BERLIN/VOLKSBÜHNE
Forced Entertainment: The World in Pictures
Alles geht von vorne los. Menschheitsgeschichte, von A bis Z, nicht weniger.
Gleich. Nicht sofort. Erst nämlich Jerry. Er steht da, von allen verlassen,
auf der nackten Bühne, im T-Shirt, er nimmt die Hände aus den
Hosentaschen und erzählt. Falls das erzählen ist.
BERLIN/HAU 2 (TANZ IM AUGUST)
Mathilde Monnier: Frère et
Soeur
Was sich klärt und verunklärt, unklar bleibt an den
Verhältnissen, die die Figuren zueinander haben, den Verhältnissen,
die sich verändern, vielleicht auch entwickeln, das könnte man
den Interpretationsspielraum nennen, der in diese Choreografie, die keineswegs
wortlos ist, dennoch eingebaut scheint.
BERLIN/HAU 1
Anna Viebrock und Johannes Harneit: Ohne Leben
Tod
Die Krise geht vorbei, sie korrespondiert, kann man annehmen, dem Brand im
Roman. Träge Übertragungen nur von hier nach da nimmt Anna Viebrock
vor und fast wollen sie einem in ihrer Trägheit noch zu flink vorkommen.
Sollte nicht die Eigenwelt, die hier entsteht, im Viebrock-Ambiente, mit
Ausziehen und Anziehen und Kaffeekochen und Zubettgehen sich selbst genügen
dürfen?
BERLIN/HAUS DER BERLINER FESTSPIELE
Heiner Goebbels:
Eraritjaritjaka
Das Innere ist nach außen gestülpt, der Film droht an den Schlitzen,
die die Leinwand zum Vorhang machen, zu kollabieren. Ein Zweikampf eher als
eine Kohabitation oder gegenseitige Komplementarität. Das Livegeschehen,
verdeckt, im Raum, der sich dreidimensional hinter der Leinwand erstreckt,
die Projektionsfläche der Wand, auf der das Geschehen, das im Inneren
verdeckt zu ahnen ist, verfolgt werden kann -wenngleich justament jene Stellen,
die Fensterschlitze, ausgespart bleiben, die den Blick auf die Hausbühne
erlauben.
BERLIN/SOPIHENSÄLE
Nico & the Navigators: Helden &
Kleinmut
Worum es geht: der Tod, Gefahr. In Worten und Windungen auf dem Boden,
Harold and Maude revisited, es ist nichts gewesen. Vertraut auch der
Umgang mit Gegenständen, Oliver Proskes Multifunktionsbühne, der
Tisch, der Koffer, das Pult, das Teil aus Holz, hinter dem man sich verstecken,
das man als Laufband verwenden kann. Die Pointen aber verpuffen im Nirgendwo.
Kritik zu Lilli in Puttgarden
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Meg Stuart, Benoit Lachambre:
Forgeries, Love and Other Matters
Zur Soundscape, die bleibt und in aller Sichtbarkeit vom Dritten skulptural
entworfen wird, die Pelzlandschaft, brauner Velour, Braunbär-Velour
(diese Assoziation erfüllt sich zuletzt). Das Paar (Meg Stuart/Benoit
Lachambre) betritt Sound- und Velourlandschaft, die über- und unterbestimmt
sind: überall, nirgends, Ort, Zeit, menschenleer, abgesehen vom Dritten,
der den Raum mitschafft und ihm am Rande, sehr am Rande nur angehört.
BERLIN/PRIVATWOHNUNG
lunatiks: livingRooms
Im Handumdrehn hat die Fiktion die eigene Wohnung in die fremde verwandelt.
Elli Kölmel als Nervenbündel, das Post-Its an sich selber schreibt:
Musik aus, Musik wirklich aus. Die Geschichte kommt in Gang, als ein junger
Mann auftaucht, Mücke von der GEZ. Er dringt in die fremde Wohnung ein,
die unserer Gastgeber, die im Nu in die Elli Kölmels verwandelt ist.
Dann, klapp, geht die Tür und wir sind auf dem Boulevard, was man daran
sieht, dass immerzu die Türen gehen werden, hinter denen er sich versteckt
oder sie verschwindet, um die Szene für ihn zu öffnen. Jetzt aber
schließt sie erst mal zu, er ist gefangen. Wir sind auch gefangen mit
den beiden und den Windungen, Wendungen, die die Fiktion nimmt, ins Langweilige
und Outrierte und Gelungene.
BERLIN/HAUS DER BERLINER FESTPIELE
Jean-Pierre Perrault: Joe
von Ekkehard Knörer
Wir schreiben und tanzen das Jahr 1984. Männer in Anzügen,
Anzüge, die Tänzerinnen und Tänzer zu Männern machen,
auf jedem Kopf ein Hut: Think Orwell, think Brazil, 32 Männer im Takt
ihrer selbst, think Masse versus Individuum. Und die Individuen tanzen dann,
so literal es eben geht, aus der Reihe, der Hut aber bleibt auf dem Kopf
und nur ein einziges Mal entledigt einer sich des Mantels. Er zieht ihn wieder
an. Er kehrt zurück in die Gruppe, geht in ihr auf, ununterscheidbar.
BERLIN/HAU 3
Rabih Mroués: Biokraphia
von Ekkehard Knörer
Es beginnt ein Interview, alles in arabischer Sprache, ich eile den
Übertiteln hinterher. Die Stimme auf dem Band fragt, Lina Saneh antwortet.
Immer rascher, immer inquisitorischer. Biografisches, der Titel des Abends
"Biokraphia" setzt sich zusammen aus "bios", erklärt Saneh, der Frau,
die fragt, mit ihrer Stimme, vom Band. Und "kraphia" heiße Scheiße.
Scheißlebensbeschreibung. Verantwortlich zeichnet Rabih Mroués.
Das Band fragt. Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit.
BERLIN/SCHAUBÜHNE
Sasha Waltz: Impromptus
von Ekkehard Knörer
Farbtanzerei, action waterpainting, Kreidezeichnung. Dann gedimmtes
Licht, Sasha Waltz bittet ihre wie stets erlesenen Tänzerinnenkörper
zum Bade. Wasserplanscherei zur Schubertmusik. Gesang zwischendurch. Das
Klavier wird zugeklappt, die Klavierspielerin geht. Später wird es wieder
aufgeklappt, Gesang wieder.
BERLIN/HAUS DER KULTUREN DER WELT
Walid Raad: My Neck is Thinner
Than Your Hair
von Ekkehard Knörer
Alles wird erzählt, nichts wird ausgelassen. Aber was sagt es uns.
Manipulierte Bilder. 360-Grad-Kamerafahrten. Dann verschluckt, plötzlich,
die Straße die Autos. Dann verschwimmt, plötzlich, das
Häuserbild zu Streifen, Bildbremsspur. Bombengeschichten.
BERLIN/HAU 1
Les Ballets C. de la B.:
bâche
von Ekkehard Knörer
Die Ängste der Tänzer, Trauer und Hallelujah von Henry Purcell,
Flic-Flac und Körperqual, der Gesang des Countertenors und Musik aus
dem Computer, das Klavier, die Stahlbetten, die Körper: sie alle bekommen
miteinander zu tun in der Choreografie "bâche" der Gruppe "Les Balltes
C. de la B." aus Gent.
NEW YORK/ST.MARKS CHURCH
Richard Foreman: King Cowboy Rufus Rules
The World
von Ekkehard Knörer
Die vierte Wand ist weg. So weg sie eben sein kann. Foreman liebt es sonst
sie auszustellen: eine Glasscheibe zwischen Buehne und Zuschauerraum und
die Schauspieler sprechen in Microports. Diesmal nicht. |
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Christoph Marthaler: Die
Fruchtfliege
Das Marthalertheater denkt über die Natur der Liebe nach. Aber Moment
mal: Kann das Marthalertheater das denn überhaupt: Nachdenken? Ist es
nicht vielmehr ein Singen und Summen, ein Ausbrechen und ein Verharren, ein
Herumtun mit Gegenständen, ein Verschwinden und Tanzen, ein
schüchternes Wesen, das die Figuren auf seiner Bühne, Monaden,
die nie recht wissen, wohin mit sich selbst, einander niemals ganz nahe sein
lässt?
BERLIN/HAUS DER BERLINER FESTSPIELE (TANZ IM AUGUST)
Batsheva Dance Company: Mamootot
Der Abend gibt sich, mit diesem Solo, eine Form, in der sich die Ordnung
einer Struktur, die Genauigkeit eines Stils, die Offenheit der Entfaltung
im Finden eines Vokabulars, individuelle Variation, also etwas wie ein Idiolekt
und die Kombination und Rekombination des Gefundenen und immer weiter zu
Findenden im nicht begrenzten Feld dessen, was damit anzustellen oder
darzustellen ist, vereinen und vereinbaren lassen.
BERLIN/HAU 3
two ones: Anna Huber: hierundoderhierundoder
hierundoderdort & Kristýna Lhotákova: I am here, you are
at home
Im Hinterraum, klein, in dem die Sicht um die Ecke verschwindet, der Beginn
im Licht, als die Tribüne sich noch füllt. Dazwischen der Saal,
leer und dunkel. Ein Rucken, große Augen, aufrecht an der Wand Anna
Huber, von der Wand sich lösend, ein paar Zentimeter, und dann doch
nicht. Eine, die in ein Netz geraten ist, das keiner sieht. Eine, die sich
befreien will und nicht kann. Eine mechanische Person, in der etwas - mechanisch
- ruckt, als wollte es anderswohin.
BERLIN/HAU 2
Caden Manson / Big Art Group: House of No
More
Zwischen Bühne und Publikum, im Orchestergraben sozusagen, drei jungen
Herren an ihren Laptops. Sie sind die kybernetischen Puffer zwischen den
Medien, sie steuern das auf den Millimeter choreografierte Durcheinander
auf der Bühne und ordnen, mischen und montieren es zur filmischen
Repräsentation auf der Leinwand.
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Pina Bausch: Nefes
Zweistundenfünfzigminuten: Schönheit. Zweistundenfünfzigminuten:
Erlesene Körper, elegante Bewegungen, wunderbare Einfälle und
Rätselbilder wie das, gleich zu Beginn: Männer, die liegen, Frauen,
die daneben knien, die langen Haare fallen und die Frauen schlagen, bürsten
sie wie in einem Ritus, dessen Bedeutung sich nicht wirklich erschließt.
BERLIN/HAU 2
Superamas: Big. 2nd Episode
Eigentlich tanzen sie gar nicht, oder: Zweimal tanzen sie, unbeholfen, wake
me up, before you gogo. Die Stewardess legt später los, singend,
"What's going on" von den Four Non Blondes, mit Mikro. Sonst ausnahmslos
alles: lip-synch, einstudierte Geste, Darsteller-Darsteller. Wiederholung
auch der zweiten Szene. Mit Abweichung: Die Flaschen in der Bar zerplatzen.
Stroboskoplicht. Gewehrgeknalle und einmal bleibt die Dialogplatte hängen.
BERLIN/HAU 2
Akram Khan Company: Ma
von Ekkehard Knörer
Wo es hin will, wie es zusammenhängt anders als durch den Willen zum
Ethnoblödsinn und zur tänzerischen Virtuosität schöner
Körper, das bleibt von Herzen unklar. Imputiert nur ist eine Seele,
die man aus Indien reimportiert hat, wo Seele billig gefertigt wird, auch
wenn sie teuer aussieht. Im Publikum war auch Anna Huber. Ihre Kunst ist
das Gegenbild, wunderbar und richtig, zum herausgeputzt Falschen von Akram
Khan.
BERLIN/VOLKSBÜHNE
Forced Entertainment: Bloody
Mess
von Ekkehard Knörer
Auf die falschen Ankündigungen folgen Ausbrüche, Abbrüche,
Black Sabbath, Steppenwolf und The Band. Luftigitarre und Szenen. Loses und
Festes. Verdichtungen und Entleerungen. Gags im Zustand der Auflösung,
der Überdrehung. Gelungene Gags, verpuffende Gags. Wiederholungen, bis
es nicht mehr komisch ist. Wiederholungen, obwohl es schon beim ersten Mal
nicht komisch war. Auch das Zu-Tode-Reiten hat die Struktur von Struktur
- fragt sich nur: wozu noch.
BERLIN/SCHAUBÜHNE
Henrik Ibsen: Nora, Inszenierung: Thomas
Ostermeier
von Ekkehard Knörer
An die Stelle feingetunter Psychosozialintrospektionen treten, mit einem
keineswegs wohl begründeten Schlag und rabiat, der Lärm, das
Techno-Gebizzel, der Text der Musik und die Musik. Alte Schaubühne,
neue Schaubühne. Nicht mehr das Stülpen eines Inneren ins dargestellte
Außen, sondern Vorführen des Außen als
Körperäußerung, Körperentäußerung.
Geschüttelte Körper, entfahrende Schreie als lautstarke Absagen
an alle Subtilität und Ambivalenz. Soma statt Psyche, es wird, aber
reichlich unentschlossen, in Castorfsches Gelände rübergefuhrwerkt.
BERLIN/HAU 2
Anna Huber:
Wolkenstück
von Ekkehard Knörer
Man stellt sich zusammen, schwankt im Wind, an die Wand geworfen schwarze
Bälle, schwarze Striche, die Beziehungen zwischen Musik, Gruppenbild,
Bewegung werden nie fest gezurrt, nie klar definiert. Abbrüche, autistische
Rückzüge. Ausbrüche, Exaltation. Meist bleibt es abstrakt,
die Finger, verkrampfte Körper, getanzte Tiere, denkt man, Affen, alle
Viere, dann aber auch: erfundene Tiere. In den Wolken tanzen die Tänzer
von Anna Huber erfundene Tiere.
BERLIN/HAU
X Wohnungen
von Ekkehard Knörer
Erst mal ein gutes Stück zu Fuß, das wird so weiter gehen, beachtliche
Strecken zwischen den Wohnungen, zweimal ein Auto-Shuttle, sonst aber
Lichtenberg-Trottoir. Die erste Wohnung, drei Vietnamesen braten Nürnberger
Würstchen und servieren es sich und der älteren Frau, die die spielt,
die hier wohnt - während die, die hier wirklich wohnt, nicht da ist,
das erfahren wir auf Nachfrage, wie überhaupt das Fragen die ganzen
fragilen Realfiktionsarrangements immer wieder vereindeutigend aus der Balance
bringt.
BERLIN/HAU 3
Jochen Roller: Mindgarden
von Ekkehard Knörer
Später treten die einzelnen Tänzer ans Mikrofon, ein Ratespiel:
Eine neurophysiologische Störung mit A. Wird dann vertanzt. Man rät
und rätselt, mal erkennt man es, mal nicht. In der Lücke zwischen
Erkennen und Nicht-Verstehen steht, als Witz und Ernst, die Frage nach dem
Status des Tanzes: nach seiner Lesbarkeit, seinem Verhältnis zum Begriff,
zum Bild. Große Momente. Brainy, sexy, funny stuff.
NEW YORK/PERFORMING GARAGE
Wooster Group: Poor Theater
von Ekkehard Knörer
Das ist der grosse Coup dieses ersten Teils: minutenlang rasen die Performer
polnisch. In der Imitation der Ueberschreitung von Mimesis aber verliert
sich das Moment der Ueberschreitung. Die Mimesis wird zu Mimikry und das
ganze wagt sich ins Niemandsland zwischen Hommage und Parodie. |