Abbas Kiarostami: Der Wind wird uns tragen
(F/Iran 1999) Rezension von Ekkehard Knörer Abbas Kiarostamis neuer Film beginnt mit einer doppelten langsamen Annäherung. Ein Auto auf kurvenreicher Straße in menschenleerer Gegend, die Kamera folgt aus einiger Distanz. Dazu hört man die Gespräche der Männer im Auto, unmittelbar, über die Beschreibung jenes Weges sprechend, dem die Kamera folgt. Erste Näherungen nicht im Blick auf die Gesichter der Männer, sondern indem die Kamera ihre Perspektive einnimmt und Feldarbeiten zeigt, die nach dem Weg gefragt werden. Dann ein kleiner Junge am Rand der Straße, der aus dem gesuchten Dorf im Schwarzen Tal kommt, als Lotse postiert wird - und Lotse auch für die meiste Zeit bleiben wird. Noch immer verweigert die Kamera den Blick auf den Protagonisten. Erst als er seinen Bestimmungsort, das Dorf, erreicht hat, bekommt man ihn zum ersten Mal zu Gesicht, im Unterschied zu seinen Kollegen/Untergebenen, die nur ein einziges Mal im Film kurz als Schemen ins Blickfeld der Kamera geraten werden. Der ganze Film ist durch solche Blickverweigerungen strukturiert: das Zentrum des Begehrens des Protagonisten, auch seiner Geschichte, die der Film erzählt, bleibt abwesend: die Hundertjährige, auf deren Ableben offenbar spekuliert wird, um eine seltene Zeremonie dokumentieren zu können, suchen weder der Ingenieur noch die an seine Perspektive vollständig gebundene Kamera je auf. Eine weitere Person ist nur als Stimme präsent: ein Arbeiter gräbt, behauptet er wenigstens, an einem Loch zur Verlegung von Telefonkabeln. Das Motiv der Verbindung des abgelegenen Dorfes zur Großstadt, insbesondere zum Zentrum Teheran, wird mehrfach angespielt: der Protagonist ist selbst leitender Ingenieur der Telefongesellschaft, also Vermittler von Kommunikation. Die jedoch ist im Dorf nicht möglich. Um seine Handy-Anrufe empfangen zu können, muss er stets auf den nächstgelegenen Hügel hetzen, wo er dann Botschaften aus Teheran bekommt: einmal eine Todesnachricht, dann immer wieder Weisungen von Vorgesetzten, die allerdings im konsequenzlos Vagen verbleiben. Zudem ist das der Ort des gesichtslosen Gräbers, dessen Freundin zum Bindeglied zwischen Fremdem und Dorfgemeinde zu werden scheint: sie gibt ihm die Milch, nach der er lange schon verlangt, aber sie verweigert ihm zugleich ihr Gesicht. Die Blick-Verbindung scheitert an der Düsternis der Unterwelt, in der sich die beiden begegnen. Je mehr er sich nach Erlösung aus jenem Limbo-Zustand sehnt, desto deutlicher wird dem Ingenieur sein Status als Eindringling vor Augen geführt. Er ist der einzige Erwachsene, der ständig durch das Dorf rennt, auf der Suche nach einer Kommunikation, die entweder ausbleibt oder sinnlos ist. Das Dorf selbst ist gefilmt als Ort kommunizierender Röhren, in senen sich seine Bewohner langsam, aber zielsicher zu bewegen wissen. Der einzige Go-Between zwischen Dorf und Ingenieur bleibt für einige Zeit der Lotsen-Junge, der aber, nachdem ihn der Ingenieur beschimpft hat, ebenfalls jede Kommunikation verweigert. Umso deutlicher wird, dass der Protagonist auf der Suche nach Erlösung ist, deren Gewährung ausbleibt. Zuletzt wird auch der erwartete Tod der Hundertjährigen keine Bedeutung mehr haben. Ob die Botschaft des Mediziners, der als Agent eines Gottes reiner Immanenz auftritt, Wirkung erzielt, erfahren wir nicht. Es ist dieselbe Botschaft, die bereits der lebensmüde Held von Der Geschmack der Kirsche erhalten hat. Ebenso wenig wie dort ist das hier die Botschaft, auf die der Film sich reduzieren ließe. Sie ist ein Vorschlag, der offensichtlich die Sympathie des Regisseurs genießt, Annahme oder Ablehnung bleiben dem Helden und dem Zuschauer überlassen. Eines jedenfalls lernt der Ingenieur: wenn es Hoffnung gibt für ihn, dann nicht an diesem Ort. Am Tage der Zeremonie, auf die er die ganze Zeit gewartet hat, reist er ab. Abbas Kiarostami setzt mit Der Wind wird uns tragen den Weg fort, den er mit Der Geschmack der Kirsche eingeschlagen hat. Die Untersuchung des Wesens filmischer Repräsentation, die selbstreflexive Darstellung ihrer ironischen Pointen, steht nicht länger im Zentrum seiner Filme. Stattdessen wendet er sich der grundsätzlichen philosophischen Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz zu. Das Wunder, das dieses Kino vollbringt, ist, dass es dieses fraglos schwere Gewicht zu tragen vermag. Alles Schwere wird auf die leichte Schulter seiner täuschend einfachen Bilder genommen. Angelopoulos etwa geht in seinen letzten Filmen den umgekehrten Weg: seine Bilder sind bis zum Rande symbolisch durchkomponiert; was er zeigt ist mit dem Firnis düsteren Raunens überzogen. Kiarostamis Bilder dagegen sind beinahe transparent - ihre Parabelhaftigkeit ist sinnverwirrend identisch mit ihrem Naturalismus. Nach wie vor inszeniert Kiarostami Kinder- und Laiendarsteller in ihren angestammten Umgebungen, filmt Straßen, Landschaften, einfache Menschen. Ganz sanft nur bekommen die so klaren, so wunderbar sonnendurchfluteten Bilder ein zweites Gesicht, werden lesbar auf die ganz andere Topographie von Himmel und Hölle, auf die Sehnsucht des Protagonisten nach Erlösung. Das Atemberaubende an Kiarostamis Kunst ist, dass er dazu weder die Mittel des Symbols noch der Allegorie benötigt: es geht nicht darum, Gegenstände, Personen, Bilder und Tableaus mit Bedeutung aufzuladen, und sie darunter zu begraben. Alles behält seine Schönheit im Zustand unbedeutendster Konkretion. Nachvollziehbarkeit aber nicht psychologischer, sondern existentieller Art stellt sich aufgrund einer Empathie ganz eigener und unwahrscheinlicher Art gegenüber dem in so vieler Hinsicht ganz Fremden ein. Die Ereignisse, die Orte, die Personen, die wir sehen, stehen nicht für etwas anderes - sondern gerade darin, dass sie nur für sich selbst stehen, nicht auf Begriffe abziehbar sind, werden sie (und nur in ihrer Unauflösbarkeit und Rätselhaftigkeit) allgemeingültig. |