Was sich klärt und verunklärt, unklar bleibt an den
Verhältnissen, die die Figuren zueinander haben, den Verhältnissen,
die sich verändern, vielleicht auch entwickeln, das könnte man
den Interpretationsspielraum nennen, der in diese Choreografie, die keineswegs
wortlos ist, dennoch eingebaut scheint. Schon der Titel, frère
et soeur, ist ein Vorschlag, dem man nicht folgen müsste, selbst
wenn gewiss wäre, was sein Status ist. Der Text von Kathy Acker, gesprochen
von einander vom Mikrofon stoßenden wechselnden Tänzern, die hier
zu Sprechern werden und gleich darauf wieder zu Tänzern, fügt eine
weitere Schicht hinzu, einen Anhalt, der aber keinesfalls Gewissheit gibt
über die Liebe, den Hass, das einander Schlagen, das Sich-Wieder-Vertragen,
das einander Küssen und Umranken, das ineinander Verwinden und auch
das wortlose, fast gestenlose Formieren und Herumstehen in Formationen, die
sich gleich darauf wieder auflösen.
Zu Beginn: Eine Bühne mit vier Orten, klar bestimmten, und weiteren,
nicht so klar bestimmten. (Die Einzelbühnen, die man sieht, sind ein
Ort, aber der Eckraum bei den Mikrofonen, was ist von ihm zu halten? Oder
von der Fläche links an der Seitenwand, mit den zu Bündeln
geschnürten Decken? Oder von der Wand selbst, an die sich, spinnengleich,
später eine Tänzerin klammern wird?)
Klar definiert, wie es scheint, die Black Box rechts hinten, schwarz, mit
Schlitzen, ein Kubus aus einem Material zwischen Schaum und Stoff. Als
Aufenthaltsraum ein Zwischen-Ort mit Zwischenräumen, die ihn, weil sie
Auftritte ermöglichen, zum Vorhang machen. Zugleich die Garderobe, damit
Hinterwelt der Bühne für die Kleidungs- und Perückenwechsel
eine Hinterwelt freilich, die später gedreht wird und nach vorne
geschoben, die vierte Wand fehlt und als fehlende ermöglicht sie den
Einblick in diese ausgestellte Garderobe mit den aus dem Rhythmus des Tanzes
in den Rhythmus des Umziehens hinübergleitenden Körpern. Das aber
wird, auch nach der dem Voyeurismus sich anbietenden Offenlegung,
ausdrücklich als Nicht-Performance, also als völlig normales,
alltägliches Umkleiden performiert.
Ein Wandel auf den anderen Bühnen nach der Drehung um 90 Grad. Die Nacktheit
der nun vor Blicken nicht mehr Schutz bietenden Garderobe dringt in die anderen
Räume vor, wenngleich den nackten Oberkörpern sogleich wollige
Kraushaarperücken kontrastierend korrespondieren. Überhaupt hat
sich nach den aus den Stehformationen hervorgehenden Kämpfen der ersten
zehn Minuten die Raumaufteilung geändert. Zwischendurch etwa einmal
gibt es Zweierformationen zur Linken, Dreierformationen in der Mitte und
Solo-Performances mit Gitarre zur Rechten. Auch die Gewalt ist gewichen.
Zunächst ein Hauen und Treten und Springen, allerdings mit großer
Selbstverständlichkeit, keine Zeichen des Schmerzes, der Verletztheit,
ein ungerührter Ingrimm, aus dem nicht ohne weiteres schlau zu werden
ist. Kurz auch Verkleidungen, übers Gesicht gezogene Rollkragenpullover,
aber der Kampf geht weiter.
Danach aber Hebefiguren, Schlingfiguren, nun eine, wenn man so sagen kann,
ungerührte Zärtlichkeit, wiederum ohne jede Exaltation: Bruder
und Schwester, naja. Es muss von der Musik die Rede sein, die elektronisch,
mit Knacksverfremdungen und Rhythmuswechseln, beinahe keine Sekunde lang
ausbleibt. Selten, öfter gegen Ende hin, Ausbruch in wilden Solo-Tanz,
zu dem der Elektrobeat den Anlass gibt. Dazwischen ist das Verhältnis
der Tänzer zum Klang weniger eindeutig, so offen für Deutung (oder
Desinteresse) wie der Bezug von Figur zu Figur, von Figur zu Raum (genauer
gesagt: den Räumen). Auch der Ingrimm, sei er noch so ungerührt,
will ertragen sein, ungemildert wie er bleibt durch konterkarierende, gar
komische Momente. |