Edward Yang: Yi Yi

(Taiwan 2001)

Rezension von Ekkehard Knörer

Man möchte, wenn man diesen Film gesehen hat, nur erzählen. Davon, wie Yang-Yang am Ende seiner toten Großmutter erklärt, warum er sich geweigert hat, mit ihr zu sprechen, als sie im Koma lag. Davon, wie NJ und Herr Ota sich über die Musik so nahe kommen, wie sich Männer, in Filmen wie im Leben, selten nahe kommen. Wie Ting-Tings Naivität sich als Entschlossenheit erweist, als eigene Form von Klugheit, als oft genug vergeblicher, aber gerechtfertigter Versuch, den Menschen abzutrotzen, was sie nicht zu geben bereit sind. Von Ah-Dis maßloser Tölpelhaftigkeit, die ihn selbst, auch wenn er es nicht reflektieren kann, so sehr quält, dass er beinahe zur tragischen Figur wird. Vom rätselhaften, aber gerade in dieser Rätselhaftigkeit plausiblen Verhalten Chun-Yuns, die mal intrigant und trickreich, dann grenzenlos treu und solidarisch erscheint.
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Diese und noch viele weitere Geschichten erzählt Edward Yang in Yi-Yi, jede einzelne von ihnen ist lebensklüger als - das ist das Beispiel, das nahe liegt - Paul Thomas Andersons ganzer Film Magnolia. Nahtlos fügt Yang einen Strang nicht an, sondern in den anderen, lässt die eine Geschichte die andere kommentieren, spiegeln, wiederholen, variieren, ohne dass man jemals den Eindruck bekommt, es gehe hier um Illustration von Thesen, um Beispielhaftigkeit, um Lehren, die zu ziehen wären. Irgendwann erklärt Fatty, der sie später schmählich betrügen wird, Ting-Ting, was das Großartige am Kino ist (er hat das von seinem Großvater): dass das Leben dadurch dreimal so lang wird, weil man dreimal so viel sieht wie die Leute, die nicht ins Kino gehen. Man darf annehmen, dass Edward Yang dieser Ansicht zustimmt. Jedenfalls ist Yi-Yi nicht weniger als die triumphale Erfüllung der Hoffnung, dass man alle Naivitäten realistischen Erzählens meiden und dennoch - eigentlich: nur so - mitten ins Leben hineingreifen kann. Natürlich ist das eine Frage der Technik.

Der Erzähltechnik, genauer gesagt, und dabei insbesondere der Fähigkeit, Balancen zu halten, Motivationen anzudeuten, aber nicht zu erklären, eines Augenmerks fürs scheinbar Nebensächliche, fürs Widersprüchliche auch, fürs Nicht-Aufgehende. Yi-Yi übt, das ist vielleicht das Schönste an dem Film, die Tugend der Zurückhaltung: in aller Regel filmt er seine Figuren aus gehöriger Distanz. In Momenten großer Bewegtheit entfernt sich sich die Kamera, statt sich brutal anzunähern (die einzige wirkliche Großaufnahme eines Gesichts gibt es gegen Ende - und da ist es der vom Bildschirm abgefilmte Blick einer Fernsehkamera. Darin liegt, in nuce, das ästhetische Programm des Films). Immer wieder legt Yang Fensterscheiben zwischen die Figuren und den Blick des Betrachters, Fensterscheiben, in denen sich Lichter spiegeln, die Lichter von Taipeh, der Großstadt, in die seine Personen oftmals eingetragen werden wie in ein Landschaftsbild, in dem sie nicht wichtig sind. Sie rücken dann wieder ins Zentrum - und sie sind gerade dann im Zentrum, wenn die Kamera das Gegenteil zu behaupten scheint. In einer recht langen statischen Einstellung sieht man Ting-Ting nur von ferne auf einer Polizeistation, durch eine Tür links hinten im Bild. Im Vordergrund sieht man die Tische des Büros, rechts im Bild ein Polizist an seinem Schreibtisch, der gar nicht wahrnimmt, was sich in seinem Rücken abspielt. Realismus ist auch eine Frage der Bildkomposition, gerade dann, wenn sie sich gegen das sperrt, was einem von Hollywood-Konventionen als natürlicher Blick eingetrichtert wird. Ein Film wie Yi-Yi kann einem wieder die Augen dafür öffnen, welch eine große Kunst es sein kann, Geschichten zu erzählen. Vielleicht, in den Händen eines Meisters, die größte überhaupt.

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