Lukas Moodysson: Lilja 4-ever (Schweden/Dänemark 2002)
Mit den beiden bezaubernden Filmen Raus
aus Amal und Zusammen! spielte
sich der schwedische Regisseur Lukas Moodysson in den vergangenen Jahren
in die Herzen von Arthousepublikum und Filmkritik. Sein dritter Film, Lilja
4-Ever, der im Winter 2003 ins Kino kam und die tragischen Umstände,
unter denen die Titelfigur, ein russisches Mädchen, in die Hände
eines Kinderprostitutionsrings gerät, schildert, wurde dabei, trotz
des weitgehend positiven Medienechos, als Bruch in seiner Filmografie
wahrgenommen, die sich zuvor durch einen beschaulich-poetischen Realismus
auszeichnete, in diesem Falle allerdings unnachgiebig die Behaglichkeit des
Zuschauers ins Visier nimmt.
Liljas Abstieg wird minutiös und oft genug emphatisch schmerzhaft für
den Zuschauer inszeniert, ohne dabei in allzu voyeuristische Spekulationen
zu verfallen. Steht zu Beginn noch - den Rahmen, der eine Szene, die im
chronologischen Verlauf erst wesentlich später stattfindet, vorwegnimmt,
mal beiseite genommen - ein recht fideles Mädchen in gesicherten, vielleicht
sogar für russische Verhältnisse einigermaßen wohlhabenden
Verhältnissen, ist Lilja zum Ende ein körperliches wie psychisches
Wrack, das von einer Reihe den Gesetzen der Tragik folgenden Verquickungen
systematisch zugrunde gerichtet wurde. |
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Wie auch in seinen anderen Filmen nutzt Moodysson dabei eine an Dogmafilme
angelehnte Kameraarbeit, um das Geschehen zu authentifizieren und Distanz
zu vermindern. Einige besonders emphatische Szenen sind dabei sogar direkt
aus Liljas Subjektiven gefilmt, etwa eine aneinandermontierte Collage aus
nackten Freieroberkörpern, die sich über Lilja hermachen. Auch
Musik nimmt dabei wieder eine besondere Rolle ein: Waren es früher noch
sanfte, verträumte Gitarrenpopsongs, die das Geschehen untermalten,
bekommt man hier nun gleich in der ersten Sekunde Rammstein-Getöse um
die Ohren gehauen, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen: Es ist dem
Filmemacher um Ernstes zu tun.
Lilja 4-Ever unterscheidet sich eigentlich nur auf emphatischer Ebene von
den anderen Filmen seines Regisseurs, schließt aber ansonsten nahtlos
an diese an. Wie in den Vorgängern wird auch hier die tieftraurige
Geschichte eines Mädchen erzählt, das durch die Bedingungen, unter
denen es lebt, erdrückt zu werden droht. Dies scheint, so könnte
man nach drei Filmen Bilanz ziehen, das vordergründigste Motiv Moodyssons
zu sein. Doch während Raus aus Amal und Zusammen! noch
vielfältige Anknüpfungspunkte boten, um den Zuschauer, trotz aller
Traurigkeiten, mit einem Gefühl der Leichtigkeit zu entlassen, die es
ihm erlaubt, das an sich Schreckliche einer provinziellen Situation, wie
sie im ersten Film etabliert wurde, oder eines zwar vorgeblich an humanen
Werten orientierten, letztendlich aber den Einzelnen übergehenden
Sozio-Experimentierfelds, wie der zweite es schildert, zu übersehen,
zerrt Lilja 4-Ever mit jeder Minute mehr an den Nerven der Zuschauer,
um sie emotional aufgelöst aus dem Film zu entlassen, was ihm, wenn
man sich Medienecho und das Murmeln der Kinogänger in den diversen
Internetforen vergegenwärtigt, in den meisten Fällen auch gelungen
ist.
Gescholten wurde der Film zum Zeitpunkt seiner Kinoauswertung vor allem für
einige Szenen, in denen der tote Volodya, ein kleiner, verarmter Junge, mit
dem sich Lilja anfreundet und der im Laufe des Films infolge eines
Drogenmißbrauchs ums Leben kommt, mit Puttenflügelchen wieder
in Liljas Leben tritt und ihr als Schutzengel allerlei Ratschläge erteilt.
Ungebührlicher Kitsch, hieß es, und unnötiger Aufbruch des
ansonsten naturalistisch inszenierten Filmgefüges und der behaupteten
Wiedergabe von sozialer Wirklichkeit. Ganz im Gegenteil liegt in diesen Szenen
aber ein für den Film nicht unmaßgeblicher melancholischer Schmerz,
der in dieser Ausformulierung sein Thema, bzw. seine Zentralfigur und deren
Gedankenwelt absolut ernst nimmt. Mehrmals sehen wir Lilja im Vorfeld dieser
Szenen als einen diffus religiösen Menschen, der in Krisensituationen
in alten, kitschigen Religionsbildlein nach Trost und Hilfe sucht. Dass in
den Bilderwelten eines solchen jungen und entsprechend unbedarften Menschen
auch Puttenreinkarnationen verstorbener Freunde stattfinden, ist letztlich
nur naheliegend und folgt, in dieser Darstellung, dem zugrunde liegenden
Konzept des Films einer absoluten Subjektivierung der Geschehnisse. Der Kitsch
dieser Momente ist nicht der Kitsch des Films, sondern der nachvollziehbare
Alltagskitsch des portraitierten Menschen, ohne dass dieser despektierlich
ausgestellt würde. Dieses Konzept mag nicht immer aufgehen und wird
in manchen Szenen bestimmt auch überstrapaziert, doch zeigt sich hier
eine Sensibilität Moodyssons, die als zumindest erstaunlich wagemutig
anzusehen ist und entschieden zur Qualität des Films beiträgt.
Sunfilm Entertainment hat dem Film eine qualitativ erfreulich hochwertige
DVD für die hiesige Auswertung zur Seite gestellt: Bild und Ton sind
für einen Film dieses Alters erwartungsgemäß tadellos, wobei
die deutsche Synchronisation nur bedingt zu empfehlen ist und atmosphärisch
einige Abstriche zu verzeichnen sind. Sehr umfangreich ist das Bonusmaterial
ausgefallen, das man gleich samt und sonders auf eine zweite DVD verfrachtet
hat: Neben obligatorischen Dreingaben wie Trailer und Fotogalerie finden
sich hier zwei Spots von Unicef und der Diakonie gegen Mädchenhandel
und Kinderprostitution. Als hauptsächlich von Interesse gestaltet sich
ein mit 90 Minuten Dauer recht umfangreiches Interview des Guardian mit dem
Regisseur während des British Film Festivals, das komplett deutsch
untertitelt vorliegt. Hier gibt Moodysson ausführlich über seine
Arbeitsweise, seine Absichten und Ansichten und über die recht komplizierte
Produktion des Films - der Film wurde komplett auf Russisch gedreht, der
Austausch zwischen Regisseur und Darstellern musste mittels Dolmetscher
bewerkstelligt werden - Auskunft. Dass er dabei einige Unsicherheiten an
den Tag legt, macht ihn als Menschen sympathisch, dass er dabei hier und
da auch einige tendenziell krude Ansichten zum Besten gibt, eher weniger.
Dass er symbolträchtig mit Palästinenserschal um den Hals auf die
Bühne tritt ist eine allenfalls peinliche Solidaritätsgeste von
ohnehin eher dubiosem ideologischen Hintergrund. Etwas schade ist zudem auch,
dass die Publikumsfragen gegen Ende offenbar nur über das
Bühnenmikrofon aufgenommen wurden und so oft nicht mehr zu verstehen
und erst über die Antworten des Regisseurs zu rekonstruieren sind. Die
Qualität dieser Edition bleibt davon natürlich unbelassen: Ganz
klare Empfehlung. |
Technische Details
Bild: 1,85:1 (16:9 anamorph)
Ton: Russisch/Schwedisch (DD 5.1., Dolby Surround), Deutsch (DD 5.1., Dolby
Surround, DTS)
Untertitel: Deutsch
Regionalcode: 2/PAL
Laufzeit: ca. 104 Minuten
Zusatzmaterial:
Unicef-Spot mit Robbie Williams, Diakonie-Spot, Guardian-Interview mit Lukas
Moodysson, Fotogalerie, Trailer (alle Extras auf einer zweiten DVD) |