Wednesday, October 25, 2006

Adalbert Stifter: Der Waldgänger

Mit einer autobi/bli/ografischen Selbstauskunft beginnt die Erzählung. An einem "Scheidepunkte" steht der "Verfasser dieser Zeilen" und blickt aus herrliche Gebirge zum einen, auf die "einfacheren unbedeutenden Gegenden" zum anderen. Das Grenzenlose hat er hinter sich, die Liebe auch und die Zukunft. Er blickt zurück auf das – nämlich die "unbedeutenderen Theile" –, was vergangen ist, wieder und wieder kehren das "Scheiden" und die "Theile" und der "Scheidepunkt" und die "Scheidelinie" gehen über in die "Schneidelinie". Scheiden und Schneiden, darauf wird es hinauslaufen beim "Umschwung der Dinge", von dem meta-poetisch "Der Waldgänger" erzählt. Mit dem "Waldgänger" unterwirft sich das Werk der "sanften Gewalt" des sanften Gesetzes, Stifter ist auf dem Weg zum Vorwort der "Bunten Steine", ja, beinahe ist er, auf dem Weg in den Wald, schon da. Man lese: "Wie war seit jenen Jahren alles anders geworden! Jedes Ungeheure und Außerordentliche, welches sich in der Zukunft des Wanderers vorgespiegelt hatte, war nicht eingetreten, jedes Gewöhnliche, was er von seiner Seele und seinem Leben ferne halten wollte, war gekommen – an jenem Morgen, wo er (...) geschieden war, und wo er dann von der Scheidelinie in das Land zurück schaute". Mit dem Scheiden teilt sich der Blick und wendet sich die Richtung. Von nun an blickt das Erzählen zurück, auf das Unscheinbare, das Bedeutungslose.

Erzählen ist Erinnern als Aufgabe der Gegenwart; aufgegeben aber, als Enttäuschung und Entsagung, ist die Zukunft. Und was ist beim Blick zurück zu sehen, in der Re-Situierung des Erzählens: "Tief zurück im Reiche der Erinnerungen steht ein alter Mann", an dem nur eines bemerkenswert ist, nämlich seine "Unscheinbarkeit", seine "einförmige, harmlose Gestalt". Dies ist der "Waldgänger", dessen unendlich traurige Geschichte erzählt wird. Aber nicht sofort. Denn lange befasst sich der Erzähler mit dem Ende des Lebens. Mit der topografischen Situierung dieses Lebens in der "kahlen", "kleinen", "zersplitterten" Gegend, in die der Böhmerwald ausläuft. Niedrig und grau sind die Häuschen. Ausführlich beschrieben wird die "Leuchte", das Herd- und Abendfeuer, das "Traulichkeiten" und "Gehäbigkeiten" künstlich produziert. Von einer "Teufelsmauer" ist die Rede, die zu vollenden, Steine auf Steine häufend, aber "zu viele kleine Steine" nehmend, dem Teufel nicht gelang. In dieser Gegend und diesen Geschichten "verweilt mit Worten" der Erzähler und findet erinnernd den Waldgänger als "einen der da ist". Als einen, der da ist und da geht – in den Wald -, einen, der Schmetterlinge sammelt, auf denen der Erzähler nun auch, fein differenzierend, lange mit Worten verweilt. Das Verweilen ist wichtig und typisch für die Bewohner des Landes ist es auch, denn die "haften" an "ihren einmal angenommenen Dingen". So auch der Erzähler, der allerdings den Fremden und das Fremde erlebt als etwas, das "Mißtrauen" bringt gegen "die Sprache, die wir redeten". Die Fremde, das Fremde erscheint so als etwas, das ins Haften des Eigenen, in die Beharrungskraft von Wort und Namen, latent immer eingetragen ist. Dem Waldgänger gesellt sich der Sohn eines "Hegers". Diesen hegt nun der Waldgänger als angenommener "Vater" und bringt ihm das Lesen und Schreiben bei. Er befreit ihn aus der Befangenheit und Gefangenheit im Eigenen, einer Fixierung auf "Hohenfurt" (immerzu baut der Junge ein "Hohenfurt", das er nicht kennt), aber mit dieser Befreiung gibt der Waldgänger den angenommenen "Sohn" auch frei an eine Zukunft, zu der er nicht mehr gehört. Zum Weggang, der bevorsteht, und der Wiederholung eines ewigen Weggehens des Jungen vom Alten, gibt es im Wald eine Kontrafaktur. Adam, der Abdecker, lebt mit Kind und Kindeskindern verwurzelt am Ort, von dem keiner der Seinen je schied. Dies aber ist, als aus dem Leben der Gesellschaft zweischneidig Ausgeschiedenen, nur den Abdeckern als mögliches Schicksal beschieden.

Das "Gesetz der Natur", wie der Waldgänger (und der "Waldgänger") es beschreibt, sieht anders aus und wird im Bild von der Pflanze erläutert: "Die Liebe geht nur vorwärts, nicht zurück. Das siehst du ja schon an den Gewächsen: der neue Trieb strebt immer von dem alten weg in die Höhe, nie zurück; der alte bleibt hinten, wächst nicht mehr und verdorrt. Und wenn auch die Zweige bei einigen zurück zu gehen scheinen und nach abwärts streben, so ist es nur, daß sie die Erde berühren, um einen neuen Stamm zu gründen, der den Platz verlassend sogleich wie ein Pfeil in die Höhe schießt." Diesem Gesetz folgt der Sohn des Hegers, den Georg als Sohn angenommen hat, um ihm die Zukunft zu öffnen. Mit seinem Verschwinden verliert sich auch die Spur des Waldgängers, zurück bleiben nur "die sehr schwer mit Nägeln beschlagenen Schuhe", die nun – in Wald und Geschichte – keine Spur mehr hinterlassen werden. Und damit endet der erste Teil, "Am Waldhange", der die Vorgeschichte des Waldgängers als Nachgeschichte präfiguriert. Diese präfigurative Verstrickung, könnte man sagen, ist das Gesetz, dass das Erzählen sich hier gibt, als Fügung ins als vergangen Folgende und Resignation.

Ob die Vorgeschichte als "eigentliche" Geschichte dieselbe Lektion erteilt, ist die Frage. Ein "ganzes Menschenalter" früher, am anderen, waldlosen Ort setzt das Erzählen im zweiten Kapitel, "Am Waldhange", nun ein. Aber "abgeschieden" auch diese Gegend, voller "Streifen" und "Linien", ein "Punkt", ein "Strich", das alles "abgetrennt" vom Rest der Welt. Beschrieben werden die Eltern des späteren Waldgängers, werden Haus und Garten, wird die Produktion der "Reinlichkeit" im Haus, wo "jedes rein glatt und scharf" ist, der Ordnung halber. Der Sohn geht in die Stadt, an die Universität, bleibt Einzelgänger. Die Eltern sterben, er gibt das Brotstudium auf, widmet sich seinen Interessen ("Mathematik, Naturwissenschaft, mechanische Wissenschaften und Baukunst"). Umgang mit Menschen hat er kaum, er bleibt fremd unter Fremden, wird und bleibt etwas "Wildes" und wendet sich zur Natur, "gleichsam zu Dingen, die schon an und für sich da sind, die ihm nichts wollen". Er geht in die Natur, in den Wald, er ist dreißig, als er ein Mädchen kennenlernt. Ein weiterer erzählerischer Rückgriff auf die Geschichte der Eltern des Mädchens. Eine Erzählung von Hybris und Verfehlung, der Entfaltung falscher Pracht und tiefen Unglücks der Mutter. Eine Verfehlung, könnte man vielleicht sagen, der Dinge, wie sie sind, ein Überhäufen und Übermaß. Die Mutter stirbt, der Vater geht bankrott, das Leben Elisabeth Eleonore Coronas beginnt bei der Großmutter von vorne. Unter anderen Menschen ist sie, wie Georg, "ein seltsamer und fremder Gegenstand". Corona begibt sich in die Dienste einer Gräfin, für die Georg einen Bau entwirft. Die Fremde und der Fremde finden einander. "Da er nun sah, daß sie so allein sei, wuchs sie immer mehr in sein Wesen, daß er sie durch die dunklen Bäume des Gartens mit sich zu seinem Baue trug."

Wie figurativ, so dann literal. Die beiden treten in ein "neues Verhältnis", schließen eine "Verbindung". Erst ziehen sie in ein Häuschen zu einer Witwe. Corona bestellt das Haus und macht es zum "Tempel der Reinlichkeit". Die Kinder aber bleiben aus. Georg erbaut ein weißes Haus am Waldhang, und einen Garten. Dieser "sollte bis zu dem Walde zurückgehen, in den er sich unkenntlich verliere." Bau und Natur finden zueinander, "bis sich die Roheit und Neuheit verwischte", auch der Garten "begann ebenfalls aus seinem Urzustande herauszutreten". Man zivilisiert sich und das Wilde und bleibt der Mitwelt doch fremd. Auch die Kinder bleiben weiterhin aus als der Wunsch, der allem die "Krone augesezt hätte". Seltsamer Auftritt eines Kindes, das Klavier spielt und die Musik, die es spielt, versteht: "es lag hier ein Stück Reinheit und Schönheit menschlicher Seele gleichsam nackt und willkürlich da". Dies Auftreten wird Anlass. Corona, die das Haus "unbedingt rein und klar" hält, die "reinigte" und "hegte", setzt der Ehe der Krone auf, indem sie entsagt. Sie will, auf dass die Kinder in neuer "Verbindung" kommen, die Scheidung und beschreibt die Ehe als "mißgeschlungenes Band". Es wird nicht sogleich entschieden. Sie gehen in den Garten. Zeit geht dahin und Zeit geht dahin. Das "Ergebniß der Zeit": Die Scheidung. "Beide konnten jetzt dem Plane gemäß frisch und frei an den Bau des noch übrigen, künftigen Lebens gehen, als wäre es ein anfangsfähiges ursprüngliches gerade aus der ersten Hand des Schicksals gegebenes."

Drittes Kapitel, "Am Waldrande". Die Verfehltheit der Entscheidung zeigt sich im Mißverhältnis der so beschriebenen Lage. Dieser neue Anfang, obgleich Georg noch einmal heiratet und tatsächlich zwei Kinder zeugt, ist ein falscher Schein. Er steht im Widerspruch zum Gesetz der Natur. Die Kinder ziehen davon und lassen den Vater zurück. Er wird, am ähnlichen Ort, zu dem es ihn zieht und zu dem es sie zog, Corona wieder begegnen, die entsagt hat. Sie sprechen miteinander, sie trennen sich wieder, "und der acht und fünfzigjährige Mann weinte die ganze Nacht." Die Einsicht in die eigene Verfehlung macht ihn zum Waldgänger, der sein eigenes Leben überlebt hat. Der sich nur in der Wiedreholung wird eingerichtet haben können. Er schickt seinen angenommenen Sohn ein weiteres Mal davon. Es bleibt keine Spur im Erzählen. So wenig von ihm wie von Corona. Die Entsagung war ein Versagen. Das Scheiden als falsche Entscheidung ist der Geschichte von Anfang an eingeschrieben; aber der Verdacht drängt sich auf, noch das Vergehen ist Erfüllung des Scheide-Gesetzes der Natur.

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