Zweistundenfünfzigminuten: Schönheit.
Zweistundenfünfzigminuten: Erlesene Körper, elegante Bewegungen,
wunderbare Einfälle und Rätselbilder wie das, gleich zu Beginn:
Männer, die liegen, Frauen, die daneben knien, die langen Haare fallen
und die Frauen schlagen, bürsten sie wie in einem Ritus, dessen Bedeutung
sich nicht wirklich erschließt. Überhaupt: Aufs allzu Eindeutige
verfällt Bausch, in den Pas de Deux und den vielen Solotänzen kaum.
Das Wasser, das zu fallen scheint und zu steigen zugleich im hinteren Drittel
der Bühne, erlaubt die Bosporus-Assoziation, aber erzwingt sie nicht.
Hübsch, wie einer unter Verrenkungen daraus trinkt und in hohem Bogen
wieder ausspuckt. Geschmäcklerisch eher das Tablett-Boot, das übers
Wasser gezogen wird an beinahe unsichtbaren Fäden. Viel stille
Schönheit, aber eben auch viel Ausstellung des Stillen am Schönen.
Sparsam, ausgestellte Sparsamkeit, die Bühne: Leer, Bretter, das Wasser,
das sich zum Kreis versammelt, Tische ein paar Mal, Stühle, mehr nicht.
Andere Momente, natürlich, etwa wenn vor dem auf dünnsten
Vorhangschleier geworfenen Meer eine wilde Gesellschaft rennt, räumt,
isst. Erst recht, wenn auf demselben Schleier Autos frontal auf die Kamera,
auf das Publikum, auf die Tänzerin, den Tänzer zuhalten, die, tanzend,
rennend, vor ihnen flüchten zu wollen scheinen. Das ist freilich vorbei
wie ein Spuk. Wie der Spuk, später, hinter dem Schleier, nun transparent,
als sich um eine Frau, die von links mit weißem Vorhangstoff nach rechts
wie schwebt, eine Gesellschaft zum Gruppenfoto findet. Das ist hinreißend
und mancher Solotanz, mancher Pas de Deux mit Hebe-, Schwebe-, Tragefiguren
nimmt beinahe den Atem. Oder die Schriftprojektion, deren Kreisbewegung die
Tänzerinnen aufnehmen, der sie folgen, gereiht.
Aber.
Zweistundenfünfzigminuten: Schönheit. Szene folgt auf Szene wie
Perlen einer Kette. Allein, das haltende Band, die Schnur, die die Perlen
zur Kette fügte, will sich nicht finden. Leitmotive gibt es,
natürlich: das Wasser, das Orientalische (mal türkisch, aber auch
spanisch, auch indisch, die Truppe ist international gemischt, das alles
zu Ethno-, aber auch lässiger Jazzmusik; oder Tom Waits: am Ende, als
Rausschmeißer), die Paar- bzw. Geschlechterverhältnisse. Es löst
sich auf in die Schönheit des Ornaments (Rockgeschüttel, ein
Schmetterling aus roter Farbe), es löst sich auf in die eine Nummer,
die der anderen folgt. Und natürlich ist das alles zu geschmackvoll,
um den Kitsch auch nur zu streifen. Ins Geschmäcklerische aber driftet
es sehr wohl, schon weil die Spannung fehlt, die die einzelnen Teile aufeinander
in anderer als summierender Weise bezöge. Merkwürdiger Effekt:
Die Teile, die schön sind, schöner, am schönsten, ergeben
am Ende weniger als man dachte. Nicht an Applaus, der ist von einem zu weiten
Teilen volksbühnenfremden Publikum geradezu rasend. Aber an, sagen wir:
Sinn. Sagen wir auch: Berührendem. Die Schönheit, auch die
Virtuosität reißen hin für Momente. Es reicht jedoch nicht
für den Rausch. Wenn es ein Zuviel der Schönheit gibt, dann lässt
es sich hier erleben. Die Mitte von "Nefes" (türkisch für "Atem")
bleibt eigentümlich leer. Ein exquisiter Abend, auf höchstem Niveau.
Im Theater gewesen, nicht geweint. |