Thursday, January 18, 2007

Ernst Weiß: Der Augenzeuge

Ein Mann legt Rechenschaft ab, vor sich und der Welt. Er sieht sein Leben zugespitzt auf ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Das sagt er zu Beginn und kommt erst im chronologischen Lauf des Erzählens darauf zurück. Es gibt Gravitationskräfte in diesem Buch, Erschütterungswellen, die es durchziehen, manchmal sind sie heftig zu spüren, manchmal vibriert es nur leicht. Vielleicht ist die Rekonstruktion, die der Ich-Erzähler, vom Ende her, vornimmt, nicht einmal zutreffend. Vielleicht gibt es gar kein Zentrum, sondern nur ein Feld, das sich im Rückblick homogenisiert. Im Rückblick erst nähme dann das Ereignis des Jahres 1918 die Bedeutung und Schicksalhaftigkeit an, die es am Ende, im Jahre 1936 haben wird. Dies Ereignis ist die Begegnung des Ich-Erzählers, der Arzt ist, mit dem Gefreiten A.H., der ihm als Patient entgegentritt. Er ist blind und er ist schlaflos, beides Symptome eines hysterischen Syndroms. Der Ich-Erzähler wird A.H. heilen, von der Blindheit, indem er an seine Willensstärke appelliert, indem er den Kranken sich unterwirft und zur Selbstheilung zwingt. Und doch ist A.H., natürlich, unheilbar. Er bleibt schlaflos. Er kommt zu sich selbst in der Aufpeitschung der Massen, die ihm sich, um die Peitsche bettelnd, unterwerfen. Und doch ist auch das nicht so einfach. Es gibt grandiose Szenen, in denen A.H.s Reden beschrieben sind, und es geraten diese Szenen in Resonanz zu anderen Momenten im Leben des Erzählers, in denen er Zeuge seiner eigenen Entmenschung wird. Es ist dieser Punkt, um den der Roman kreist, es ist dies dann wohl doch das eigentliche Zentrum: Wie der Mensch sich dem konfrontiert sieht, was hier behelfsweise auch "Unterseele" heißt. Es erlebt der Ich-Erzähler im Krieg sich als Berauschten, der töten will, voranstürmen, den Gegner, der ihm kein Mensch ist, sondern nur das zu Vernichtende, vernichten: "Man muss ihm mit einem geschickten Stoß an der richtigen Stelle das Bajonett zwischen die Rippen gebohrt haben, man muss ihn in seiner fremden kehligen Sprache aufheulen gehört haben, ihn erblassen gesehen haben und wie er seine Augen mit dem riesigen gelblichen Weiß um die Pupillen hin und her wälzte, wie er nach vorne griff, wie seine Hände sich blutig schnitten im Bemühen, das Bajonett aus der Wunde zu ziehen, während ich es in der Wunde mit Mühe umdrehte und tiefer in seinen Körper eindrang, damit schon alles schnell zu Ende sei, er erledigt und ich weiter zu andern –" Man muss das erlebt haben, denn vermitteln lässt es sich nicht: "Man kann nicht die Worte in einem stillen Zimmer niederschreiben, und ein anderer, in einem anderen stillen Zimmer, für sich allein, die Zigarre im Mund, den Hund zu seinen Füßen, soll dies begreifen und dann wissen, wie einem dabei zumute ist." Dies Buch ist, als Unternehmen der Selbstaufklärung, also zum Scheitern verurteilt. Es vermittelt nur den Schatten eines Eindrucks, als der Sprache, die das Erlebte verrät, anheimgegebenes Leben. Das ist eine Aporie, aber dies Buch trägt sie aus. Und es sucht eine Position, eine Stelle, von der aus sich das beobachten lässt. Der Titel spricht von dieser Position. Der Ich-Erzähler ist ein "Augenzeuge", aber das Zeugnis des Auges ist nicht verlässlicher als das Zeugnis der Vernunft und das Zeugnis der Sprache. Der Augenzeuge seiner selbst, der Augenzeuge der Blindheit des Gefreiten A.H., der Augenzeuge einer Weltgeschichte, die dem Abgrund zusteuert, er zeugt zuletzt vom Versagen der Augenzeugenschaft. (Und was ist zuletzt – im Aufbruch in den Spanischen Bürgerkrieg – der willentliche Übergang zur Tat? Ein Akt der Verzweiflung, aber in der Verzweiflung: ein Akt?)

Dem Buch ist schwer beizukommen. Es verweigert jene Schärfe der Trennungen, die Klarheit schaffen könnte. Von Anfang an eine Dopplung, zwei Ärzte im Heimatort des Erzählers, beide heißen Kaiser. Der eine ist der Judenkaiser, er wird den Jungen heilen, der vom Pferd getreten wird. Seine Tochter begehrt der Erzähler, später wird er sie heiraten, obgleich er der Mutter am Totenbett verspricht, niemals eine Jüdin als Braut in Erwägung zu ziehen. Der andere Kaiser, Geheimrat, später geadelt, ein Nervenarzt, wird zum Lehrer, Vorbild, Ersatzvater. Helmut, der Sohn, wird früher Freund und später, als hochrangiges SA-Mitglied, Retter im Tausch gegen den von der Frau, der Tochter des Judenkaisers, ausgeführten Verrat. (Sie rückt die Zeugnisse heraus, die Aufzeichnungen, die die hysterische Blindheit A.H.s beweisen.) In dieser Weise ist alles ineinander verstrickt in diesem Roman. Nichts ist nur Zeichen und Kürzel. Keiner kommt mit heiler Haut davon. Die Unterseele ist keinem fremd. Hoch kompliziert das Verhältnis zu Vater und Mutter. Der Vater stürzt tief. Die Mutter, die der Erzähler innig liebt, wird betrogen und lastet nun dem Erzähler diesen Betrug an. Es kommt zu Entfremdungen, zu einem Leiden, das die Beziehungen in diesem Buch immer wieder befällt. Nicht zu trennen sind – und damit haben auf ganz schwer zu beschreibende Weise diese Leiden zu tun – das Private und die Weltgeschichte. Das eine steht überhaupt nicht für das andere. Es geht mitnichten ums Exemplarische. Auch hier wieder dunkle Kanäle, Erschütterungen, die durch die Zeit und das Leben vibrieren, zentrumslos. "Der Augenzeuge" ist ein Zeitroman, aber nicht die Zeit ist das eigentliche Medium der Erzählung, sondern eine Kraft, von der die Sprache nur ahnungsweise Zeugnis ablegen kann. Dies macht der Roman spüren. Was immer darin geschieht, was immer sich darin schicksalhaft zuträgt, verweist, dunkel, aber mit ungeheurer Feinheit, auf diese Kraft, die behelfsweise im Roman "das Zermalmende" heißt. Aber das ist, wie die "Unterseele", nur ein Wort. Recht eigentlich ist "Der Augenzeuge" also ein Roman über die unerkennbare Kehrseite dessen, was er bezeugen kann. Ein Bericht, "nüchtern und klar, schmucklos und möglichst wahrheitsgetreu", der aber eine Ahnung in sich bewahrt von der fürs Zeugnis nicht greifbaren Wahrheit, deren sichtbarer Effekt das Schicksal ist, die Zeit, das Zerwürfnis, der Rausch, die Lust am Leiden und am Zufügen des Leides. Das ist nicht die Verfertigung eines Mythos, also Produktion einer Erklärung, gar Behauptung einer Kette von Ursache und Wirkung. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Wirkungen in äußerster Präzision, ja Nüchternheit und Klarheit, ja Schmucklosigkeit und Wahrheitstreue zu analysieren, zugänglich zu machen, zu bezeugen. Damit ist die Wahrheit, die zu sagen ist, gesagt. Das in der Wahrheit Unsagbare ist nicht numinos, es ist auch nicht im platten Sinn des Wortes verborgen, es ist nur je und je die Grenze, an der der Spaten des Erklärens und des Beschreibens umbiegt. Ernst Weiß erklärt, beschreibt, bezeugt, aber was dies Buch groß macht, ist, dass man die Erschütterungen dieses Umbiegens spürt, heftig manchmal, leise vibrierend an anderen Stellen.

Sunday, January 07, 2007

Adolfo Bioy Casares: Abenteuer eines Fotografen in La Plata

Ein Mann kommt in eine Stadt. Die Stadt ist La Plata, der Mann heißt Nicolás Almanza und ist Fotograf. Darum heißt der Roman "Die Abenteuer des Fotografen in La Plata." Aber erlebt er überhaupt Abenteuer? Er begegnet verschiedenen Menschen. Gleich zu Beginn trifft er auf eine Familie, er tritt um eine Ecke und wird gegrüßt. Ähnliches ist ihm zuvor passiert, jetzt passiert es wieder. Fremde grüßen ihn, er lässt sich ein mit ihnen. Ein sozialer Halt, auf nichts gebaut, von großer Unberechenbarkeit und Instabilität, und bis zuletzt wird ihm nicht zu trauen sein. Es grüßt ihn ein Mann, er heißt Don Juan und hat zwei Töchter. Die eine, Griselda, ist verheiratet, die andere, Julia, nicht. Später wird Nicolás mit Griselda schlafen, dann auch mit Julia. Don Juan, sagt Nicolás Freund Lucio Mascardi, ist der Satan. Mascardi ist bei der Polizei und er scheint Nicolás zu verfolgen. Der weiß nicht, was hier gespielt wird, und auch wir wissen es nicht. Keineswegs etablieren sich im Umgang die Verhältnisse. Weitere Figuren, kaum minder dubios, treten in Erscheinung und lassen sich, einmal in Erscheinung getreten, nicht mehr aus Nicolás Leben vertreiben. Die Tochter des Fotografen, dessen Dunkelkammer er benutzt. Die Pensionsbesitzerin, die keinen Frauenbesuch gestattet. Eine kleine Clique leicht revolutionär gesinnter Bohemiens. Nicolás Almanza fotografiert, denn das ist sein Auftrag, er fotografiert die Straßen, die Kathedrale von La Plata. Manchmal ruft er sich die Straßen der Stadt vor Augen, um sich zu vergewissern, dass er sie noch kennt. Dass er einer ist, der sich auskennt. Der weiß, welche Wege er gehen muss. Es hilft aber nicht. Der Umgang mit der Familie stabilisiert nicht den sozialen Zusammenhang. Die Wege durch die Stadt, die vielen Fotografien, arrondieren die Stadt onotologisch keineswegs. Ganz im Gegenteil. Nicolás Almanza verliert sich, er scheint im Traum, der vielleicht keiner ist, in einer anderen Stadt zu sein, in der, aus der er kommt, Las Flores. Bei einem Bestattungsunternehmer, dessen kleine Tochter auch Bilder knipst, wird er von einem Mann mit einer Spritze attackiert. Er stößt sich den Kopf an einem Sarg. Er weiß nicht, ob das, was er erlebt, wirklich ist oder geträumt. Ob Don Juan der Satan ist oder nur ein alter Mann. Dann trifft, womöglich tatsächlich, das Geld ein. Er bekommt einen neuen Auftrag. Er verlässt die Stadt. Das sind die Abenteuer eines Fotografen in La Plata.

Thursday, January 04, 2007

Theodor Fontane: Quitt

Fast stereotyp wird über Fontanes "Quitt" geschrieben, es sei der Amerika-Teil der weniger interessante, ja, in dieser aus Lektüren eingebildeten Neuen Welt gehe es auch nicht entschieden anders zu als bei Karl Mays unterm Sofa. Im ersten Teil dagegen, der in Schlesien spielt, also auch nicht Fontanes heimatlichem Gelände (was man schon daran merkt, dass schlesischer Dialekt überaus sparsam eingesetzt wird, was bei Fontane auch die Markierung eines gewissen Fremdelns zu sein scheint), aber doch im Umfeld eines von ihm regelmäßig besuchten Urlaubsorts. Die Handlung hier – im Riesengebirge, in Rübezahls Welt – ist nun wiederum von Ludwig Ganghofer (oder auch dem Heimatschmonzetten Karl Mays) so gar weit nicht entfernt. Ein auf Recht und Ordnung in fast schon maßloser Weise bedachter Forstaufseher hat es weniger auf die Sicherheit des Wildes als die Bestrafung, wenn nicht Vernichtung des Lehnert Menz abgesehen, dem es wiederum weniger auf das wildernd erjagte Wild als um den Akt der Insubordination zu tun scheint. Es treffen also Prinzipien aufeinander und darum wird es weniger schmonzetten- als politkommentarhaft. Was im übrigen auch den Redakteuren der "Gartenlaube" auffiel, die den Roman – als einzigen Fontanes – abdruckte, aber eben in ums Politische (etwa die Erwähnung Bismarcks) entschlossen gekürzter Manier. (Fontane, wird überliefert, hat diese entkernte Fassung nie gelesen.)

Allerlei Institutionen reichsdeutscher Verfasstheit sind im Spiel, prominent der Pfarrer, der dem Insubordinaten wie dem Prinzipienreiter windelweich moderierend ins Gewissen redet – und sei es von der Kanzel aus. Aber auch Lehnerts Mutter, die den Hasenbraten nicht erwildert haben will, aber doch isst, wenn er als widerrechtlich erschossenes Menü auf den Tisch kommt. Als kommentierender Chor vom Rande tritt eine Reisegesellschaft auf, die wohl am ehesten das ist, was man so fontanesch nennen würde. (Und wie ein Chor tritt sie auch am Ende noch einmal auf, wenn der Roman zurückgeht mit einem letzten Brief übers Schicksal Lehnerts in der Neuen Welt, in die Alte Welt.) Im ersten Teil, der kürzer ist, geht es aus, wie es ausgehen muss. Lehnert schießt erneut einen Hasen tot, hat drakonische Strafe zu gewärtigen und stellt aus Wut und Rache den Förster im Gebirge und jagt ihm eine Kugel in den Bauch. Der schreibt noch einen Sühnebrief, hat Lehnert als Schützen nicht erkannt, dann stirbt er, hinterm Busch ins Schicksal sich fügend nach ein paar erfolglos abgefeuerten Schüssen. Des Mordes verdächtig ist Lehnert durchaus. Er wird, es geht für ein paar Momente ziemlich kriminalliterarisch zu, per Indizien der Tat überführt und flieht und in einem gewagten Sprung vom Ende des einen Kapitels zum Beginn des nächsten sind sechs Jahre vergangen und wir sind, mit Lehnert Menz, in einer ganz anderen Welt: Amerika.

Dort findet, nach ein paar Irrungen und Wirrungen, Lehnert Menz, eine Ersatzfamilie, im Kreise der von Obadja Hornbosten angeführten Mennonitengemeinde, die allerdings so recht ein Bild recht scheckiger Weltanschauungen und Lebensentwürfe abgibt. Interessant ist natürlich der Sprung von hier nach da. Tatsächlich geht es bei den Mennoniten nur bedingt Fontanesch zu. Es gibt den Indianer, der als Christ stirbt. (Dergleichen tun sie bei Karl May auch sehr gerne.) Es gibt, wenig anziehend, Herrn und Frau Kaulbars, "Vollblutmärker" der engstirnigen Sorte. Es gibt die Kinder des Obermennoniten, die Engeln gleichen und für die Lehnert gleich doppelt sein Leben zu lassen bereit ist. Beim zweiten Mal gelingt's. Und es gibt L'Hermite, die faszinierendste, auch am faszinierendsten entortete Figur, der Revolutionär der Pariser Kommune, väterlicher Anbeter der Hornbostel-Tochter Ruth, Atheist, Bewunderer von Projektemachern aller Art und guter Mensch. Es geht hier Fontane schon, und anders als in den durch eigene Kenntnis mit atmosphärischer Wahrscheinlichkeit, genauer Beobachtung von Sprache, Gesten, Denkbewegungen etc. gesättigten heimatlichen Milieus (man könnte auch sagen: paradigmatisch realistisch gezeichneten Milieus) um eine andere Form von Milieudarstellung. Das nimmt Züge des Allegorischen an, und gewiss nicht aus Versehen. Die Alte Heimat tritt hier nur auf als künstlich belebte, etwa, wenn ein Rübezahl geschnitzt wird: "Und gesagt, gethan. Eine große Fichtenflechte, die für Haar und Bart zu sorgen hatte, wurde von den benachbarten Ozard-Mountains herbeigeschafft, unds chon am nächsten Familienabende machte der alte Berggeist, dem L'Hermite ein Paar rothe Glasaugen eingesetzt hatte, seine Aufwartung, und ging reihum und wurde bestaunt und bewundert." Freilich wird der Riese aus der Alten Welt in der Neuen als Götze betrachtet und von L'Hermite dem Feuer übergeben.

Die Künstlichkeit der hier versammelten Gemeinde aber wird im Roman selbst aufs Bild des "Vogelbauers" gebracht: "Lehnert (...) sah sich dadurch mehr als einmal an einen nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten in San Franzisko erinnert, drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze sammt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammengewohnt hatten. 'A happy family' stand als Aufschrift darüber und wenn Lehnert so beim Breakfast and Supper den langen Tisch musterte, kam ihm der Schaukasten immer wieder in den Sinn und er sprach dann wohl leise vor sich hin: 'A happy family.'" Man wird das so allegorisch wie eben auch utopisch finden dürfen; und nur in diesem Milieu findet Lehnert Menz die Erlösung, derer er bedürftig ist. Die Herstellung des "Quitt", die der Titel verspricht, erfolgt im amerikanischen Gebirge, im Opfer für den Sohn des Mennoniten-Gottes Obadja Hornbostel. Ein bisschen sinnlos einerseits, denn der Sohn war gar nicht in Gefahr. Aber gerade die Sinnlosigkeit des Opfers, der schiere Wille zum Sterben, führt zum Ausgleich, der diesem Roman als Prinzip unterliegt. Man wird wohl kaum sagen können, dass Fontane da ein eigenes Prinzip verficht - es ist vermutlich nur so, dass er sich die Menschen, Utopie hin, Utopie her, und das Erzählen als ein solches Streben nach Unglück vorstellt, das im besten Falle sich zu Vergebung und Erlösung im Tode hinzirkeln lässt. Als unter den gegebenen Umständen unvermeidliches Unglück. Gewiss bleibt diese Haltung zur Gesellschaft, die dergleichen notwendig erscheinen lässt, als kritische fassbar. Der Kritik dient auch der allerletzte Akzent des Textes, das Schlusswort des Geheimrats Espe, das genau die Haltung verkörpert, der Fontanes so scheinbar gleichmütig beschriebene Tragödien entspringen: "Was heißt quitt? Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen; das ist 'quitt'. Der Staat, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist in diesem Fall in seinem Recht leer ausgegangen und die Justiz hat das Nachsehen. Und das soll nicht sein und darf nicht sein. Ordnung, Anstand, Manier. Ich bin ein Todfeind aller ungezügelten Leidenschaften."

Jose Maria Eca de Queiroz: Vetter Basilio

Die Romane sind's, die die Heldinnen von Romanen ins Verderben stoßen im 19. Jahrhundert. Emma Bovary und auch Eca de Queiroz' Heldin Luiza Carvalho sind vergiftet und fiebern, lange bevor sie sterben. Dem Tode geben sie sich anheim in dem Moment, in dem sie der Sucht verfallen, die die Lektüre ist, und zwar von Liebesromanen und Historienschmonzetten, die das Leben nicht zeigen, wie es ist. Das Gegengift in Romanform, "Madama Bovary" und "Vetter Basilio" kommt zu spät, mit Notwendigkeit: nichts als Monumente des Tods durch Literatur. Luiza ist nicht dumm und sie ist schön und sie ist, anders als Emma Bovary, durchaus glücklich verheiratet. Dann aber ist der Mann aus dem Haus, auf Dienstreise in die Provinz – nicht dass Lissabon bei Eca de Queiroz nicht auch immer Provinz wäre, aber es gibt da Grade und Stufen – und, als hätte sie ihn herbeigeträumt, taucht Vetter Basilio auf, den sie einst liebte, der in Schulden geriet und nach Brasilien ging. Nun laufen die Geschäfte, nun kehrt er zurück, nun steht er vor der Tür, nun macht er Luiza schöne Augen, nun sagt er zu sich, im Stillen, aber der verlässlich bösartige Autor reibt es uns unter die Nase: "'Ran!' rief er lüstern. 'Ran wie Sant'Iago an die Mauren!" Gesagt, getan, in einem elenden Zimmer im eher nicht so noblen Viertel, in einem eher nicht so noblen Haus mit dem ironischen Namen "Paradies", treiben sie es miteinander, lustvoll erst, ein wenig lustlos später. Inspiration ist nicht zuletzt eine gute Freundin, die ihren langweiligen Ehemann mit Regelmäßigkeit hintergeht. Und dann ist der Ehebruch auch in der Literatur vielfach beschrieben. Es wird getuschelt, aber das wäre nicht weiter schlimm. Schlimm ist, dass die Dienstmagd Juliana Briefe in die Finger bekommt und Briefe stiehlt, die an eindeutiger Leidenschaft nichts zu wünschen übrig lassen. Eca de Queiroz zeichnet Juliana als faszinierendes Monster. Als eine, die von Neid zerfressen ist, hässlich wie die Nacht, immer die hässliche Perücke schief auf dem Kopf. Man wird wohl kaum sagen können, dass der Roman sie ins Recht setzt als eine, die nur will, was der Herrin so sehr oder so wenig zusteht wie ihr selbst. Aber die sich ergebende enge Hassbeziehung zwischen Erpresserin und Erpresster, ein fragiles Gleichgewicht der Kräfte im Kampf um, nein, nicht Anerkennung, sondern einfach materialistisches Wohlsein, ist ohne Sinn für Pietät geschildert. Bald plättet und kehrt und stärkt Luiza und Juliana liegt, Zeitung lesend, auf der Couch. Dies, nachdem Jorge, der Herr des Hauses zurückgekehrt ist, aus der fernen Provinz in die Hauptstadtprovinz. Aber was heißt schon Herr des Hauses. Er ist kaum da, er bekommt vom unsäglichen Schauspiel, in das die Köchin Joana noch einbezogen ist als von beiden Seiten mehr oder minder als Alliierte benutzte Dritte, immer nur den einen oder anderen Auftritt mit, auf den er sich keinen Reim machen kann. Im Grunde ein Stoff für eine Boulevardkomödie, die Jorge vorgespielt wird, mit wenig triftigen Ausflüchten, der Leiche im Keller, dem Heimlichtun und Doppelspiel. Die verzweifelte Luiza sucht Auswege aus der Klemme und schläft beinahe für das Geld, das Juliana ihr abpressen will, mit einem widerwärtigen Millionär. Im letzten Moment aber packt sie der Ekel und sie zieht ihm die Reitpeitsche über Hand und Gesicht und ..., nein, so weit geht Eca de Queiroz dann doch nicht. Und dann scheint, mit Hilfe des endlich zu Hilfe gerufenen Dritten, der Freund Sebastiao als Außeninstanz, alles ins Lot zu geraten. Juliana stirbt an Herzschwäche mit Schaum vorm Mund. Jorge weiß noch immer von nichts. Luiza erkrankt und wird, scheint es, wieder gesund. Harmlos genug trifft das Schicksal dann ein, per Post. Weil Luiza krank ist, liest Jorge den arg verspäteten Brief des Vetters, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Böse Ironie böser Schickung: die verräterischen Briefe sind vernichtet, da kommt ein neuer Zeuge unschuldig aus dem Nichts. Jorge konfrontiert, als sie gesundet scheint, Luiza. Da wird sie wieder krank, kränker denn zuvor. Und stirbt. Am Fieber. An der Schickung. An erlahmter Kraft. An der Literatur. Finstere Coda mit der Rückkehr Basilios. Luizas Tod findet er in erster Linie ärgerlich. Hätte er mal seine Geliebte mitgebracht nach Lissabon, denkt er, nun, da die Pforten des Paradieses ihm vor der Nase zugeschlagen sind.

Monday, November 06, 2006

Adalbert Stifter: Turmalin

"Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel." So steht es geschrieben, als erster Satz der Erzählung. Der Satz ist wahr. "Turmalin" ist eine Geschichte des "Unzusammenhangs". Rätsel werden versprochen, Rätsel werden gegeben. Eine Vorgeschichte, eine Nachgeschichte: aus nicht demselben Mund gehen sie hervor. Sie hängen zusammen, aber während mancher Zusammenhang sich herstellt, geht und bleibt manch anderer verloren. Eine Frau verschwindet und kehrt nie wieder. Wir nähern uns der Wohnng, in der sie lebte, in Wien, mit dem Mann, den sie verließ, ins sehr Dunkle hinein. Wir nähern uns der Wohnung: Haus, Gang, Gitter, Glockenzug, Magd, Weg, Gang, Vorzimmer, Zimmer des Herrn. Nach einem langen Weg sind wir da. Der lange Weg ist ein beschriebener Weg, der Erzähler geht ihn nicht. Das Zimmer des Mannes ist tapeziert mit Bildnissen berühmter Männer. "Kein Stükchen auch nur handgroß" frei. Matratzen- und Rollleiterkonstruktionen zur Besichtigung der Männer, die nur eines sein müssen, warum auch immer, um hier zu hängen: berühmt. Ein Unzusammenhang der Häufung. Eine Ordnung ist das nicht. Auch sonst stehen im Zimmer Dinge herum: Flügel, Geigen, Flöte, Staffelei. Im Nebenzimmer dichtet er.

Wer hier lebt, ist der "Rentherr", er ist ein Mann von vierzig Jahren. Er hat eine Frau, sie ist dreißig, und eine Tochter, sie ist ganz klein. Im Zimmer der Frau und des Kindes hängt ein großes Bild, ein einziges, es zeigt die Frau und das Kind. Es gibt, in dieser Geschichte, auch einen anderen Mann. Es ist der Schauspieler Dall. Er hat einen Namen und er ist eine berühmte Persönlichkeit. (Hier wäre ein Zusammenhang herzustellen, zu den Wänden des Rentherrn. Wäre Dall Ausgeburt dieser Obsession? Aber wäre das nicht eher E.T.A. Hoffmann?) Er ist ein Schauspieler, der sich an seine Rollen verliert, die so keine sind. In seinem Spiel wird das Theater zur Wirklichkeit. (Eine andere Spielart des Wahnsinns.) Er kommt zu sich auf der Bühne und in Gesellschaft, er ist ein Chamäleon, aber was sich ändert – und so gleich bleibt – ist immer er selbst. Er ist das Selbst vieler Selbste. "Er lebte daher in Zuständen, und verließ sie, wie es ihm beliebte." Er ist ein Freund des Rentherrn – das lebende Gegenstück zur Berühmtheitstapete – und der Rentherr baut ihm einen Rollsessel, der vorhin noch nicht im Zimmer stand, und mit ihm hat die Frau des Rentherrn eine Affäre, die sie gesteht. Dall verschwindet, die Frau verschwindet. Dall kehrt wieder, die Frau nicht. Der Rentherr verschwindet, nach Jahren wird die Wohnung geräumt, das Inventar versteigert. Das Vergessen setzt ein und setzt sich durch. In der Großstadt ist alles im Wandel. Die Erzählung macht einen Strich

---------------------

Eine Frau, die den Künstler kannte, wird eingeführt. Aus ihrem Mund folgt das Weitere. Sie lebt mit ihrem Mann in der Vorstadt. Das Haus selbst ist in Zwischenlage: vorne die Hauptstraße, hinten Garten und Wald. Eine Erscheinung: Ein alter Mann und eine junge Frau mit viel zu großem Kopf. Etwas ist aus der Balance. Später, eine Erscheinung: Auf dem Weg von der Stadt in die Vorstadt Flötenspiel, unzusammenhängend, oder: verrückt zusammenhängend. "Was am meisten reizte, war, daß, wenn er einen Gang angenommen, und das Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas anderes kam, als was man erwartete, und das Recht hatte, zu erwarten, so daß man stets von vorne anfangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine Verwirrung gerieht, die man beinahe irrsinnig hätte nennen können." Hier fällt das Wort vom "Unzusammenhang". Etwas geht in die Irre. Die Musik ist nur Mise-en-abyme einer dunklen Geschichte, die andere Gänge geht, als man erwarten darf.

Stifter gibt dem Irrsinn aber einen Ort. Der Irrsinn breitet sich nicht aus, er hat seinen Sitz in einer unterirdischen Wohnung im Perronschen Haus. (Das gibt es heute nicht mehr: unterirdische Wohnungen; das gibt es heute nicht mehr: das Perronsche Haus. "Turmalin" ist – das sagt schon der zweite Satz – eine "vergangene Geschichte".) Eine Begegnung: Die Erzählerin übergibt dem alten Mann, der jetzt der "Pförtner" ist – oder heißt: er erfüllt so wenig Pförtneraufgaben wie er als Rentherr Rente bekam -, ein Buch an einen Professor, der nicht weiß, dass es im Perronschen Haus einen Pförtner gibt. Wieder vergeht Zeit – bis ein weiteres "Merkmal" geschieht. Aus dem Vergangenen ragen Häuser im Abbruch und Merkmale im Vergessen. Ein Rabe taucht auf, der sich als Dohle erweist. Der Mann fällt von der Leiter und quetscht sich tödlich das Genick. Übrig bleibt, als Rest der Geschichte, als Aus- und Abfall der Erzählung das Mädchen mit dem großen Kopf. Es ist noch einmal Verkörperung des Unzusammenhangs. "Das Mädchen antwortete mir zu meinem Erstaunen in der reinsten Schriftsprache, aber was es sagte, war kaum zu verstehen. Die Gedanken waren so seltsam, so von Allem, was sich immer und täglich in unserem Umgang ausspricht, verschieden, daß man das Ganze für blödsinnig hätte halten können, wenn es nicht zum Theile wieder sehr verständig gewesen wäre." Es wird so viel gegangen im "Turmalin". Der Gang führt zur Wohnung. Der Gang des Flötenspiels führt in die Irre. Der "tägliche Umgang" ist anders. In den täglichen Umgang wird es, im Hin und Her zwischen der Wohnung des Irrsinns und der Wohnung der Kulturation in der Vorstadt, eingeführt. (Noch einmal: Das Haus zeigt nach vorne in die Stadt und nach hinten in die Natur, es ist ein Schwellenhaus.) Das Mädchen muss über die Schwelle, es muss in den zusammenhang. Der Kopf muss kleiner werden. Es muss die weibliche Hausarbeit lernen. Komplikation: Seine Natur ist Un-Natur. Es kann Literatur auswendig, es kann schöne Worte, aber es versteht sie nicht. Es spricht höchste Kultur wie tiefste Natur. (Es hat Umgang nur mit der Dohle. Sie verstehen einander.) Die Schriften des Mädchens tauchen auf, ihre "Ausarbeitungen": "Ich würde sie Dichtungen nennen, wenn Gedanken in ihnen gewesen wären, oder wenn man Grund Ursprung und Verlauf des Ausgesprochenen hätte enträthseln können. Von einem Verständnisse, was Tod was Umirren in der Welt und sich aus Verzweiflung das Leben nehmen heiße, war keine Spur vorhanden, und doch war dieses alles der trübselige Inhalt der Ausarbeitungen. Der Ausdruk war klar und bündig, der Sazbau richtig und gut, und die Worte, obwohl sinnlos waren erhaben." Das Mädchen spricht, nein: plappert, vollendet im Audruck die Sprache des Vaters, ohne sich Sinn und Schicksal aneignen zu können. Das Mädchen spricht schwärmerisch aus, was es nicht versteht. Es ist der reine Unzusammenhang von Sinn und Wort. (Aber im Riesenkopf zeigt sich das an. Er ist voll, aber voll Unverstand.) Der Kopf – der Arzt sagt, es sei "durch Wahnsinn des Vaters dieses Wuchern hervorgerufen" – wird durch Jodbäder "etwas kleiner und gebildeter". Durch weibliche Hausarbeit, gute Lektüre, "hauptsächlich aber durch Umgang" geschieht Einarbeitung des Mädchens in Kultur, gelingt es, "jene wilde und zerrissene ja fast unheimliche Unterweisung in einfache übereinstimmende und verstandene Gedanken umzuwandeln, und ein Verstehen der Dinge anzubahnen." So weit so gut. Der Rest ist Vergangenheit als vollständiges Vergehen des Geschehenen: "Der große Künstler ist längst todt, der Profeßor Andorf ist todt, die Frau wohnt schon lange nicht mehr in derVorstadt, das Perronsche Haus steht nicht mehr (...), und das junge Geschlecht weiß nicht, was dort gestanden war, und was sich dort zugetragen hatte." Hier macht die Erzählung wieder einen Strich. Den Schlussstrich

---------------------

Sunday, November 05, 2006

Adalbert Stifter: Brigitta

Schauplatz ist Ungarn und dort erst einmal die Steppe. Aber was ist zu sehen: "feierliche Öde", der reine Horizont als "der feine Ring, in dem sich Himmel und Erde küßten". Links die Karpaten, rechts die Steppe, dazwischen Nichts. Ein Ort fürs Leben, ein Ort fürs Schließen eines Bundes, ein Ort fürs Verweilen des Erzählers, fürs Erzählen also ist das nicht. "Das Auge begann zu erliegen" vom vielen Nichts. Hinein in diese Steppe gehört, als einer der auch "Männer bethörte", auf Frauen aber "wahrhaft sinnverwirrend" wirkte, ein Major. Und vor die Steppe, als Überlegung ins Allgemeine hinein, gehört "ein unermeßlicher Abgrund, in dem Gott und die Geister wandeln". Es ist der Abgrund der Unlesbarkeit, das gewisse Etwas der Ununterscheidbarkeit von "schön" und "hässlich". Das Herz fühlt, wir aber wissen nicht warum. So steht der Text "Brigitta", der mit "1. Steppenwanderung" beginnt, im Zeichen der Desorientierung. Es muss, wie stets noch bei Stifter, eine Ordnung hergestellt werden, durchs Erzählen.

Erzählordnung: "Ehe ich entwickle, wie wir nach Marosheli geritten sind, wie ich Brigitta kennengelernt habe, und wie ich noch recht oft auf ihrem Gute gewesen bin, ist es nöthig, daß ich einen Theil ihres früheren Lebens erzähle, ohne den das Folgende nicht verständlich wäre. Wie ich zu so tief gehender Kenntniß der Zustände, die hier geschildert werden, gelangen konnte, wird sich aus meinen Verhältnissen zu dem Major und zu Brigitta ergeben, und am Ende dieser Geschichte von selbst klar werden, ohne daß ich nöthig hätte, vor der Zeit zu enthüllen, was ich auch nicht vor der Zeit, sondern durch die natürliche Entwicklung der Dinge erfuhr." Dass einer, der Erzähler, nicht verrät, was er weiß, verrät er uns und gräbt sich ein in die Steppe und blickt zurück, auf dass "vor der Zeit" sich nichts offenbare. Im Kleinen hatten wir das schon unter Punkt 1, denn da begegnet er, auf dem Weg zum "Steppenhaus", einer Frau, von der wir wohl ahnen, aber noch nicht mit Gewissheit sagen dürfen: sie ist die Titelheldin "Brigitta". Sie verbirgt sich noch, sie trägt Kleider und reitet "wie ein Mann". (Ein bisschen seltsam ist uns hier schon zumute: Eine Frau als Mann, ein Mann, der Männer betört? Eine Geschichte, die wie ein Pferd von hinten aufgezäumt wird.) Unter Punkt "3. Steppenvergangenheit" gibt sich der Erzähler dumm. Die Pointe der Erzählung bleibt aufgeschoben bis wir zu Punkt "4. Steppengegenwart" gelangen. (Erzählgegenwart ist immer, aber in der schaltet und waltet selbstherrlich der Erzähler mit "vor der Zeit" und "natürlicher Entwicklung".) Freilich liegt ja Punkt "2. Steppenhaus" noch mittenmang. Darauf ist zurückzukommen.

In der Steppe nämlich das Haus. Schloß und Garten des Majors. Ein großer landwirtschaftlicher Betrieb. Ja, eine große landwirtschaftliche Betriebsorganisation. Vier Musterhöfe. Ein Bund. Alles in Nachahmung einer Vorreiterin. (Die wie ein Mann zu Pferde sitzt. Später erweist sie sich als eine, die sich früher Kleid und Kopfputz selber machte.) Brigitta. Ihr Anwesen: "und in der That, ich bekam immer mehr Ursache, mich zu verwundern. Wie wir höher kamen, öffnete sich zusehends das Thal hinter uns, ein ganzer ungeheurer Gartenwald lief von dem Schlosse in die Berge hinein, die hinter ihm begannen." Der Gartenwald wiederholt sich, auf dem Nachahmerschloss des Majors, der "Männer bethörte". Dazwischen aber liegt die "Wüste", ein "Steinfeld" und der Erzähler wähnt sich auf dem Weg, auf dem er kam: "sinnverwirrend". Das Gut Brigittas aber ist wie "eine Fabel" in der Wüste. Eine Fata Morgana, darinnen die androgyne Fee Brigitta. Von einem Gitter ist nicht die Rede. Die Weinberge gehen über in die Steinwüste, wie unvermerkt. Anders das Nachahmerschloss – eine Mauer, ein Gitter, ein Abschluss. Dazwischen liegt der Galgen als Ort des Außen. Hier bricht das Wilde aus, das Verdrängte, was auch immer. Die Wölfe jedenfalls, buchstäblich, hier tauchen sie auf wie aus dem Nichts. Wofür stehen die Wölfe? Die Leidenschaft, die Todesnähe, whatever. Wir sind in Ungarn und die Wildniß ist nie fern, auch wenn eine/r "auf dem Steinfelde fast Wunder" wirkt. Der Abgrund bleibt und droht und aus dem Abgrund, in dem "Gott und die Geister wandeln", brechen die Wölfe.

Aber similia similibus curantur. Die leidenschaftliche Liebe, zur Freundschaft künstlich gehegt, findet zur gehegten Leidenschaft der Ehe (zurück) am Einbruch von Ereignissen. Die Todeskrankheit Brigittas war nicht genug. Die Lebensgefahr des Sohnes Gustav aber reicht hin. Brigitta und der Major, der sich aber als ihr Ehemann und als Träger des Namens Stephan Murai erwiesen haben wird – nun eilen wir aber vor und zurück zugleich zu Punkt "3. Steppenvergangenheit" –, finden zueinander in die Hegnis der Verbindung, die sie aus eigener Schuld einst wenn nicht lösten, so doch ins Weiter einer scheinbaren Verbindungslosigkeit dehnten. Es handelt sich um eine Art Tragikomödie der Wiederverheiratung, an Eduard und Charlotte darf man denken – aber hier geht alles gut aus. Die Ottilie, die hier im Spiel war, als Schönheit und Wildheit (gegen Augenglut und Hässlichkeit Brigittas) wird nämlich, als Siegel und Ende dieser Geschichte, lässig entsorgt: "Ich sah auf dem Rückwege Gabrielens Grabmal, die schon vor zwölf Jahren im Gipfel ihrer jugendlichen Schönheit gestorben war." Kurz gesagt: "Die Welt stand wieder offen."

Und Punkt "3. Steppenvergangenheit" lässt sich vielleicht wie folgt zusammenfassen: "Es ging die Zeit mit rosenfarbnen Flügeln, und in ihr das Geschick mit seinen dunklen Schwingen." Der Rest ist Buchstäblichkeit.

Sunday, October 29, 2006

Adalbert Stifter: Der späte Pfenning

Ersatz und Erstattung einer Erzählung durch eine Erstattungsparabel. Weil die Frau erkrankt, kommt der Autor nicht zum Erzählen und verfasst darum die Parabel von einem, der nichts als ein letztes Scherflein zum großen Werk beitragen kann, weil zuhause die Frau krank liegt. Aber die Erstattungsparabel geht ins Maßlose. Und mit der Fußnoten-Legende erstattet sie doch Bericht vom Selbstbild des Autors. Alles beginnt, in der Parabel, mit der Rodung, dem großen Werk der Kultivierung der Welt, der Errichtung des Hauses als Gotteshaus. Ein armer Mann in den Bergen kommt spät und hat wenig. Für eine Scheibe im Gotteshaus reicht es. Das alles nur Vorgeschichte. Die Zeit kommt wie das Feuer als Prüfung. Ein neues Werk, ein "Werk der Gedanken", der Wiedererrichtung des Gotteshauses. In der Verschreibung von Gedenken zu Gedanken ist die Textualität der Parabel angespielt. Das wiederholt sich, wenn von der Krankheit der Frau die Rede ist, denn ihr krankes "Antlitz verzehrte alle seine Gedanken". Es bleibt nur dies "Blatt" als Erstattung des Ausfalls, als Ersatz, der parabolisch für den Wiedereinsatz des Glases ins Gotteshaus steht. Ohne dies "Wieder" des Hineinschreibens in die Legende scheint es nicht zu gehen: dies der mythisierende Zug bei Stifter.

Adalbert Stifter: Granit

Spur und Stein und Zeichen. Alles spricht und ist lesbar. Oder: Alles wird lesbar gemacht im Erzählen. Von Stein zu Stein schließt sich der Kreis. Den Horizont gibt – als Horizont der Steine – das Unvordenkliche, das Außen der Zeit. Darein aber mit der Stimme des Großvaters der Eintrag der historischen Zeit als ein Sprechenmachen der Dinge. Oder ein Herauferzählen. Dinge werden Zeichen. Herstellung von Lesbarkeit. Und alles beginnt mit einer seltsam verschmierten Spurensetzung und Fehllektüre. Das Pech an den Füßen des Ich-Erzählers (der selbst, vom Stein an, seine Kindheit herauferzählt), die Spuren auf dem frisch geputzten Boden. Die Mutter liest sie falsch als Zeichen bösen Willens. Und als sich das klärt, fallen Steine vom Herzen.

Zeigen – Merken. Einführung in eine symbolische Ordnung der nächsten Nähe. Alles hat einen Namen und bekommt eine Bedeutung. Die Natur, die bleibt. Namen wie Steine. Und die Rauchsäulen als "shifter", die anzeigen, dass sich das, worauf sie verweisen, bewegt: "Darum haben auch die Rauchsäulen keine bleibende Stelle, und heute siehest du sie hier und ein anderes Mal an einem anderen Plaze." Die Ordnung der Dinge in der Natur als Lebenswelt: "Das ist das Leben der Wälder." Dieses Mal installiert und präpariert der Großvater als Erzähler den Ort als Schauplatz eines Geschehens, das darin eingetragen wird. Figuration der Erzählstimme – und Bewegung des Erzählens. Der Blick, der hier schweift und in der Erzählung Natur und Geschehen verknüpft, Wald und Natur der Lebenswelt in eine historische Sinnwelt transformiert, ist verkörperter Blick. Blick und Stimme machen das Tote lebendig und machen es sprechen von vergangener Zeit. Allerdings erzählt die Geschichte, die aus der Natur herausgelöst und herauferzählt wird, von Pest und Tod.

Die Erzählung selbst – als Erzählung der Herstellung von Lesbarkeit, als Verlebendigung der Dinge zu Zeichen, als Sprechenmachen der Welt – produziert selbst eine Übergängigkeit von Erzählwelt und erzählter Welt. Die Glocken tönen hier und da: "In dem Augenblike gleichsam wie durch die Worte hervor gerufen tönte hell klar und rein mit ihren deutlichen tiefen Tönen die große Gloke von dem Thurme zu Oberplan. (...). 'siehst du, Kind, diese Zunge sagt uns beinahe mit vernehmlichen Worten, wie gut und wie glüklich und wie befriedigt wieder alles in dieser Gegend ist.'" Die Ideologie des Ästhetischen als Allegorie der Verlebendigung. Das Tönen spricht mit Glockenzungen. Worte rufen Töne hervor, die wie Worte klingen. Die Ereignisangst des späteren Stifter. Das Geschehene, im Erzählen heraufgerufen, wird im Erzählen sogleich wieder gebannt. Die Zunge des Großvaters, die alles bedeutend macht, bannt die Bedeutung, indem sie noch die Glocke zur Zunge erklärt. Die Erzählung kommt dabei zu Hilfe und macht im "hell klar und rein" und "deutlich" die Transparenz von Sinn und Zeichen augenfällig. Dabei ist hier, an dieser frühen Stelle, mitten in der Erzählung von Tod und Pest, diese Befriedigung eine Vorbeugemaßnahme.

Und die Verunsicherung folgt sofort. Nichts ist je sicher, das Helle, Klare, Reine muss stets aufs Neue behauptet, die Transparenz des Bedeutens immerzu hergestellt werden. Bannung ist ständiger Auftrag. Der Glockenschlag als Zeichen im Verfall: "Einstens wurde dieses Zeichen sehr beachtet." Heute nicht mehr. Zur Verfallsgeschichte des Zeichens sogleich eine Mahngeschichte vom Oheim Simon, der im Sterben die Glocken noch einmal hören wollte. Allein sie schwiegen – geht die Erzählung. Und sogleich schweigen sie auch im Rahmen, der die Erzählung ist. Und die jetzt weiter geht. Aber mit Mühe, denn die Sohlen der Stiefel sind abgeschliffen. Das Verschleifen von Schritt und Tritt ist fatal: "auf diesem Grase muß man den Tritt gleich hinstellen, daß er gilt". Und: "Siehst du, alles muß man lernen, selbst das Gehen." Dies ist kein romantischer Text. Die Natur spricht nicht. Sie wird sprechen gemacht. Unaufhörliche Produktion von Lesbarkeit. Unaufhörliche Bannung des Erzählten im Erzählen. Und alles wird Merkzeichen – sei es als Zeichen, das ans Zeichenzeigen erinnert: "Merke dir den Baum, und denke in späten Jahren, wenn ich längst im Grabe liege, daß es dein Großvater gewesen ist, der ihn dir zuerst gezeigt hat." Das Zeigen als Machen von Zeichen ist das eigentliche Ereignis: als Verankerung eines gemachten Bedeutens. Der Großvater hat bei seiner Memorialinstallation an alles gedacht.

Damit ist alles gerichtet. Nun kann erzählt werden. Es ist, im Erzählen, auch Raum für den Intertext: Die Burg und der See verweisen – ohne dass der Großvater es aussprechen kann – auf Stifters "Hochwald". Aber im Hereinerzählen des Intertexts, der hier seine nachträgliche Stiftungserzählung erhält, wird noch das eigene Erzählen (Stifters) im Bedeutungs- und Zeichenmachen des Großvaters verankert. Zeigen – Merken – Andenken: So hat das Erzählen seine Ordnung. Und erzählt von Unordnung und Vergeblichkeit: "Es hat aber alles nichts geholfen." Das ausgemachte Rauchsäulen-Zeichen geht ins Leere und rettet niemanden. Auf die Zeichen ist – davon erzählt die Geschichte, die die Merkzeichen verlebendigt, die die Dinge zu Zeichen erst macht – auf die Zeichen ist kein Verlass. Wie Adam und Eva müssen die Kinder noch einmal beginnen, von vorne, im Wald. Der Rest ist dann schnell erzählt. Trennung, Wiederbegegnung, Übernahme des Schlosses. Übergang ins Märchen. "Siehst du, da bekam er ein Schloß, er bekam Felder, Wiesen, Wälder, Wirthschaften und Gesinde, und wie er schon in der Jugend verständig und aufmerksam gewesen war, so vermehrte und verbesserte er alles..." Das ist die schale Nutzanweisung: "verständig und aufmerksam". Es folgt der Halbschlaf, die Bespritzung mit Weihwasser. Es folgt der Traum, als Alptraum, der in den Frieden hinübergleitet.

Und es geht das Ende dann doch ins Leere. Das letzte Wort hat die Notiz vom Ausfall der Initialerinnerung. Wie wurden die Spuren des Pechs getilgt? Die Spur des Merkens verliert sich im fortgesetzten Vergessen, ja das Erinnern ist errichtet über dieser Krypta der ersten Spur: "Wie es aber auch seltsame Dinge in der Welt gibt, die ganze Geschichte des Großvaters weiß ich, ja duch lange Jahre, wenn man von schönen Mädchen redete, fielen mir immer die feinen Haare des Waldmädchens ein: aber von den Pechspuren, die alles einleiteten, weiß ich nichts mehr, ob sie durch Waschen oder durch Abhobeln weggegangen sind, und oft, wenn ich eine Heimreise beabsichtige, nahm ich mir vor die Mutter zu fragen, aber auch das vergaß ich jedes Mal wieder."

Wednesday, October 25, 2006

Adalbert Stifter: Der Waldgänger

Mit einer autobi/bli/ografischen Selbstauskunft beginnt die Erzählung. An einem "Scheidepunkte" steht der "Verfasser dieser Zeilen" und blickt aus herrliche Gebirge zum einen, auf die "einfacheren unbedeutenden Gegenden" zum anderen. Das Grenzenlose hat er hinter sich, die Liebe auch und die Zukunft. Er blickt zurück auf das – nämlich die "unbedeutenderen Theile" –, was vergangen ist, wieder und wieder kehren das "Scheiden" und die "Theile" und der "Scheidepunkt" und die "Scheidelinie" gehen über in die "Schneidelinie". Scheiden und Schneiden, darauf wird es hinauslaufen beim "Umschwung der Dinge", von dem meta-poetisch "Der Waldgänger" erzählt. Mit dem "Waldgänger" unterwirft sich das Werk der "sanften Gewalt" des sanften Gesetzes, Stifter ist auf dem Weg zum Vorwort der "Bunten Steine", ja, beinahe ist er, auf dem Weg in den Wald, schon da. Man lese: "Wie war seit jenen Jahren alles anders geworden! Jedes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft des Wanderers vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten, jedes Gewöhnliche, was er von seiner Seele und seinem Leben ferne halten wollte, war gekommen – an jenem Morgen, wo er (...) geschieden war, und wo er dann von der Scheidelinie in das Land zurück schaute". Mit dem Scheiden teilt sich der Blick und wendet sich die Richtung. Von nun an blickt das Erzählen zurück, auf das Unscheinbare, das Bedeutungslose.

Erzählen ist Erinnern als Aufgabe der Gegenwart; aufgegeben aber, als Enttäuschung und Entsagung, ist die Zukunft. Und was ist beim Blick zurück zu sehen, in der Re-Situierung des Erzählens: "Tief zurück im Reiche der Erinnerungen steht ein alter Mann", an dem nur eines bemerkenswert ist, nämlich seine "Unscheinbarkeit", seine "einförmige, harmlose Gestalt". Dies ist der "Waldgänger", dessen unendlich traurige Geschichte erzählt wird. Aber nicht sofort. Denn lange befasst sich der Erzähler mit dem Ende des Lebens. Mit der topografischen Situierung dieses Lebens in der "kahlen", "kleinen", "zersplitterten" Gegend, in die der Böhmerwald ausläuft. Niedrig und grau sind die Häuschen. Ausführlich beschrieben wird die "Leuchte", das Herd- und Abendfeuer, das "Traulichkeiten" und "Gehäbigkeiten" künstlich produziert. Von einer "Teufelsmauer" ist die Rede, die zu vollenden, Steine auf Steine häufend, aber "zu viele kleine Steine" nehmend, dem Teufel nicht gelang. In dieser Gegend und diesen Geschichten "verweilt mit Worten" der Erzähler und findet erinnernd den Waldgänger als "einen der da ist". Als einen, der da ist und da geht – in den Wald -, einen, der Schmetterlinge sammelt, auf denen der Erzähler nun auch, fein differenzierend, lange mit Worten verweilt. Das Verweilen ist wichtig und typisch für die Bewohner des Landes ist es auch, denn die "haften" an "ihren einmal angenommenen Dingen". So auch der Erzähler, der allerdings den Fremden und das Fremde erlebt als etwas, das "Mißtrauen" bringt gegen "die Sprache, die wir redeten". Die Fremde, das Fremde erscheint so als etwas, das ins Haften des Eigenen, in die Beharrungskraft von Wort und Namen, latent immer eingetragen ist. Dem Waldgänger gesellt sich der Sohn eines "Hegers". Diesen hegt nun der Waldgänger als angenommener "Vater" und bringt ihm das Lesen und Schreiben bei. Er befreit ihn aus der Befangenheit und Gefangenheit im Eigenen, einer Fixierung auf "Hohenfurt" (immerzu baut der Junge ein "Hohenfurt", das er nicht kennt), aber mit dieser Befreiung gibt der Waldgänger den angenommenen "Sohn" auch frei an eine Zukunft, zu der er nicht mehr gehört. Zum Weggang, der bevorsteht, und der Wiederholung eines ewigen Weggehens des Jungen vom Alten, gibt es im Wald eine Kontrafaktur. Adam, der Abdecker, lebt mit Kind und Kindeskindern verwurzelt am Ort, von dem keiner der Seinen je schied. Dies aber ist, als aus dem Leben der Gesellschaft zweischneidig Ausgeschiedenen, nur den Abdeckern als mögliches Schicksal beschieden.

Das "Gesetz der Natur", wie der Waldgänger (und der "Waldgänger") es beschreibt, sieht anders aus und wird im Bild von der Pflanze erläutert: "Die Liebe geht nur vorwärts, nicht zurück. Das siehst du ja schon an den Gewächsen: der neue Trieb strebt immer von dem alten weg in die Höhe, nie zurück; der alte bleibt hinten, wächst nicht mehr und verdorrt. Und wenn auch die Zweige bei einigen zurück zu gehen scheinen und nach abwärts streben, so ist es nur, daß sie die Erde berühren, um einen neuen Stamm zu gründen, der den Platz verlassend sogleich wie ein Pfeil in die Höhe schießt." Diesem Gesetz folgt der Sohn des Hegers, den Georg als Sohn angenommen hat, um ihm die Zukunft zu öffnen. Mit seinem Verschwinden verliert sich auch die Spur des Waldgängers, zurück bleiben nur "die sehr schwer mit Nägeln beschlagenen Schuhe", die nun – in Wald und Geschichte – keine Spur mehr hinterlassen werden. Und damit endet der erste Teil, "Am Waldhange", der die Vorgeschichte des Waldgängers als Nachgeschichte präfiguriert. Diese präfigurative Verstrickung, könnte man sagen, ist das Gesetz, dass das Erzählen sich hier gibt, als Fügung ins als vergangen Folgende und Resignation.

Ob die Vorgeschichte als "eigentliche" Geschichte dieselbe Lektion erteilt, ist die Frage. Ein "ganzes Menschenalter" früher, am anderen, waldlosen Ort setzt das Erzählen im zweiten Kapitel, "Am Waldhange", nun ein. Aber "abgeschieden" auch diese Gegend, voller "Streifen" und "Linien", ein "Punkt", ein "Strich", das alles "abgetrennt" vom Rest der Welt. Beschrieben werden die Eltern des späteren Waldgängers, werden Haus und Garten, wird die Produktion der "Reinlichkeit" im Haus, wo "jedes rein glatt und scharf" ist, der Ordnung halber. Der Sohn geht in die Stadt, an die Universität, bleibt Einzelgänger. Die Eltern sterben, er gibt das Brotstudium auf, widmet sich seinen Interessen ("Mathematik, Naturwissenschaft, mechanische Wissenschaften und Baukunst"). Umgang mit Menschen hat er kaum, er bleibt fremd unter Fremden, wird und bleibt etwas "Wildes" und wendet sich zur Natur, "gleichsam zu Dingen, die schon an und für sich da sind, die ihm nichts wollen". Er geht in die Natur, in den Wald, er ist dreißig, als er ein Mädchen kennenlernt. Ein weiterer erzählerischer Rückgriff auf die Geschichte der Eltern des Mädchens. Eine Erzählung von Hybris und Verfehlung, der Entfaltung falscher Pracht und tiefen Unglücks der Mutter. Eine Verfehlung, könnte man vielleicht sagen, der Dinge, wie sie sind, ein Überhäufen und Übermaß. Die Mutter stirbt, der Vater geht bankrott, das Leben Elisabeth Eleonore Coronas beginnt bei der Großmutter von vorne. Unter anderen Menschen ist sie, wie Georg, "ein seltsamer und fremder Gegenstand". Corona begibt sich in die Dienste einer Gräfin, für die Georg einen Bau entwirft. Die Fremde und der Fremde finden einander. "Da er nun sah, daß sie so allein sei, wuchs sie immer mehr in sein Wesen, daß er sie durch die dunklen Bäume des Gartens mit sich zu seinem Baue trug."

Wie figurativ, so dann literal. Die beiden treten in ein "neues Verhältnis", schließen eine "Verbindung". Erst ziehen sie in ein Häuschen zu einer Witwe. Corona bestellt das Haus und macht es zum "Tempel der Reinlichkeit". Die Kinder aber bleiben aus. Georg erbaut ein weißes Haus am Waldhang, und einen Garten. Dieser "sollte bis zu dem Walde zurückgehen, in den er sich unkenntlich verliere." Bau und Natur finden zueinander, "bis sich die Roheit und Neuheit verwischte", auch der Garten "begann ebenfalls aus seinem Urzustande herauszutreten". Man zivilisiert sich und das Wilde und bleibt der Mitwelt doch fremd. Auch die Kinder bleiben weiterhin aus als der Wunsch, der allem die "Krone augesezt hätte". Seltsamer Auftritt eines Kindes, das Klavier spielt und die Musik, die es spielt, versteht: "es lag hier ein Stück Reinheit und Schönheit menschlicher Seele gleichsam nackt und willkürlich da". Dies Auftreten wird Anlass. Corona, die das Haus "unbedingt rein und klar" hält, die "reinigte" und "hegte", setzt der Ehe der Krone auf, indem sie entsagt. Sie will, auf dass die Kinder in neuer "Verbindung" kommen, die Scheidung und beschreibt die Ehe als "mißgeschlungenes Band". Es wird nicht sogleich entschieden. Sie gehen in den Garten. Zeit geht dahin und Zeit geht dahin. Das "Ergebniß der Zeit": Die Scheidung. "Beide konnten jetzt dem Plane gemäß frisch und frei an den Bau des noch übrigen, künftigen Lebens gehen, als wäre es ein anfangsfähiges ursprüngliches gerade aus der ersten Hand des Schicksals gegebenes."

Drittes Kapitel, "Am Waldrande". Die Verfehltheit der Entscheidung zeigt sich im Mißverhältnis der so beschriebenen Lage. Dieser neue Anfang, obgleich Georg noch einmal heiratet und tatsächlich zwei Kinder zeugt, ist ein falscher Schein. Er steht im Widerspruch zum Gesetz der Natur. Die Kinder ziehen davon und lassen den Vater zurück. Er wird, am ähnlichen Ort, zu dem es ihn zieht und zu dem es sie zog, Corona wieder begegnen, die entsagt hat. Sie sprechen miteinander, sie trennen sich wieder, "und der acht und fünfzigjährige Mann weinte die ganze Nacht." Die Einsicht in die eigene Verfehlung macht ihn zum Waldgänger, der sein eigenes Leben überlebt hat. Der sich nur in der Wiedreholung wird eingerichtet haben können. Er schickt seinen angenommenen Sohn ein weiteres Mal davon. Es bleibt keine Spur im Erzählen. So wenig von ihm wie von Corona. Die Entsagung war ein Versagen. Das Scheiden als falsche Entscheidung ist der Geschichte von Anfang an eingeschrieben; aber der Verdacht drängt sich auf, noch das Vergehen ist Erfüllung des Scheide-Gesetzes der Natur.