Der Medien-Zorn: Die Jump-Cut-Medien-Kolumne von Carsten Zorn. |
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(Jump-Cut-Medienkolumne, 1. Folge; 2., aktualisierte, völlig neu bearbeitete Fassung; 14.11.00)
Schlingensief für Arme Von Carsten Zorn
Vorwurf (I. Teil) Nun (am 14.10.2000) war also auch der erste Politiker im Big-Brother-Container. Natürlich konnte es nur der Guido Keine-Berührungsängste Westerwelle sein. Und natürlich wird er später wieder sagen, das sei inzwischen doch üblich, mittlerweile würde es doch jeder machen undsoweiter - nur er, Guido (der großen Wert darauf legte, von den Bewohnern geduzt zu werden), wäre wiedermal überall in der Presse gescholten worden dafür; sei er doch immer der Vorreiter (quasi Avantgarde), der alles einstecken müsse. Weil noch niemand gewöhnt sei an all die tollen Sachen - in denen Guido offenbar glaubt, den Guido-Erstvorfall, den Präzedenzfall Westerwelle schaffen zu müssen. Der dann den Weg für alle Folgenden freiräumt. Jedenfalls hat er sich, hat man mir berichtet, in ebendieser Weise, und wohl schonmal vorsorglich, bevor er im BB-Container war jedenfalls, gegenüber den veröffentlichten Meinungen zu seiner Person zu immunisieren versucht - bei einer Podiumsdiskussion Ende September in Berlin (auf der Tagung Zerstreute Öffentlichkeiten). Damals bezog er sich zwar (vorerst) nur darauf, dass er (war ja klar!) auch der erste Politiker war, der zu Harald Schmidt gegangen ist (bzw.: auf die Verrisse dieses Auftritts). (Man kann sich aber des Eindrucks ja nur schwer erwehren, daß Guido in dieser Hinsicht wohl ein wenig neurotisch ist. Doch dazu gleich.) Wir sind uns jedenfalls jetzt schon sicher, dass es uns, statt langer Repliken, genügen wird, auf jede künftige entsprechende Kritiker-Schelte von Guido den Zwischenruf (seines Berliner Podiums-Gegenübers Frank Schirrmacher - jaja, doch) zu wiederholen: Vielleicht waren Sie auch einfach nicht gut!? Vorwurf (II. Teil) Fragte man nun aber, warum Typen / Politiker / Wirtschaftsbosse / Wissenschaftler / Autoren / Künstler / Prominente wie Westerwelle und Konsorten sich dennoch immer wieder auf alle möglichen >sone< Sachen einlassen und sich dabei auch noch zusehen, fotografieren und filmen lassen, bei denen sie (erwiesenermaßen) nicht gerade die beste Figur machen -Techno-Tanzen, Love-Parade, Christopher-Street-Day, Big Brother, Vernissagen, Pop-Konzerte, Late-Night-Shows, öffentliche Diskussionen zu Themen, zu denen sie allenfalls Fünftelwissen besitzen etc. -, man würde zweifellos vor allem Antworten nach dem Muster erhalten: Die wissen/deren Berater haben ihnen halt gesagt, daß dort jede Menge Wähler/Kunden/Leser zu holen sind; daß sie, mögen sie sich auch noch so blöd anstellen dabei, sich halt allein schon aufgrund der Tatsache, daß sie daran teilnehmen, Chancen darauf ausrechnen dürfen, ein ganzes, mittlerweile ungeheuer großes Milieu (>New Economy<-, Internet- und Kulturarbeiter, die sich überall breitmachende Spaß-Fraktion, ja sogar zahllose der sich irgendwie kultur- oder pop-links Verstehenden ...) für sich einzunehmen. Ich dagegen fürchte ja, daß es nicht allein diese ihre >Interessiertheit< ist, die sie da überall hintreibt. Ich fürchte ja, es ist schlimmer: Es ist ihnen ein geradezu existenzielles Bedürfnis.
. Das neue Naturtheater der Selbsterfahrung (I. Teil)
Für ein gerade erschienenes Buch über Christoph Schlingensiefs Big-Brother->Adaption< auf dem Wiener Opernplatz fragte sich Mark Siemons: Was steckt hinter den >Selbstprovokationen< Schlingensiefs? Seine Antwort: Ein generationstypischer Mangel. Aus dem ein generationsspezifisches Bedürfnis resultiert. Und man darf wohl ergänzen: Ein Bedürfnis, das (wie das halt so ist mit Bedürfnissen) manche vielleicht nur auf ausgesprochen anspruchsvolle Weise zu befriedigen vermögen (weshalb die Gesellschaft die Resultate dann oft auch als Kunst beobachtet) - andere jedoch offenbar auch schon auf recht anspruchslose Weise zu stillen vermögen. Das Ganz Andere der Generation Golf Bis zu einem gewissen Punkt wiederholt Siemons dabei (implizit) die Generation Golf-Diagnose: Man vergleicht sich mit >den 68ern<, unter anderem, und ist dann doch ziemlich enttäuscht von den (bzw. recht ernüchtert angesichts der) gesellschaftlichen Umstände(n), unter denen man selbst >groß werden< mußte. Alle nur denkbaren Individuierungs-Strategien scheinen längst hundertfach durchgenudelt, alle nur denkbaren Protestformen und -gesten schal und abgegriffen. Während nun Illies jedoch plausibel zu machen versucht, die Generation Golf habe längst gelernt, sich mit alldem abzufinden, scheint es ein wenig, als glaube Siemons noch immer (geradezu >lukacs-mäßig<) an einen Kern im Menschen, der sich mit der bloßen (?) Wiederholung, dem bloßen Kopieren von (und Spielen mit) bekannten Individualitäts-Mustern und Masken, niemals wird abfinden können: Irgendwie bleibt auch der Generation Golf noch die Sehnsucht/das Bedürfnis nach >nicht-entfremdeter<, >echter Erfahrung< , ja dem >ganz Anderen< erhalten. Doch selbst wenn eine bessere (also vor allem: jenseits aller Ideologien der Kern-Schule (Diedrich Diederichsen) angesiedelte) theoretische Erklärung dafür wohl erst noch zu suchen sein wird: Für Siemons´ Abwandlung der Generation-Golf-Diagnose spricht, empirisch, einfach viel zu viel, als daß man sie, der erwähnten theoretischen Mängel wegen, schon einfach zu den Akten legen könnte. Denn zu teilen scheinen die Angehörigen der Generation Golf (wie die angrenzender Generationen und Milieus) ja in der Tat, und darin eben besteht Siemons´ These >im Kern<, vor allem dies: die Bedürfnis- und Persönlichkeitsstruktur des Selbstprovokateurs (Siemons); eines Menschen also, der das deutliche Bewußtsein [hat], daß sein Verlangen nach wirklicher Erfahrung unter normalen Bedingungen nicht gestillt werden kann (Siemons) - und dessen Verlangen danach sich darum eben: >nicht-normale< Bedingungen zu verschaffen sucht. Niemand schließlich glaubt heute wohl im Ernst, zum Beispiel, noch daran, daß sich zu seinen Lebzeiten >68< noch mal wiederholen könnte - und doch dürfte da etwas dran sein: Auch die, die wie Schlingensief 1960 oder später geboren sind, wollen ihr Achtundsechzig erleben, die Intensität und Beschleunigung einer richtigen Revolte. (Siemons). Die Frage ist bloß: Wie? Bietet die Gesellschaft doch, wie sie heute nun mal ist, also zumindest >im Normalbetrieb<, dazu ja keine Gelegenheit mehr. Und so scheint sich als >die beste aller Möglichkeiten< eben diese anzubieten: auf künstlich geschaffene Versuchsanordnungen (Siemons) auszuweichen (die die gewünschten >nicht-normalen< Bedingungen simulieren) - und die den >Selbstprovokateur< dann unter Zugzwang setzen - ohne daß er vorher, bevor die Situation da ist, wissen könnte, wie er reagieren wird. (Siemons) Was die Angehörigen der Generation Golf um- und antreibt, sie zu (mehr oder weniger heimlichen) Selbstprovokateuren werden läßt, ist halt natürlich auch schon längst nicht mehr der Wunsch, >die Gesellschaft zu verändern<. Ihre Wünsche orientieren sich eher am heute noch sichtbarsten Resultat von >68<: Auch sie möchten halt irgendein >prägendes Erlebnis< haben, von dem sie den Rest ihres Lebens zehren können. Vor allem aber ist für sie eines besonders quälend: das Gefühl, sich gar nicht richtig zu kennen - weil ihnen die Gesellschaft eben jede Gelegenheit vorenthalten zu wollen scheint, >sich selbst kennenzulernen<. Und da >Aussteigertum< für die Generation nicht mehr in Frage kommt, die sich gerade daran macht, die Positionen der Berliner Republik zu besetzen (Siemons), muß es für sie eben am schlüssigsten scheinen: sich (>nicht-normale<, zugleich aber doch irgendwie >mitten in der Gesellschaft< angesiedelte) besondere Zonen / Ausnahmesituationen / Versuchsanordnungen zu suchen oder einzurichten, um etwas über sich selbst herauszufinden. (Siemons) Bereits an dieser Stelle könnte einem auffallen, daß sich dies (>etwas-über-sich-selbst-herausfinden-Wollen<) zum Beispiel auch alle Big-Brother-Kandidaten von ihrem Aufenthalt im Container versprachen und versprechen. Siemons dagegen beschließt seinen Text mit den Worten: Wer weiß, wozu das Programm der permanenten Selbstprovokation diese Generation noch verleiten könnte. Da bin ich ja schon versucht zu sagen: Ich! Beziehungsweise: Das liegt doch wohl für jeden offen zutage! Was die große Masse der heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen angeht, zumindest (!), ist doch wohl ziemlich unübersehbar, wozu sie dieses Programm vor allem anderen zu verleiten scheint. Das neue Naturtheater der Selbsterfahrung (II. Teil) So scheint mir das Interessanteste an Siemons´ Text dann auch darin zu bestehen, daß er Beschreibungen für die Motive und Aktionen Schlingensiefs findet, die einem schlagartig klarmachen, daß Schlingensiefs Aktionen einiges mit einer anderen, inzwischen ausgesprochen weit verbreiteten Versuchsanordnung gemein haben, der darüberhinaus aber eben auch die neuesten Fernsehformate (von Big Brother bis Inselduell oder Expedition Robinson), die Interaktionssituation beim >Daily-Talk< und noch viele andere heutige >Kommunikations-Sonderzonen< in Medien und Gesellschaft ähneln: der von Assessment Centern nämlich (AC). Für AC werden >natürliche< Situationen simuliert, allerdings extrem zugespitzt; es werden also >Elemente< aus dem >gesellschaftlich Möglichen< isoliert, herausgegriffen und dann in einer künstlichen Versuchsanordnung konzentriert und komprimiert versammelt, um zu ermitteln, wie zunächst mal: Stellenbewerber sich unter solchen Extrembedingungen verhalten (würden). Aber von dem Rollenspiel sollen, so sieht es die AC-Philosophie vor, auch die >Probanden< etwas haben: Sie sollen sich dabei selbst testen, herausgefordert fühlen und etwas über sich selbst erfahren sowie nicht zuletzt eben auch moch: lernen können, >jede Situation zu meistern<. Und hört man sich mal um, unter Leuten, die so etwas schon mal mitgemacht haben (und das sind unter den heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen mittlerweile ziemlich viele), kann man erfahren, daß sie selbst das auch genau so sehen. Und Siemons eben beschreibt nun auch Schlingensiefs Selbstprovokationen nach dem gleichen Muster. Auch sie sind ihmzufolge, zum Beispiel, bestückt mit aus dem Zusammenhang gelösten Elementen. Auf >Big Brother< trifft das natürlich sowieso zu. Es geht aber außerdem nicht nur für Schlingensief, sondern offenbar genauso für die Teilnehmer an >Daily-Talks<, >Big Brother< oder manchen >Internet-Chats<, zum Beispiel, ja wohl selbst für AC-Probanden darum, in den so geschaffenen Ausnahmesituationen, ihre Sehnsucht nach ganz unironischem Engagement (Siemons) wenigstens einmal >virtuell< befriedigen zu können. So muß es dann scheinen, als würden die Massenmedien/als würde die Unterhaltungsindustrie der modernen Gesellschaft eben genau darum gegenwärtig immer neue >Selbst-Testzonen< und >-versuchsanordnungen< ersinnen (müssen) und der Generation der Selbstprovokateure für ihre Selbstprovokationen zur Verfügung stellen (müssen). Das bislang populärste und erfolgreichste Exempel, Angebot und Vorbild stellt dabei aber auf jeden Fall >Big Brother< dar - und das fast weltweit. Und jedenfalls (leider) nicht Schlingensief. Die Folgen der Identitäts-Semantik Eine bestimmte Erklärung (jenseits aller Ideologien der Kernschule) für das alles könnte man sich, scheint mir, außerdem durchaus schon mal durch den Kopf gehen lassen: Nach der nun schon nahezu zwanzig oder noch mehr Jahre währenden Konjunktur eines >Identitäts-Diskurses< psychologischer Provinienz - der nicht zuletzt auch die heute wohl wichtigste >Individualitäts-Semantik< prägt -, dürfte den mit dieser aufgewachsenen Individuen immer deutlicher auffallen, daß die in der Logik dieser Semantik erwünschte individuelle Identität sich irgendwie nicht so recht einstellen will. Folgt man Hans-Ulrich Wehler, der gerade (FAZ Literaturbeilage v. 14.11.00, S. L22) Erik Erikson als denjenigen Autor ausgemacht hat, der die Einzelheiten des gegenwärtigen >Identitäts-Diskurses< (via USA) auch hierzulande am stärksten geprägt hat, so würde sich im selben Zug auch gleich noch das Zurückgreifen auf >Extremerfahrungen< erklären lassen: Nach Erikson sind stabile Identitäten nur zu erreichen, wenn man schwierigen Identitätskrisen ausgesetzt war - und diese erfolgreich bewältigt hat. Daß das tatsächlich gelingt, darf man wohl bezweifeln; eine >Lösung< des >Identitäts-Problem< dürfte es in der modernen Gesellschaft sowieso nicht mehr geben: Man sieht nur, daß dem Individuum die Reflexion seiner Einheit aufgegeben ist; und man sieht, daß es dabei nicht mehr um Heilsgewinnung und nicht mehr um Steigerung in Richtung Perfektion geht, sondern um die Lösung von Problemen, die sich aus der modernen Gesellschaft für den Einzelnen ergeben. Eben das schließt es aber aus, daß die Gesellschaft zugleich auch die Lösung dieser Probleme, die Individualität der Individuen vorgibt (Luhmann) Oder pointierter: Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert. Es benötigt ein musikalisches Selbst für die Oper, ein strebsames Selbst für den Beruf, ein geduldiges Selbst für die Familie. Was ihm für sich selbst bleibt, ist das Problem seiner Identität. (Luhmann) Man kann natürlich dennoch, ebenfalls mit zum Beispiel Luhmann, ausmachen, daß in der Gesellschaft immer >Lösungsstrategien< für das >Identitäts-Problem< des Individuums angeboten wurden und werden, es schon immer zahllose Menschen in Lohn und Brot zu bringen vermochte und wohl auch künftig (und vielleicht noch mehr) bringen wird, vor allem aber: daß die gesellschaftliche Evolution einen ständigen Wechsel hinsichtlich der Professionen produziert, die das Individuum bei der Suche nach möglichen Wegen zur Herstellung seiner Einheit jeweils betreuen: von Beichtvätern und theologischen Lebensberatern zu Romanciers und, schließlich, Psychiatern und Therapeuten. Heute scheinen die Erfinder und Veranstalter von >Versuchsanordnungen der Selbstprovokation< die Nase ziemlich weit vorne zu haben: John de Mol, Assessment-Center-Entwickler, Manager- und Freizeit-Ich-Trainings-Lager-Entwickler (und Schlingensief, bei dem man ja gelegentlich auch mitmachen darf!) Was im neuesten Naturtheater gezeigt und geübt wird: Sich selbst Spielen Versteht man einmal, (unter anderem) BB wie AC zu beobachten, wird einem auch klar, warum alle Versuche, zu unterscheiden ob BB-Kandidaten nun spielen oder authentisch sind, immer so hilflos erscheinen müssen. Man ist in AC authentisch, ganz man selbst - und spielt doch zugleich auch. Man spielt eben: sich selbst, sein eigenes Selbst (was auch schon Slavoj Zizek an >Big Brother< aufgefallen war). Teilweise geht es auch darum, nur einen ganz bestimmten, isolierten Teil seines Selbst, nur eine bestimmte Seite der eigenen Persönlichkeit zu spielen. (Und unterschlagen werden soll hier auch nicht, daß auch mir das alles, insbesondere wenn es über längere Zeiträume gefordert ist, wie bei Big Brother (wo man über 100 Tage, ich würde mal sagen: nach Möglichkeit nur >die attraktivsten Seiten des eigenen Freizeit-Ichs< zu spielen hat - und dabei tatsächlich auch schwierige Identitätskrisen zu bewältigen haben mag), eine durchaus Respekt abnötigende Leistung darzustellen scheint. Aber das ist eine andere Geschichte. Beziehungsweise: Ich wüßte nicht zu sagen, warum mir gerade dies nun das ganze Theater besonders sympathisch machen sollte.) Nun braucht es, selbst für die >Ärmsten< unter den >modernen Selbstprovokateuren<, zwar auch noch ein weiteres Moment. Die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, daß das >Sich-selbst-Spielen< als interessant und lohnend empfunden werden kann - sie besteht allerdings wiederum in einem Element, das alle neuesten >Versuchsanordnungen< gemeinsam haben: Daß man dabei nämlich, wie in AC, ständiger Beobachtung ausgeliefert ist. Was die >extreme Selbsterfahrung< zum einen erst beglaubigt (und ihr darüberhinaus, durch ihren öffentlichen Charakter, wohl auch noch einen >Tick< mehr 68er-Flair verleiht). Vor allem aber verbindet Schlingensief, Big-Brother- und AC-Kandidaten sowie zum Beispiel auch Leute, die ihr Privat-Leben via >Web-Cam< öffentlich machen, eben wohl dies: Sie alle scheinen zu bestätigen, was Anthropologen seit längerem vermuten, daß nämlich die aktuell gültige Abwandlung von Descartes >Cogito< so geht: Ich existiere nur insofern, als ich dauernd beobachtet werde (Claude Lefort) Es wäre dann allerdings wohl auch mal zu überlegen, was es bedeuten mag, daß damit heute andererseits auch bloß technisch ermöglicht zu werden scheint, eine >Moral< zu popularisieren, die schon Teil frühmoderner Klugheitslehren war. Lautet zum Beispiel doch schon eine Maxime in des Jesuiten Gracian (1601-1658) berühmtem Handorakel: STETS HANDELN, ALS WÜRDE MAN GESEHEN. Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn sieht oder doch sehen wird. Er weiß, daß die Wände hören (...). Auch wenn allein, handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. Denn da er weiß, daß man einst alles wissen wird, so betrachtet er als schon gegenwärtige Zeugen die, welche es durch die Kunde späterhin werden müssen. Jener, welcher wünschte, daß die ganze Welt ihn stets sehen möchte, war nicht darüber besorgt, daß man ihn in seinem Haus aus den nächsten beobachten konnte. Daß BB im gardinenlosen, calvinistischen Holland erfunden wurde, könnte einem außerdem als ein weiterer Hinweis darauf gelten, daß wir es bei der Art, wie die >Generation-Golf< ihre Identitäts- und Individualitäts-Probleme anzugehen versucht, vielleicht doch mit einer verzwickteren Angelegenheit, mit einer vielleicht sogar ziemlich raffinierten Amalgamierung verschiedenster Traditionen zu tun haben. (Aber darauf werde ich hier jetzt nicht auch noch eingehen.) (Aber: Wie interessant das ganze Thema doch eigentlich ist - oder? Ganz sicher jedenfalls ist noch längst nicht alles rausgeholt, was da an Möglichkeiten drin steckt!) (Und ansonsten wollte ich ja auch nur mal andeuten, daß mir das hier natürlich auch noch nicht als der Weisheit letzter Schluß erscheint.) Wie auch immer. Festhalten wollen wir hier wenigstens noch, daß man in AC wie in allen hier erwähnten >Versuchsanordnungen< vor allem >improvisieren< muß - aber gerade dadurch eine repräsentative Stichprobe (wie es in der AC-Litertur heißt) seines Selbst abliefert. Dem einen mag das besser (etwa >überzeugender<) gelingen, dem anderen schlechter. Es in jeder Situation/unter allen Umständen zu können, zählt in einer >Gesellschaft von Selbstprovokateuren< aber jedenfalls zu den höchsten Werten, die über die Verteilung von Anerkennung und Prestige entscheiden. Was die Nachfrage nach Orten, an denen man es üben, proben und lernen kann, nur noch einmal verstärkt. Das Naturtheater von Oklahoma: Sollen denn am Ende etwa alle Alpträume Kafkas in der Moderne einmal Realität werden? (Man wird ja wohl noch fragen dürfen!) Wie kommt man in diesem Zusammenhang nun auch auf Kafka? Karl Roßmann, der >Held< in Kafkas unvollendetem Roman >Der Verschollene<, ist ein Emigrant (aus Deutschland), der in den USA (fast) alles versucht, um >Fuß zu fassen<. Doch nichts will gelingen. Im letzten Kapitel des Romans (betitelt eben: >Das Naturtheater von Oklahoma<) jedoch scheint er endlich seinen Platz zu finden - an dem er einfach >er selbst< sein zu dürfen scheint. Für den Leser allerdings bleibt ausgesprochen unklar, wo Karl denn da eigentlich gelandet ist. Und auch Kafkas Held selbst ist verwundert, daß er sich da bei einem >Theater< beworben hat und einmal aufgenommen dementsprechend, mit vollem Recht, glaubt, er sei nun als Schauspieler engagiert. Allerdings nur, um dann irritiert festzustellen, daß es diesem Theater offenbar ganz zuletzt darauf ankommt, ob man zum >Schauspielen< sich eignet; oder sich auch nur berufen dazu fühlt. Die Angeworbenen müssen sich offenbar nur >für irgendetwas< eignen. Sie werden gar nicht als Schauspieler, sondern offenbar als das engagiert, was sie eben sind: europäische Mittelschüler, Liftjunge, technischer Arbeiter. Das Theater von Oklahoma scheint wirklich jeden brauchen zu können. Es sieht sehr danach aus, als solle hier jeder nur spielen, was er eben kann (bzw. ist). Das Theater von Oklahoma scheint darüberhinaus auch nicht unbedingt an Qualität, sondern vor allem: an Vollständigkeit interessiert zu sein - wie Noah: von jeder >Gattung< wenigstens ein Exemplar. Irgendwie wird man, zumindest von heute her, das Gefühl nicht los, es könnte sich hier um eine Vorahnung Kafkas des neuesten >Naturtheaters< handeln, als sei Kafka das als heimliches Telos der modernen/amerikanischen Kultur erschienen: Daß sie sich dereinst selbst noch einmal in >einem Theater< abzubilden, sich zu duplizieren versuchen wird, sie von möglichst jedem >Exemplar< der in ihr möglichen Individuen wenigstens eines der Gesellschaft zur ausgiebigen Beobachtung zur Verfügung stellen wollte; allerdings nur scheinbar wie in einem Menschenzoo (wie jüngst wieder in der taz gemutmaßt, taz v. 31.10.00, S.12; denn es geht den Zuschauern auch von BB ja darum, sich etwas abzuschauen von den Kandidaten, vielleicht auch, sich von ihnen zu unterscheiden - was aber immer noch voraussetzt, sie erst einmal wie eine andere Möglichkeit des eigenen Selbst zu betrachten; und also jedenfalls: nicht wie Tiere im Zoo) (zugegeben sei aber, daß zumindest im Falle des Naturtheaters von Oklahoma auch diese Möglichkeit offenbleibt), eher aber wie eine Zone mitten in der Gesellschaft, in der sie sich selbst erprobt, in der sie mit sich experimentiert, ohne je das Erprobte, Angedachte, in ihr selbst Wirklichkeit werden zu lassen. Stattdessen wird hierhin (zu BB, ins Naturtheater von Oklahoma) die Energie kanalisiert, umgeleitet, die sonst in der Gesellschaft keinen Ort, kein Ziel findet (wie Karl Roßmann). Hier bekommt sie eins. In AC, bei BB, bei Schlingensief, erhält das gesellschaftlich Potentialisierte, erhalten alle nicht (gleich) verwirklichbaren Möglichkeiten eine Chance, wenigstens einmal >virtuell< durchgespielt zu werden. Und das führt dann auch zurück zu Musil. Es geht allerdings längst nicht mehr nur um einen Mann ohne Eigenschaften. Mittlerweile geht es um eine ganze Gesellschaft ohne Eigenschaften - jedoch eben: mit Möglichkeiten. Und zwar unzähligen. Und da sie sie eben nicht alle gleichzeitig, beziehungsweise: überhaupt irgendwann einmal alles realisieren kann, bietet sie für den so ständig in Wartestellung verharrenden >Überschuß< an Möglichkeiten (und Individuen) Zonen an und aus, in denen diese >virtuell realisiert< werden können (Zonen, die so also auch eine Inklusions-Funktion für anders nicht Inkludierbares - und Inkludierbare - anbieten). Man könnte hier auch an Luhmanns obersten Eigenwert der modernen Gesellschaft denken, an >Kontingenz<, und also daran, daß nichts mehr notwendig so bleiben zu müssen scheint, wie es ist, es darum aber auch immer schwerer wird unter den Möglichkeiten, wie es denn sonst noch sein könnte, zu wählen. So scheint dann jede Möglichkeit gerne ergriffen zu werden, mögliche Alternativen mal (irgendwo) erproben zu können, bzw. bei ihrer Erprobung beobachten zu können. Bloß: Wo? Am ehesten doch wohl in >Naturtheatern<, in >Versuchsanordnungen<, die die Realität duplizieren, allerdings unter kontrollierten, domestizierten Bedingungen. Man kann ja nicht alles einfach so >wirklich< tun, wirklich zulassen! Sicherer jedenfalls ist es doch, eventuelle Konsequenzen vorher in experimentellen Anordnungen zu ermitteln und zu testen! Und sicherer ist es eben, in genau diesem Sinne, auch für die modernen Individuen, die eigenen Möglichkeiten erst einmal unter solchen Bedingungen zu testen! Nachdem man dann auch noch erfahren hat, daß das Theater von Oklahoma im ganzen Land Personal zu rekrutieren und zu aquirieren versucht, und überall offenbar nach demselben Muster: Was können Sie? Jaja, schön, egal - genau das wollen wir sehen! fühlt man sich doch sehr an das offensichtliche Motto des neuesten Fernsehens erinnert: Die Gesellschaft will über alles informiert sein, was möglich ist. Also zeigen wir ihr alles und jeden, das und der möglich ist! Darum brauchen wir Sie! Sie sind eine Möglichkeit, und wir brauchen sie alle! Der ambivalenteste Schluß, den man sich denken kann
Am Ende seiner Odyssee auf dem Weg zu sich selbst scheint sich der >Durchschnitts-Selbstprovokateur< heute bei BB ebenso aufgenommen und ebenso angekommen fühlen zu können wie Karl Roßmann im Theater von Oklahoma. Und wie das Theater von Oklahoma scheint auch Big Brother alles in sich aufnehmen, alles aufsaugen, ins Endlose expandieren zu können. Hier paßt alles rein, hat alles Platz, kann jeder mitmachen. So haben Medienwissenschaftler für Big Brother dann auch schon Neologismen wie Hybridformat und Reality-Soap-Talk-Game-Event erfinden müssen - um klar zu kommen, mit dem, was ihnen da begegnet. Zusammen mit Guido ist nun also auch noch Politik-Geplauder hinzugekommen. Was die Frage angeht, was darüber hinaus noch aus dem Programm der permanenten Selbstprovokation enstehen könnte, so darf man wohl erwarten, daß das meiste in derselben Richtung liegen wird. Es dürfte jedenfalls weder politisch noch künstlerisch besonders interessant und relevant sein. Ganz offensichtlich suchen die meisten nach den benötigten >starken Selbsterfahrungen< (die ihnen allererst erlauben sollen, sich selbst kennenzulernen) heute in der modernen Freizeitkultur; die >Generation der Selbstprovokateure< dürfte also vor allem für eine weiterhin ungebremste Expansion der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie sorgen. Daß diese so zugleich eine immer größere Rolle für die Individuierung aller Einzelnen zu spielen beginnt; ein Auftritt in irgendeiner massenmedialen >Versuchsanordnung< inzwischen zum selbstverständlichen Bestandteil jeder Biographie zu zählen scheint; die Massenmedien immer mehr Personal rekrutieren scheinen, mit der Tendenz, am Ende jeden Menschen (mindestens einmal in seinem Leben) vor Kameras >sich selbst spielen< zu lassen (bloß warum?) - all dies stellt dann eben andererseits immerhin für die Gesellschaftstheorie ja doch schon wieder interessante Herausforderungen dar. Und schließlich hat die Soziologie seit dem >Kulturindustrie-Kapitel< (Adorno/Horkheimer) keinen ebenso grundsätzlich ansetzenden Versuch zur Erklärung von Ausmaß und Eigenarten des >Unterhaltungskomplexes< in der Moderne mehr unternommen, kein nach einer ebenso umfassenden Erklärung für all das strebendes Konzept mehr vorgelegt. Vielleicht könnte >Big Brother< sie hier auf neue Ideen bringen? Fällt einem sonst gar nichts mehr ein, kann man sich bis dahin ja vielleicht damit beruhigen, daß es auf jeden Fall immer noch besser ist, wenn die (meisten) Generationsgenossen ihre >Extremerfahrungen< in der >Freizeit- und Unterhaltungsindustrie< suchen; und auch zu finden vermögen - und nicht im Krieg, zum Beispiel, wo ja so mancher Angehörige anderer Generationen sie einzig finden zu können meinte (und auch nicht in religiös-spirituellem Hokuspokus, nicht in lebensgefährdenden Drogen, nicht in der Verwirklichung menschenverachtender, totalitärer Utopien, nicht im Sport ... allerdings eben auch nicht: in der Verwirklichung feinster, menschenfreundlichster Utopien, nicht im Sex....) Eben. Wie gesagt: Vielleicht. Und Guido? Guido wollte sich halt auch mal auf die Probe stellen - wie er sich denn so unter fröhlichen jungen Menschen anstellen wird. Er hat es nur für eine Stunde gewagt und nahm sich dabei auch noch ausgenommen steif, blaß und unwitzig aus. Er ist halt schon ein ausgesprochen großes Weichei - selbst für das Zeitalter der Freizeit-Selbstprovokateure. |
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