Das Thema ist Therapie. Eine Therapie ungewöhnlicher Art ist es, die Mathildes Leben auf eine Weise
wieder ins Lot bringt, daß ihr Mann Nico völlig außer Tritt gerät. Nach sieben Jahren Ehe erlebt Mathilde
ihren ersten Orgasmus und der Ehemann flüchtet in einer der immer wieder unvermutet kommenden
witzigen Szenen dieses Films entsetzt aus dem Schlafzimmer. Weniger beunruhigt haben ihn zuvor die
häufigen Ohnmachtsanfälle Mathildes; und sowenig er sich zunächst für seine Frau interessiert, sowenig
 interessiert sich der Film anfangs  auch für ihn. Zuerst ist die Kamera ganz auf Mathilde fixiert - wobei
fixiert nicht ganz das richtige Wort ist, denn die Kamera folgt der Heldin eher beunruhigt, in schnellen
Schnitten, wechselt von der Halbtotale auf Nahaufnahmen des Gesichts und, immer wieder, der Hände.
Mathilde ist eine Diebin, sie stiehlt Spielzeug für ihren Sohn und wenn sie erwischt wird (aber nicht nur
dann) fällt sie in Ohnmacht. Auf einer Party verweilt die Kamera lange auf ihrem Gesicht (und Sandrine
Kiberlin hält der aufdringlichen Kamera seelenruhig stand), dann folgt sie ihrem Blick, der auf jenen
Mann fällt, der das Leben der Heldin kippen wird.

Sie folgt ihm und was wie eine Allerweltskonversation im Restaurant beginnt, entpuppt sich rasch als
Beginn einer Hypnose-Therapie inklusive Vorschlägen zum Wohnungsrevirement. Der Höhepunkt der
Therapiesitzungen, die zugleich Inszenierung von Verführung sind, ist ein langer Kameraschwenk über
den Körper von Mathilde, der, gebannt von den Worten des Therapeuten, von einem ersten (zunächst
 noch außerehelichen) Orgasmus durchzittert wird. Die Therapie ist aber von der bereits erwähnten
durchschlagenden Wirkung auch auf das Eheleben. Sie folgt einer verwunschenen Logik. Märchenhaft
daran ist das Auftauchen des Fremden, ist der Siegelring, der als Pfand an ihn geht und später wieder
auftaucht. Und freudianisch ist die therapeutische Anamnese über das Wortspiel 'voler': stehlen und
fliegen. Die Diebstähle Mathildes erweisen sich als Symptom eines Kindheitstraumas (der Suizid des
Vaters) und verschwinden ebenso wie die Ohnmachten mit dem Erfolg der hypnotischen Therapie.
Das Flugtrauma hatte seinen Ort im immer wieder als Gutenachtgeschichte wiederholten 'Nils Hol-
gersson'. Später sehen wir, wie nun erstmals der Vater dem Sohn ebendiese Geschichte vorliest:
der Fluch ist auf wundersame Weise auf ihn übergegangen.

Das ist er in der Tat. Nicht daß er nun zu stehlen anfängt - aber im Gegensatz zu Mathilde, die  sich mit
einer schlafwandlerischen (eben hypnotischen) Sicherheit und Unbeeindruckbarkeit durch ihr Leben
zu bewegen beginnt, kann Nico vor Verunsicherung und folgender Trunkenheit kaum noch geradeaus
gehen. Wir nehmen, gefangen von der tölpelhaften Ratlosigkeit des Mannes, und damit nun plötzlich auch
gefesselt an seine Perspektive, Mathilde nur noch als rätselhaft selbstsicheres, ihr Leben mit gänzlicher
Unbefangenheit kontrollierendes Wesen wahr. Nico stolpert von einem Malheur in das nächste, geht
durch eine Hölle der Ratlosigkeit, in der ihm sein Sohn an Lebenserfahrung um Jahre voraus scheint und
scheitert zuletzt grandios beim Versuch einer Hypnose-Therapie.

Seine Therapie besteht offensichtlich in der harten Tour und ihr Erfolg ist nur als Erlösung denkbar, als
Wunder, das zuletzt Mathilde stiftet, indem sie ihn wieder aufnimmt, in ihre Arme nimmt am neutralen
Ort und verspricht, den verwunschenen und verfluchten Ort, das Ehebett, wieder an den alten Platz
zu rücken. Die filmische Klugheit Benoît Jacquots zeigt sich darin, daß er für diese Erlösung keine
Bilder mehr sucht, sondern über die letzten Worte, die die ersten Liebesworte sind ('Mon Amour')
einen schwarzen Grund legt, über den der Abspann läuft. Für Nico waren es sechs Höllen, denen nun
der siebte Himmel folgen kann.

9.1.1999