindest in Gewahrsam zu halten?

Eine Welt nach dem Zusammenbruch sozialer Verbindlich- und Verlässlichkeiten. Haneke zeichnet sein offenbar apokalyptisches Szenario nicht als historisch-politischen Weltentwurf, sondern in Form einer Verschiebung oft kleinster kultureller Details der individuellen Alltagswahrnehmung: Die Überlebenden dieses Gewaltausbruchs ziehen wie Flüchtlinge durch nebeldiesige Bildlandschaften, schlagen verzweifelt an die Türen der einstigen Nachbarn, in deren Fenstern noch Licht brennt, allein die Türen bleiben verschlossen. Auf dem Marktplatz im Dorf werden Kühe auf einem Scheiterhaufen verbrannt, hier und dort findet sich eine gnädige Seele, die ein wenig Essen spendet. Man habe ja selbst eigentlich nichts, fügt man noch hastig hinzu, das Gesicht bleibt dem Bildkader vorenthalten. Allenthalben herrscht Misstrauen, Angst, Kälte. Was geschehen war, wie es dazu kommen konnte: Das interessiert Haneke nicht, noch nicht mal in Form von Andeutungen. Politische, soziale und historische Sphären sind in Wolfzeit von keiner Bedeutung. Hier soll es um Universelles gehen, Gedankenexperiment also, Aussagen über den Mensch als solchen.

Und dieser ist, so sagt man gerne, sich selbst ein Wolf. Ganz so absolut scheint Haneke das nicht ausdrücken zu wollen, stellt es aber zumindest als einen von vielen Aspekten in den Raum. Ein namenlos bleibender Junge (Hakim Taleb), der durch die Wildnis streift, schließt sich den drei Desolaten an, wenn auch stets in Distanz verweilend. Ein Hund hat ihm in die Hand gebissen, er selbst erscheint als streunender Hund zwischen interessiertem Schnuppern, Argwohn und offener Aggressivität. Er plündert herumliegende Leichen, untersucht Tierkadaver, ob sich da nicht noch was Essbares fände, stiehlt und legt den Dreien Gleiches nahe. Zusammen findet man, in einem stillgelegten Bahnhof, eine kleine Gemeinde des Elends, die sich, gleichsam als Gegenentwurf zum atomisierenden Egoismus des Jungen, mittels selbstauferlegter Regeln ein wenig soziale Heimeligkeit zurückerobern möchte. Hier findet man, wenn schon kein Zuhause, doch ein klein wenig Tröstlichkeitssurrogat für das zoon politikon, das Gesellschaftswesen. Der Junge umkreist diese Kommune argwöhnisch wie ein Trabant, bleibt in den nahen Wäldern verschanzt, nachdem er sich nach der Ankunft umgehend als Dieb profilieren musste und, sofern sich die Gelegenheit bietet, dies auch bleibt.

Dass diese Kommune keineswegs einem Paradies der Postapokalypse entspricht, ist so naheliegend wie schnell ersichtlich. Die Knappheit der Ressourcen sorgt für Spannungen untereinander, soziale Konflikte bilden sich, zumal dann, wenn alte Ressentiments - Redneck-Prototypen mit geschulterter Flinte treffen auf einen polnischen Einwohner ihrer früheren Gemeinde - aufbrechen. Neue Mythen werden, am Rande, in den Raum gestellt: Die 36 Gerechten, die Brüder des Feuers, allesamt mehr oder weniger Versuche, in der Sinnlosigkeit dieser neuen Existenzform sinnstiftend zu fungieren. Und wer nicht handeln kann, kann, als Frau, auch andere Dienste anbieten. Bald schon ist diese neue Gemeinde auf imposante Größe angewachsen, zusammen wartet man an den Gleisen auf den rettenden Zug, der sie aus diesem Jammertal holen würde - unter diesen Wartenden bald auch die Mörder des Vaters und Gatten.

Man kann Haneke kaum vorwerfen, seinen Film nicht mit der üblichen Sorgfalt inszeniert zu haben. Ganz im Gegenteil zeichnet sich Wolfzeit durch den gewohnt besonnenen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel aus. Haneke verteilt die üblichen Spitzen gegen etwaige Behaglichkeiten im Kinosaal und fordert damit emotional heraus. Dass er das kann, dass er es hier, wie immer, tut, sei unbestritten. Seine Bilder sind trostlos, grau, nicht selten gar zur Gänze schwarz, weil nur mit Naturlicht gedreht wurde und vieles nachts stattfindet. Doch die Nähe zu den Figuren, die das impliziert, das Sich-Winden auf dem Kinostuhl, wenn Haneke seine Geschichte vom Weltverlust und dem Verfall des Menschen unter diesen Bedingungen erzählt, all das führt zu nichts, bleibt lediglich Betrug am Zuschauer.

Das recht alte Gedankenexperiment, das hier fortgeführt werden soll, erscheint durch Hanekes moralische Lektion weder ergänzt noch sind die Schlussfolgerungen sonderlich originelle: Dass der Verlust sozialer Verbindlichkeiten ressourcenökonomische Prekärsituationen nach sich zieht, entsprechend Menschen, der Natur nun ausgeliefert, zu Bestien zu machen in der Lage ist, dass der Mensch als solcher dadurch zerrieben wird, verloren geht, das hat sich Haneke beileibe nicht selbst ausgedacht, sondern ist grundlegendes Element jeder apokalyptischen Erzählung in Kino und Literatur der letzten Jahrzehnte. Gerade und besonders auch in den Haneke verhassten Genrefilmen. Dass Tiere, Alte, Kinder sowohl körperlich wie auch emotional und psychisch unter solchen Bedingungen erste Opfer wären, Familienstrukturen sich aufreiben, Verzweiflungstaten bis hin zum Selbstmord und -opfer Konjunktur haben und, letztendlich, die offenkundige Verzweiflung des beschwörenden "Alles wird gut!" zum letztmöglichen Strohhalm wird, all das ist ebenso wenig neue Erkenntnis und deshalb, was die bloße Aussagekraft betrifft, bestenfalls redundant, eigentlich schon banal.

Und so widerfährt Wolfzeit, der so überaus vielversprechend beginnt, das schlimmste, was einem Film mit dieser Intention geschehen kann: Er wird im Verlauf, wiewohl nicht in narrativen Details, so doch aber im wesentlichen sträflich erahnbar. Die Spitzen, die fast schon genüsslich verteilt werden, die Drastik der Bilder, wenn etwa einem Pferd vor laufender Kamera die Kehle aufgeschlitzt wird, und die so strikte wie angesichts des Stoffes auffällige Verweigerung einschlägiger Genrekonzessionen scheinen allesamt bloß einem einzigen Zweck verpflichtet zu sein: Der Inszenierung ihres Urhebers als von sich eingenommenem Mahner zur Moral, als Erretter der Filmkunst vor dem Profanen des Genre-Einerlei. Das ist, gelinde gesagt, zu wenig.

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