Jeder für sich und Gott gegen alle - Kaspar Hauser
(Deutschland 1974)
Am 26. Mai 1828 erscheint auf dem Nürnberger Unschlittplatz ein
junger Mann, der kaum gehen und nicht sprechen kann. Mit sich führt
er einen anonymen Brief, der ihn als Kaspar Hauser ausweist. Wie sich
herausstellt, war diese Person Zeit ihres bisherigen Lebens in einem Keller
gefangen gehalten worden, ohne einen Blick auf die Welt, geschweige denn
auf einen Menschen geworfen zu haben. Die Nahrung war ihm während seiner
Schlafphasen ins Verließ geschoben worden. Was es mit dieser einzigartigen
Gefangenschaft auf sich hatte, konnte seinerzeit nicht geklärt werden.
Die Ermordung Hausers einige Jahre nach seinem Auftauchen goss zudem Öl
ins Feuer der Spekulationen und hielt Kriminologen, Philosophen und andere
Forscher bis in die heutige Zeit in Lohn und Brot. Die populärste Theorie,
nach der Hauser als strategisch unangenehmer Erbe einer Nebenlinie
des badischen Adelshauses in Frage kommt, wurde mittels einer Genanalyse
im Auftrag des Spiegels 1996 vermeintlich ein für allemal vom Tisch
gefegt. Im Jahr 2002 wiederum wurde dieses Ergebnis im Rahmen einer Forschung
im Auftrag des Fernsehsenders arte widerlegt. Bis heute ist der Fall Kaspar
Hauser und seine vielen Implikationen Gegenstand zahlreicher Debatten und
hat von seiner Faszinationskraft nichts eingebüßt. |
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In seiner mitunter sehr traumähnlichen und bildstarken Verfilmung
der Begebenheit lässt Werner Herzog den kriminologischen Aspekt des
Stoffes gänzlich beiseite und konzentriert sich voll auf die philosophischen
Qualitäten. Wer dieser Mensch war, warum er in Gefangenschaft leben
und nach wenigen Jahren in Freiheit sterben musste, ist für seinen Film
nicht von Interesse. Eher schon geht es Herzog um die Nachzeichnung jenes
Vorganges, wie ein solcher Mensch sich von der Welt einen Begriff macht,
wie er diese - über die Eindrücke, über die erlangte Sprache
und somit also auch über das Gespräch - in sich konstruiert und
mit Sinn füllt. In seiner wohl bekanntesten Szene stellt der Film Hauser
dann auch einem Professor für Logik - von Alfred Edel herrlich
verkörpert - gegenüber, der den Findling mit dem Problem der beiden
Wächter konfrontiert, von denen der eine stets lügt, der andere
die Wahrheit spricht und die anhand einer einzigen Frage voneinander eindeutig
zu unterscheiden wären. Die komplexe Lösung des Professors über
den Umweg einer Dopplung der Frage in sich selbst befriedigt Hauser kaum:
"Ich würde fragen: "Bist Du ein Laubfrosch?" Sagt er "Ja", ist er der
Lügner.", stellt er so trocken wie schlau fest und bringt damit seine
Entfremdung voll auf den Punkt. Ein Glücksfall für diesen
beeindruckenden Klassiker des Neuen Deutschen Films ist dabei auch die Besetzung
des Kaspar Hausers mit dem Berliner Straßenmusikanten und selbst jahrelang
in Heimen weggesperrten Bruno S., dessen unbekümmerte wie engagierte
Darstellung dem Kaspar Hauser eine atemberaubende Tiefe verleiht.
Auch in ihrer ersten Veröffentlichung der Herzog-Kollektion ohne
Kinski in der Darstellerriege besinnt sich Kinowelt auf die Tugenden der
Reihe und beschert uns eine von der Covergestaltung bis zum Zusatzmaterial
rundum überzeugende Edition. Bild- und Tonqualität sind am Alter
des Films gemessen sehr gut und ermöglichen ein ungetrübtes
Filmerlebnis. Als Zusatzfilm wurde diesmal eine filmische Biografie Werner
Herzogs beigelegt, die interessanterweise in dessen Filmografie bislang nicht
auftaucht, offensichtlich aber aus den frühen 80ern stammt: Wie nicht
anders zu erwarten, ist dieses Dokument vom für Herzog typischen Narzissmus
und seinem mythenschweren Blick auf die (Um-)Welt geprägt, was man nur
lieben oder hassen kann. Nicht zuletzt ein kurzer Auftritt von Lotte Eisner
und einige Überlegungen Herzogs zum Film im Allgemeinen, zum Neuen Deutschen
im Besonderen machen aus diesem Artefakt ein wichtiges Dokument seiner Zeit.
Einen kleinen Einblick in Herzogs Verständnis vom Filmemachen gewährt
schließlich ein Auszug aus dem Drehbuch zum Hauser-Film, der nicht
etwa Dialoge vorscheibt, sondern sich ganz in Stimmungsbeschreibungen und
postulierten Idealvorstellungen erschöpft. Auch der Audiokommentar -
wieder von Laurens Straub und Werner Herzog exklusiv eingesprochen - ist
wieder sehr informativ ausgefallen, wenn Herzog tief in der Anekdotenkiste
gräbt. Hier stellt sich für den regelmäßigen Verfolger
der Reihe ein schöner "Alte Bekannte"-Effekt ein und man ist beinahe
schon gewillt, die Sichtung des Films nach Einlegen der DVD sofort mit dem
Audiokommentar zu begehen. Trailer zu diesem wie anderen Filmen der Herzog-Reihe,
eine bildschirmfüllende Fotogalerie mit Aufnahmen von den Dreharbeiten
und die obligatorische Herzog-Biografie beschließen schließlich
eine einmal mehr empfehlenswerte Veröffentlichung der Reihe.
Weitere Herzog-Filme jenseits des berühmten Kinski-Korpus sind
für die nächsten Monate angekündigt. |
Technische Details
Bildformat: 1,78:1 Letterbox
Sprachen: Deutsch (Mono Dolby Digital)
Untertitel: -
Regionalcode: 2 / PAL
Zusatzmaterial
Trailer, Fotogalerie, Biografie von Werner Herzog, Werner Herzog -
Filmemacher (Portrait), Auszüge aus dem Drehbuch, Audiokommentar von
Werner Herzog und Laurens Straub
(Thomas Groh) |