An Autumn Afternoon (Samma No Aji; 1962)
Nachleben, After Life, Ozus letzter Film. Drei ältere Männer, Freunde,
ihr früherer Lehrer, sie trinken und trinken. Im Film über Ozu
berichtet die Witwe Kogo Nodas, des Drehbuchautors, von der Zusammenarbeit
der beiden: Sie standen auf und tranken Sake. Sie gingen spazieren, sie
arbeiteten eine Stunde am Buch. Dann aßen sie, dann tranken sie, dann
waren sie erheiterter Stimmung und saßen zusammen von acht bis zwölf
und schrieben. So ähnlich ist dieser Film. Mit spielerischer Leichtigkeit
ziehen die vertrauten Motive vorbei, der Witwer, gespielt von Chishu Ryu,
wem sonst, der seine Tochter zu verheiraten sucht, obwohl er es nicht will.
Der Mann, den sie möchte, der aber vergeben ist, also nimmt sie den,
den man ihr vorschlägt, aus guter Familie. Gesellige Runden, man scherzt
und trinkt und ist sentimental. Der Abschied von den Kindern als erster Tod,
danach ist alles Melancholie, Nachleben, gelöste, niemals dramatische
Einsamkeit.
Tiefe, gelassene Heiterkeit. Beschwingte Musik, unvergesslich die Szene,
in der Chishu Ryu seinen einstigen Untergebenen trifft, es wird der alte
Marsch gespielt vom Stolz der japanischen Armee, der Mann salutiert und
marschiert, man hat eine Menge getrunken, durch die winzige Bar. Und Chishu
Ryu erzählt zuhause, dass die Bardame aussieht wie seine Frau, die gestorben
ist. Das ist wohl Unsinn, aber er hätte es gerne. Die Zeit ist nicht
stehengeblieben, Fernseher, Bügeleisen, Kühlschränke, der
Golf-Abschlagsplatz auf dem Dach des Hauses. Und jedes Bild zeugt von einer
Meisterschaft, die nichts zu beweisen hat. Es gehen einem die Augen über,
so unspektakulär ist das. Die Gassen, die Bars, die Häuser. Die
Farben, die Musik und Sake. Der Übermut, die Albernheit alter Männer,
die zusammensitzen und trinken und sich gegenseitig aufziehen. Chishu Ryu
und Yasujiro Ozu. Im Zimmer nebenan, das ist gewiss, sitzt Setsuko Hara und
lächelt, wie sie immer lächelt. "Der vollkommenste aller vollkommenen
Ozu-Filme." (Harry Tomicek) "Das Ende einer Ozu-Retrospektive ist immer ein
persönlicher Verlust." (Fritz Göttler)
End of Summer (Kohayagawa-ke no Aki; 1961)
Im Hintergrund die Zuggeräusche, zweimal, Symbol oder nicht von Krankheit
und Tod des Vaters. An der Wand die riesigen Fässer der Sake-Brauerei.
Die Melonen, die, halb aufgegessen, auf dem Tisch liegen bleiben. Die Tochter
(falls sie das ist), die sich bekreuzigt vor der Leiche und dann abzieht
mit dem blonden Amerikaner. Die Wälder von Kioto, das Grün der
Leinwand mit ein wenig Himmel darüber. Das Lächeln von Setsuko
Hara, immer wieder. Die Prozession am Ende über den Fluss, begleitet
von Krähen und düsterer Musik. Der Rauch aus dem Schornstein. Das
Versteckspiel des Großvaters, nicht mit dem Enkel, sondern mit der
Tochter, die Kamera schelmisch ganz auf seiner Seite. Chishu Ryu als Bauer
am Fluss: Wie wunderbar ist das Leben eingerichtet. Die Alten sterben, werden
durch die Jungen ersetzt. Blicke in Labyrinthe, die Häuser in Gänge
und Wände verschachtelt, nahtlos fortgesetzt auf den schmalen Gassen
draußen, eine Welt für sich, montiert von Ozu ohne einen Schwenk,
nicht desorientierend, nicht orientierend, sondern entwerfend, Schritt für
Schritt. Ein Vogel in der Sonne in seinem Käfig, einmal nur zu sehen.
Und die Hitze, die unendliche Hitze: ständiges Gewedel von Fächern.
Schweiß wird von der Stirn gewischt. Gespräche zwischen Schwestern,
die sich nah sind und über Männer reden. 100 Yen zahlt Akiko, wenn
sie wieder einmal sagt, dass sie doch eine alte Frau ist. Der Mann, der um
sie wirbt mit der Ochsen-Obsession. Hier, auf der Tasche des Hemdes ein Ochse
und ob sie in der Galerie, in der sie arbeitet, ein Gemälde mit einem
Ochsen hat. Er reibt sich die Nase immer wieder: sie gefällt ihm. Im
selben Club in Osaka, später, als die Männer auf sie warten, als
sie nicht auftaucht: ein Paar, im Hintergrund, tanzend. Die Neonreklamen
von Osaka im Dunkeln: New Japan. Im Hinterland die Kimonos, das Ankleiden,
Umkleiden, hochhackige Schuhe und das Geklapper der Holzsandalen auf der
Straße. Die Schwestern am Fluss. Der Junge und der Großvater
beim Baseballspiel, du wirfst schlecht, schimpft er. Und der Tod. Kein Drama,
pietätlose Bemerkungen, er hätte beim letzten Mal schon sterben
sollen. Dann weint sie doch, er war ein Libertin, er hatte ein glückliches
Leben. Die Begegnungen mit der einstigen Geliebten, die er besucht, man
weiß gar nicht recht warum. Bestimmt ist es in Ordnung, dass er bei
ihr stirbt. Die Familie ist in Auflösung begriffen, die Firma wird verkauft
werden, ein letzter gemeinsamer Weg über die Brücke in Schwarz,
die Schwestern zuletzt, die Krähen, der Fluss.
Floating Weeds (Ukigusa; 1959)
Aus dem Fluss, in dem Vater und Sohn angeln, wird das Meer. Farbig wehen
die Fahnen der Darstellertruppe über dem Theater. Beschwingt die Musik,
zunächst jedenfalls, bei der Ankunft der Schauspieler. Aber dieselbe
Geschichte, ganz dieselbe, 26 Jahre später. Nicht derselbe Fluss, in
den man steigt, aber ein ähnlicher. Sie stehen sich wieder gegenüber,
unterm Vordach der niedrigen Häuser, der Theaterleiter und seine Geliebte,
dazwischen prasselt der Regen. Und auch das Ende: der fahrende Zug, der Abschied
als Aufbruch, Wiederholung nahe am Identischen.
Es zeigt sich aber, jetzt, beim zweiten Sehen mit Variationen, oder doch
erst in der neuen Version - wer könnte es sagen -, wie stark hier alles
am Theater hängt, als dem Treibsand, auf den es die Beziehungen der
Menschen baut, die als floating weeds durch Zeit und Raum treiben, unverankert,
richtungslos. Genau darin fällt diese Geschichte, die Ozu zweimal
erzählt, heraus aus dem Rest seines Oeuvres, als ihre Verschärfung
ins Grundsätzliche: es geht hier um Abschied in Permanenz; das Zuhause,
die Familie, das Ankommen sind nichts als ein flüchtiger Traum. Nach
geschlagenen zwölf Jahren kehrt der Vater zurück zur Mutter seines
Sohnes, zum Sohn, der jetzt erwachsen ist, der ihn als Onkel kennt. Und die
Truppe selbst, die Ersatzfamilie: auf der Suche nach amourösen Abenteuern
immerzu, drei Schauspieler sitzen am Strand, erinnern sich an dieselbe Frau
mit dem Muttermal - und müssen erkennen, dass ihre Liebe so singulär
je nicht war. Dann einer dieser Blicke ins Leere, sei es, wie hier, in den
Himmel, sei es auf Bäume und Natur, die für die Balance des Ozu-Films
so wichtig sind. Blicke, die nichts zu bedeuten haben und noch nicht einmal
ihr Nicht-Bedeuten bedeuten. Sie sind die Leere selbst, ein langer, ruhiger
Atemzug, Stoff und Form zugleich, Aussagesätze ohne Aussage, man landet
beim Versuch sie zu beschreiben dann doch bei den Paradoxien des Zen.
Anders als im ersten, stummen Film sind, im Remake, die Theaterszenen, in
denen sich nun auch, im Schicksal einer Räuberbande, das der fahrenden
Truppe spiegelt, es scheint, als habe an dieser Stelle und an anderen - etwa
im weitgehenden Verzicht auf die Ablenkungen ins Komische, für die im
ersten Film der kleine Junge sorgte - Ozu die fundamentale Melancholie, das
strukturell Unbehauste der Beziehungen herauspräparieren wollen. Es
will einem, daher vielleicht, der Umschlag stärker scheinen, vom
fröhlichen Beginn in die heftigen Affekte, zu denen sich die Geschichte
aufschaukelt bis zum im Spätwerk singulären Ausbruch der Gewalt,
der Mann, der die Geliebte demütigt, der Sohn, der den Vater schlägt
und verleugnet, zurückstößt. Die rätselhafte Figur,
die es fast stets gibt, ein Zentrum außerhalb des Zentrums der Geschichte,
ist hier - wie nicht selten - die Mutter, die duldet und schweigt, die Figur,
die der Konstellation Schwere gibt gerade dadurch, dass sie am Rand bleibt
und unerklärt, das Gegengewicht zu den floating weeds, ein Muster der
Bescheidenheit, unbegreiflich eigentlich; und gerade dadurch vielleicht die
Essenz der Ozu-Weltanschauung, wenn man danach denn suchen will.
Equinox Flower (Higanbana; 1958)
Der Ernst und Unernst der Konstellation hängt hier an einer beides
scheidenden Figur: dem Vater, der die Entscheidung zu treffen hat, ob seine
Tochter den Mann heiraten darf, den sie haben will, ohne ihn, den Vater,
um seinen Rat gefragt zu haben. Ein klares "Nein" hieße: Tragödie.
Ein klares "Ja" wäre das Ende der Geschichte. Zur Komödie - mit
stets präsent gehaltenem tragischen Potenzial - wird Equinox Flower
durchs Hin- und Hergerissensein des Vaters. Der wird so zum hermeneutischen
Rätsel, zum Objekt von Argumentationen und Tricks, die ihn erweichen
sollen - und wandelt als Riss durch den Film, der freilich von Anfang an
geneigt scheint, den Patriarchen im Herbst seiner Macht als bellenden, nicht
beißenden Hund zu porträtieren.
Es treffen, idealtypisch geradezu, in der Figur des Vaters das traditionelle
und das moderne Japan aufeinander: er verkörpert, wie es Ozus Filme
tun (und insofern ist er so etwas wie ihre Allegorie), einen melancholischen
Blick aufs Neue, ein Verhaftetsein am Alten und vor allem den Konflikt zwischen
beidem, den er in sich auszutragen hat. Er hat keine Scheu, den Töchtern
seiner Freunde gütige Toleranz entgegenzubringen, und fällt als
Vater - und das heißt hier immer auch: im traditionellen Heim, in dem
er keine Radiomusik erträgt, in dem ihm seine Frau die auf den Boden
geworfene Kleidung aufklaubt - zurück in die Vormoderne. Andere Orte,
anderes Verhalten: geradezu gelöst gibt er sich in der Bar, in der er
die Tochter seines Freundes aufsucht. Es endet dann der Film, als Komödie,
mit einer Bewegung, einer Zugfahrt zur eigenen Tochter (und mit Gesang).
Man ist versucht, diese erstaunlich optimistische Variante der höchst
vertrauten und andernorts sehr viel düsterer behandelten Problematik
nicht zuletzt der Farbe zuzuschreiben, mit der Ozu hier erstmals arbeitet.
Sie lenkt ab von der Strenge der Form, es tritt, um eines von Ozus
Lieblingsmotiven zu nennen, die Stange mit der im Wind wehenden Wäsche
nicht mehr nur als strukturiertes Bild auf: die einzelnen Kleidungsstücke
springen heraus und ins Auge als buntes Einzelding. Nicht minder der
berühmte rote Teekessel, der noch in der unteren Ecke des Bildrands
die Tatami-Einstellung pointiert. Das Gleichgewicht im Kader geht nicht verloren,
aber Vorder- und Hintergründe treten doch deutlicher auseinander. Es
kommt dazu: die Kamera ist den Figuren hier oft nahe; auch dies Korrelat
des guten Muts, mit dem die Tragödie auf Distanz gehalten wird.
Early Spring (Soshun; 1956)
Die Syntax des Ozu-Films, exemplarisch: Ein Blick auf die Stadt, ein Blick
auf einen Zug. Ein Schnitt. Im Inneren eines Hauses. Ein Mann, eine Frau,
sie drängt ihn aufzustehen. Kurz darauf: eine Einstellung aus der Distanz
- die Kamera, als der Blick des Betrachters, lauert rechts im Vordergrund,
schneidet eine Mauer noch an, von rechts nach links im Hintergrund Menschen,
alle mit weißen Hemden. Dann: Der Bahnsteig. Ein Gespräch. Der
Zug kommt. Bilder wie Aussagesätze, parataktisch. Ein Morgen in einer
Vorstadt von Tokio, Aufbruch zur Arbeit. Bilder wie Aussagesätze, aber
wohlgeformt, elegant und von einfacher Schönheit, von der Schönheit
des Einfachen.
Ozu ist dabei kein Formalist. Nichts erklärt sich hier, im Detail,
über die Perspektive, die gewählt wird, durch die Mittel des Films:
Montage, Mise-en-Scène. Die Weltanschauung, die in dieser Form steckt,
diffundiert vielmehr hinein in jede dieser Szenen, informiert die allerkleinste
Bewegung ins letzte, es gibt im Ozu-Film (jedenfalls ab einem bestimmten
Zeitpunkt seines Werks) kein Bild, keinen Schnitt, keinen inszenierten Raum
und keine Kamerabewegung, die nicht reiner Ozu wäre. Er ist so, was
er zuletzt scheint: ein totalitärer Filmemacher. Nicht dass er, dass
diese Form sich aufdrängte. Ihre Art ist vielmehr: da zu sein, anwesend
abwesend, der Erzählung, den Charakteren, der Atmosphäre untergeordnet.
Allem, was man sieht, vorausgesetzt. Es ist, als erzählten diese Geschichten
sich von selbst. Mit Authentizität hat das nichts zu tun und nichts
mit Natürlichkeit. Nur mit einer Grammatik, die das, was sie sagen
lässt, trägt, ohne sich explizit zu machen.
An diesem Film fällt das auf, weil die Form und der Inhalt mehrmals
auseinanderzuscheren scheinen. Expliziter als sonst ist dieser Film - der
ins Milieu mancher Ozu-Stummfilme zurückkehrt - Kritik an den modernen
Zeiten, die er mit der Eröffnung, der Bewegung der Menschen zum Zug,
dem Gedränge auf dem Bahnsteig, dem Verkehr in Tokio karikieren will.
Die Form des Spätwerks aber fügt sich, anders als die in sich noch
weit uneinheitlichere, dadurch offenere der Stummfilme, dieser Absicht nicht.
Die Schönheit der Bilder widerspricht dem Widerspruch, den Ozu sucht,
zur Gegenwart, zur gefährdeten Lohnarbeit des "Salaryman", des Angestellten
mit dürftigem Lohn und noch dürftigeren Aufstiegsaussichten. Ich
bin also, stellt einer dieser Salaryman zu Beginn fest, ein
dreihundervierzigtausendstel, hier, in Tokio. Es folgt ein Blick auf die
Straße, die Autos, die Straßenbahnen: und noch der ist schön.
So schön wie die symmetrischen Einstellungen auf die Fenster, hinter
denen man Körper sieht, bei der Arbeit.
Es fehlt der Ozu-Grammatik, will einem scheinen, an der Möglichkeit,
Dissonanz auszudrücken. Sie ist gemacht für unaufdringliche
Melancholie, für eine Resignation, in der seltsamer Trost liegt, für
das Sterben und das Weiterleben, all die Abschiede und auch für die
Bösartigkeiten, die in der Nuance liegen können. Es ist eine Grammatik
der unendlichen Höflichkeit. Sie produziert Bilder, deren Allegorie
das Sitzen am Fluss ist, das Gespräch über Belanglosigkeiten oder
über die großen Dinge des Lebens ohne große Bewegtheit.
Wenn es aber, wie in Early Spring, um schiere Kälte gehen soll, Entfremdung
- und darum ist es Ozu hier zu tun: Entfremdung im Privaten und Beruflichen
-, dann klingen die Bilder falsch und die Gefühle. Dann wirkt manches
zu dick aufgetragen, etwa der nächtliche Besuch der Kriegsveteranen
im Haus. Es fällt auch auf, wie wenig Ozu zu zeigen hat vom Verhältnis
der Eheleute, aber auch von der Affäre Sugiyamas. Wunderschön dagegen
die Szenen vom Ausflug der Angestellten ans Meer, der Besuch Sugiyamas bei
seinem Kollegen Onodera (sie sitzen am Fluss und reden ohne große Bewegung
über das Leben) und zuletzt die von der Versöhnung in der japanischen
Provinz. Ein Blick, der auf Handtaschen fällt. Ein Zug, der
vorüberfährt (es sind viele Züge, die vorüberfahren,
in diesem Film). "Early Spring" ist ein sehr aufschlussreicher Film, weil
er im Misslingen Einblick eröffnet in die Ozu-Grammatik, die im Gelingen
unsichtbar bleibt, ja, deren Gelingen in ihrer Unsichtbarkeit liegt.
Fortsetzung: frühere Filme von Ozu
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