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Köstlich ist das Wort für diesen liebevollen Film - voller
Liebe fürs Theater. Köstlich wie eine lange, entspannte
Haute-Cuisine-Mahlzeit, die Stunden dauert, ohne jede Eile, ein Gang folgt
dem nächsten und die Zeit vergeht höchst angenehm mit interessanten
Gesprächen.
Der Regisseur und Autor Mike Leigh hat sich eine ganz eigene Nische
im Filmgeschäft geschaffen, mit sehr britischen Filmen, in denen man
außergewöhnliche Dinge über gewöhnliche Leute aus dem
Arbeiter-Milieu erfährt: High Hopes, Life is Sweet, Naked, Secrets and
Lies (Lügen und Geheimnisse) und andere. Er (und seine Darsteller) haben
eine Menge bedeutender Preise bekommen.Dazu kommen noch Leighs Theater-Arbeiten
und Fernsehfilme, die oft auch ins Kino kommen.
In Topsy-Turvy behandelt Leigh die Partnerschaft des Librettisten
W. S. Gilbert (1836-1911) und des Komponisten Arthur Sullivan (1842-1900),
oder Sir Arthur, nachdem er 1883 geadelt wurde. Als Dritter im Bunde tritt
der Impresario und Manager D'Oyly Carte (1844-1901) auf.
Obwohl eine meiner Katzen den Namen Yum-Yum trägt, bin ich kein
G&S-Verehrer. Dennoch weiß ich zu schätzen, wie originell
und neuartig ihre Arbeiten waren und dass sie die etwas andere Seite des
biederen Viktorianismus darstellen.
Verglichen mit den aus seinen anderen Filmen vertrauten einfachen
Leuten ist das Showbiz-Personal von Topsy-Turvy ganz und gar patrizisch.
Vorgestellt wird es nicht im alten Genre der Künstler-Biografie, sondern
im begrenzten Zeitrahmen, der Tiefe und Details ermöglicht.
Der Film beginnt 1884, als die neueste G&s-Produktion, Princess
Ida, wenig erfolgreich ist. Für G&S-Standards ist sie ein Flop.
Zuvor war auf die erste Zusammenarbeit, Trial by Jury, eine Serie von Hits
gefolgt: The Sorcerer, H.M.S. Pinafore, The Pirates of Penzance, Patience
und Iolanthe. Princess Ida mag den Misserfolg nicht verdient haben, aber
gewiss ist Ida nicht Aida. Allerdings kann man die saftige Große Oper
mit ihrem Belcanto mit den komischen Operetten, die G&S erfunden haben,
auch kaum vergleichen.
Sir Arthur, mit schmerzhaften Nierenproblemen eigentlich ans
Bett gefesselt, begibt sich mit letzter Kraft ins Savoy Theater
und dirigiert das Orchester. (Sein Gesichtsausdruck, wenn er die Musik
mitsingt, ist wunderbar). Er leidet allerdungs auch unter dem Ehrgeiz zur
Komposition ernsthafter Musik, nach jugendlichen Anfängen unerfüllt.
Nach Princess Ida reicht es ihm nun. 'Ich kann meine Zeit nicht
mehr mit diesen trivialen Soufflés verschwenden', informiert er
Carte.
Sir Arthur gönnt sich eine Pause und begibt
sich auf den Kontinent. Er ist ein Bonvivant, das
französische Essen und, in einem Bordell in Paris, ein
entblößtes Damenduo, beleben ihn sehr und vermögen
seinen Witz und 'joie de vivre' zu steigern . Das ist charmant. Aber
als ihm Gilbert sein neuestes Libretto vorliest, hat Sullivan genug
von den immerselben kunterbunten Plots.
Während seiner 160 Minuten langweilt der Film keine
Sekunde. Und ich sage das als der Gürnder der IWDNMFW-Bewegung ---
ich-will-den Neunzig-Minuten-Film-wiederhaben. Ausgebreitet werden
wunderbar treffsichere Victoriana: Innenräume, Gegenstände, Menschen;
Gespräche, die Charaktere und Persönlichkeiten trefflich
kennzeichnen; Gedanken zu Kreativität und Kunst; der
geschäftliche Teil der Produktionen; Einsichten ins private Leben.
Jede Minute bietet Interessantes und viele kurze Momente stehen gekonnt für
ganze Situationen.
Topsy-Turvy genießt den Kontast zwischen dem lebendigen
Hans-Dampf-in-allen-Gassen Sullivan und dem ernsthaften, oft verdrießlichen
Gilbert. Die Wahl der Worte und Bilder verrät jene
Unangestrengtheit, die sich intelligenter Vorbereitung verdankt. Der echte
britische Humor und gelehrte Witz sind Kontrast wie Ergänzung zum
fröhlichen Plätschern des G&S Sing-Sangs.
Die Partner sind kurz davor, sich zu trennen, als die kluge Mrs
Gilbert (die wie alle Nebenfiguren mit eindrucksvoller Effizienz gezeichnet
ist) ihren Ehemann zu etwas ganz Neuem mitschleppt, einer Ausstellung japanischer
Kultur. Kabuki, Tanz, Musik und andere japanische Exotica werden zum
Operetten-Damaskus-Erlebnis für Gilbert. So entsteht 1885 The
Mikado.
All das wird in einer Serie klug geschnittener Szenen vorgeführt.
Gilbert, der ein japanisches Schwert gekauft hat, spielt damit herum.
Schnitt zu G&S, wie sie ein neues Skript lesen. Schnitt zum 12. Februar
1885, als schreckliche, das Empire erschütternde Neuigkeiten
England erreichen. General 'Chinese' Gordon und seine Männer sind im
belagerten Khartoum am 26. Januar von den sudanesischen Rebellen unter
Führung des Mahdi massakriert worden. Schnitt auf die späteren
Darsteller in The Mikado, die sich mit Austern vollstopfen -- und
denen gleich übel wird. Das Leben geht doch weiter.
Die Dasteller, von winzigen zu den Hauptrollen, sind fehlerlos. Kluge,
bezeichnende, unterhaltsame Momente, Szenen und Sequenzen gibt es in großer
Zahl. Die komischsten zeigen Gilbert bei den Proben mit seinen Darstellern,
wie ein moderner Theaterregisseur. Er hat japanische Damen engagiert, die
seinen Schauspielern zeigen, wie man steht, geht und den Fächer hält.
Er weist andere an, wie sie ihren Text zu singen haben. (War Leigh vielleicht
von Truffauts Film-im-Film-Unglücken in Die amerikanische Nacht
beeinflusst?). Das ist die hohe Kunst der Komödie, doppelt beeindruckend,
wenn man sich vorstellt, wie die Film-Darsteller die Proben zu The Mikado
geprobt haben.Zumal Mike Leigh und seine Leute nicht so arbeiten, wie es
sich gehört. Es gibt keine fertigen Drehbücher; alles entsteht
aus der Interaktion, Erfindung und Improvisation. Falls dieser Prozess auch
für Topsy-Turvy Anwendung fand, so ist das Ergebnis hier eine wunderbaren
Nahtlosigkeit der einzelnen Szenen
Ja, es gibt sogar Suspense. Gilbert hat den Song
eines Darstellers herausgeschnitten (der an Robert Morley erinnert).
Wird er ihn wieder einfügen? Wird der Hauptdarsteller
mit Drogenproblemen, die Schauspielerin mit dem kaputten Bein oder
die Schauspielerin die trinkt, die Vorstellung zu Fall bringen?
Man bekommt hier viele Filme zum Preis von einem. Leben
und Werk von G & S; wie 'Eine Operette entsteht'; authentische
Fachsimpelei; das Leben hinter der Bühne in
unerreichter Genauigkeit und noch mehr. Technisch ist der
Film brillant. Aber die Presse scheint den Beitrag eines wichtigen
Mitarbeiters zu vernachlässigen. Der Komponist Carl Davis,
der zwar in Brooklyn geboren ist,
aber seit langer Zeit in England lebt, ist zwar
den Eingeweihten bekannt, nicht aber
der breiten Öffentlichkeit. Dabei ist
sein Werk umfangreich und großartig. Seine Arbeiten
umfassen Theater-Filme (er hat den British Music Award für
Die Frau des französischen Leutnants gewonnen),
Fernsehfilme (für Channel 4, die BBC), die oft in
die Kinos kamen; Fernsehserien in England; Dokumentarserien wie
The World at War, The Unknown Chaplin, Cinema Europe:
The Other Hollywood. Seine Neukompositionen von Stummfilmklassikern
(Intolerance, Ben Hur, The Eagle, Greed etc.) sind die besten, die es
je gab. Der wunderbare Carl Davis ist der wichtigste Filmkomponist
der Gegenwart, und keiner aus meiner Bekanntschaft kennt ihn,
mit der Ausnahme des Meisterpianisten Ian Hobson, der
Aufnahmen mit ihm gemacht hat und ihn bewundert.
Ein letzter Gedanke. Andere Operetten, von Johann Strauss,
Franz Lehar oder Jacques Offenbach, sind gut über die Zeit
gekommen. Die unübersetzbaren Texte von W.S. Gilbert
haben das G & S-Repertoire auf die englischsprachigen Länder
beschränkt. Topsy-Turvy droht, trotz der zwei New York Film Critics
Preise (Bester Film, Beste Regie) ein ähnliches Schicksal.
zur
englischen Fassung
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Edwin Jahiel ist einer der renommiertesten amerikanischen
Internet-Film-Kritiker. Roger Ebert, der Filmkritikpapst der USA,
zählt ihn zu den fünf besten. Er hat als Professor für
Filmwissenschaften an der University of Illinois gelehrt und
veröffentlicht seine Kritiken in The News Gazette. Die deutschen
Übersetzungen erscheinen exklusiv bei Jump Cut.
copyright Edwin Jahiel
copyright der Übersetzung Ekkehard Knörer |
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