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Bollywood 101

Eine Einführung in Geschichte und Ästhetik des Bollywood-Films

Der Text ist in der Zeitschrift Splatting Image Nr. 62, Juni 2005, erschienen und dort um viele Abbildungen reicher. Der Text ist in die folgenden Kapitel untergliedert:

- Geschichte
- Ästhetik
- Wichtige Filme
- Kommentierte Literaturliste und Links

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Von Ekkehard Knörer 

Kürzlich wurden gleich bei zwei deutschen Fernsehsendern eine Reihe von Bollywood-Filmen ausgestrahlt: bei Arte und RTL 2. In Berlin bekommt man Bollywood-Filme entweder im Arsenal zu sehen, zwischen Avantgarde und Filmgeschichte, oder alle zwei Wochen im City Kino Wedding, wo man vor allem Inderinnen und Inder antreffen wird. Bollywood in Deutschland ist also angesiedelt zwischen Trash und Kunst, Exotik und Diaspora, mit einem Wort: ein Sonderfall. Erst seit kurzer Zeit wagt sich der zuvor auf Asiatika anderer Art spezialisierte Verleih REM auch an die deutsche Kino- und Video-Auswertung von Bollywood-Produkten, zuvor gab es jahrzehntelang: nichts, nada, Bollywood fand, außer für die indische community, einfach nicht statt.

Dabei war Bollywood nie eine quantité negligeable, sondern ist seit Jahrzehnten nicht weniger als die größte Kinematografie der Welt. Als im letzten Jahr die BBC eine weltweite Umfrage startete, wer der berühmteste Entertainment-Star des 20. Jahrhunderts sei, landete der im Westen kaum bekannte Amitabh Bachchan ("The Big B", wie er in Indien heißt) auf Platz eins, für Auftritte des seit gut zehn Jahren größten Star des Subkontinents Shah Rukh Khan zahlt man auch in Deutschland, umgeben von NRIs (non resident Indians) ein paar Hundert Euro. Die Begeisterung, die dabei herrscht, vermittelt wenigstens eine leise Ahnung vom göttergleichen Status, den die berühmtesten Schauspieler in Indien genießen.

Indien ist die filmverrückteste Nation der Welt – und die einzige, in der Hollywood ohne alle Steuerungs- und Zensurmaßnahmen einen Marktanteil von unter fünf Prozent hat. Die gerne kolportierte Behauptung, dass Bollywood jedes Jahr etwa achthundert Filme und somit dreimal mehr als Hollywood produziert, ist nicht ganz korrekt - aber nur deshalb nicht, weil der Begriff "Bollywood" in der Regel nur das Hindi-sprachige Kommerzkino umfasst. Richtig wird die Behauptung, zählt man die in anderen Sprachen (Tamilisch, Malayalam, Telugu etc.) gedrehten indischen Filme dazu. (Die genauen Zahlen für 2004: 934 Filme in ganz Indien, 244 in Hindi. Übrigens ist Indien, was die schieren Produktionszahlen angeht, inzwischen von der nigerianischen Video-Industrie überholt worden, die im letzten Jahr mehr als 1000 ihrer No-Budget-Werke auf den Markt warf. In Aufwand wie Machart ist ein Vergleich zwischen "Nollywood" und "Bollywood" allerdings nicht zulässig.)

Der Name "Bollywood" ist eine Ende der 70er Jahre entstandene, sehr unscharfe, einst eher unfreundlich gemeinte, heute allerdings durchgesetzte Bezeichung. Das B steht für "Bombay" (das heute offiziell Mumbai heißt), wo seit jeher die größte Filmindustrie des Subkontinents beheimatet ist, diejenige mit dem größten Einzugsbereich, der umfangreichsten Produktion und den bekanntesten Stars. Gedreht wird in der am weitesten verbreiteten Sprache "Hindi", die allerdings in Bombay selbst gar nicht die Hauptsprache ist. Bollywood ist auch in Bombay eine Welt für sich, in der andere Regeln gelten als in der indischen Gesellschaft sonst. So ist die Präsenz von Muslimen hier außergewöhnlich hoch, was man schon daran sieht, dass der größte Star Bollywoods im letzten Jahrzehnt – eben Shah Rukh Khan – ein Moslem ist, während zur gleichen Zeit die hindu-nationalistische Regierung gegen anti-muslimische Ausschreitungen und Stimmungsmache in verschiedenen Landesteilen wenig unternahm.

Geschichte

Eine eher hybride Mischkultur war Bollywood – nicht ganz unähnlich dem amerikanischen Pendant – von Anbeginn. Durch die britische Kolonialherrschaft existierte, besonders in Bombay, Zugang zu den neuesten westlichen Entwicklungen. Schon 1896 tauchten Abgesandte der Lumière-Brüder aus Paris in der Stadt auf und führten – allerdings exklusiv für Weiße – die ersten Filme vor. Neben den westlichen Einflüssen waren aber von Beginn an sehr spezifische indische Traditionen für die Herausbildung einer eigenen Filmkultur von Bedeutung. In den meisten Darstellungen wird das Theater der Parsi an erster Stelle genannt, dessen Zentrum zunächst auch in Bombay lag und das im Laufe des 19. Jahrhunderts zu großer Popularität gelangt, mit indischen Stoffen, aber auch mit (vor allem: musikalisch) indianisierten Shakespeare-Varianten. Im Vordergrund standen, ganz wie später im indischen Tonfilm, Song und Dance und der Sinn fürs Spektakuläre und Sensationelle.

Als Vater des indischen Kommerzkinos gilt heute Dadasaheb Phalke, der sich auf einer Reise nach London im Jahre 1912 das nötige Knowhow aneignete und darauf in seine Heimat zurückkehrte, um die einheimischen Göttermythen und Geschichtslegenden auf Zelluloid zu bannnen. Von seinen Filmen sind, wie von großen Teilen der Stumm- aber auch beträchtlichen Mengen der späteren Tonfilmproduktion, nur noch Bruchstücke erhalten. Das kann nicht verwundern angesichts des der Konservierung nicht gerade zuträglichen Klimas – und vor allem angesichts einer Haltung, die das populäre Kinoerbe teilweise bis heute nicht als kulturell wertvoll erachtet. Schon mit dem ersten Tonfilm, Alam Ara (1931) waren die Weichen gestellt für die entscheidende Abweichung vom westlichen Kino: Die Erzählhandlung wird siebenmal durch Musik- und Tanzeinlagen unterbrochen, die Filme sind deshalb für westlichen Geschmack von zum Teil beträchtlicher Überlänge. Alam Ara war gleich ein großer Erfolg und fand deshalb jede Menge Nachahmer. Seitdem gehört zum Bollywood-Film die Song-and-Dance-Sequenz und bis heute muss man die Geschichte des populären indischen Films mit der Lupe durchsuchen, um auf Filme zu stoßen, die ohne diese Einlagen auskommen. Auch in einer anderen Beziehung wurden Weichen gestellt.

Sehr rasch kam es in den zwanziger und dreißiger Jahren zur Herausbildung eines Hollywood strukturell, wenngleich natürlich nicht finanziell vergleichbaren Studiosystems. Tejaswini Ganti stellt allerdings fest: "Anders als in Hollywood kam es nie dazu, dass eine Handvoll Studios das gesamte Geschäft monopolisierten – und die meisten indischen Studios kontrollierten, anders als in Hollywood, weder den Verleih noch die Kinos. Die fehlende Integration von Produktion, Verleih und Vorführstätten war für die erhebliche Mortalitätsrate der Studios verantwortlich, die nach einer Serie von Fehlschlägen oder gar nur einem Riesenflop bankrott gingen. Was in der Filmgeschichtsschreibung als die 'Studio-Ära' bezeichnet wird, ist in Wahrheit nur ein kurzes Kapitel in der Geschichte des indischen Kinos." (Ganti: S. 15)

Die bedeutendsten – und langlebigsten – Studios waren Imperial Films, der einzige große integrierte Konzern, der von 1928 bis 1936 existierte, die Prabhat Film Company, die sich 1933 in Pune niederließ, 170 Kilometer von Bombay entfernt, das bengalische Studio New Theatres, in Kalkutta angesiedelt und in guter bengalischer Tradition mit häufigem Bezug auf literarische Vorlagen künstlerisch recht ambitioniert. Am interessantesten ist vielleicht die Entstehungs-Geschichte von Bombay Talkies, dem Studio, das einige der besten Filme der dreißiger und vierziger Jahre produzierte. Die Geschichte seiner Gründung reicht zurück in die zwanziger Jahre und sie ist mit einem der exotischeren Kapitel des deutschen Stummfilms verknüpft. Im Jahr 1925 entschloss sich der Regisseur Franz Osten, einen Film in Indien zu drehen, der exotischen Schauwerte wegen. Eigentlich hieß Osten Franz Ostermayr und war einer der Brüder, die in München die Emelka-Filmstudios gegründet hatten, aus denen später die Bavaria entstand. Also reiste Osten mit einem Münchner Team nach Indien, dort entstand der Film "Die Leuchte Asiens", eine Art exotisch gewürzter Heimatfilm.

Schon in Deutschland hatte Osten Bekanntschaft mit einem Mann geschlossen, der sich vom Medium Film begeistert zeigte. Sein Name war Himansu Rai und dank seines Enthusiasmus und seiner Anstrengungen setzte sich der Austausch zwischen Indien und Deutschland fort. Osten drehte im Westen von der Kritik wenig beachtete Heimatfilme und ging in den dreißiger Jahren nach Indien, um nun dort mit gemischten Teams Produktionen in Hindi und auch sonst im filmsprachlichen Idiom des Subkontinents zu drehen. Rai fungierte dabei oft als Darsteller und als Produzent, es kam zur Gründung des Studios Bombay Talkies, das auch nach dem Tod Rais und der Ausweisung Ostens im Jahr 1939 einige der Filmprofis aus dem Westen weiterbeschäftigte. So blieb etwa der aus Österreich stammende Kameramann Josef Wirsching bis in die 60er Jahre aktiv und verlieh vor allem den wichtigsten Filmen des Dichters und Regisseurs Kamal Amrohi seine sehr eigene, deutlich an den deutschen Stummfilm der zwanziger Jahre erinnernde Handschrift.

Die wohl spektakulärste Figur im frühen indischen Tonfilm war gleichfalls ein Import, diesmal allerdings aus Australien. Für das von mehreren Brüdern geführte Studio Wadia Movietones drehte Mary Evans unter der Regie von Homi Wadia und mit dem programmatischen Künstlernamen Fearless Nadia mehrere höchst erfolgreiche Filme als wahrhaft furchtlose Action-Heldin. Am berühmtesten wurde die Figur der Hunterwali, ein weiblicher Zorro, Peitschen schwingend, aber bereits in Miss Frontier Mail von 1936 sind die Charakteristika zu bewundern, die Mary Evans zum wohl ungewöhnlichsten Star in der Geschichte des an Ungewöhnlichkeiten gewiss nicht armen Bollywood-Kinos machten. Zu sehen sind jede Menge Kämpfe und Tote, Gefangennahmen und Fluchten, Anschläge und spektakuläre Rettungsaktionen. Mehrfach rasen, nach Art des Thrillers, Züge aufeinander zu, aber auch an Slapstick-Elementen fehlt es nicht. Alles konzentriert sich dabei auf die Heldin, einen wahrhaft unwahrscheinlichen Star: blond, blauäugig, griechisch-australischer Abstammung, Hindi sprechend mit heftigem Akzent, selbst für das indische Schönheitsideal wohl ein bisschen zu wenig schlank. Aber fäusteschwingend, über Zugdächer rennend, an den Kraftmaschinen arbeitend, Männer über die Schulter werfend und Welten entfernt von den ätherischen Heldinnen, die das Bollywood-Kino in aller Regel bevorzugt, von den kultisch verehrten Heroinen der vierziger und fünfziger Jahre wie Madhubala oder Meena Kumari bis zu den etwas emanzipierteren weiblichen Stars der Jetztzeit wie Aishwaria Rai oder Madhuri Dixit.

Schon in den fünfziger Jahren geriet das indische Studiosystem an sein Ende. Das hatte – ganz anders als in den USA – nichts mit dem Fernsehen zu tun, das in Indien vor allem aufgrund der durch die Größe des Landes bedingten technischen Schwierigkeiten erst seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre seine zunehmend bedeutende Rolle spielt. Abgelöst wurden die Studios durch kleinteiligere Familienunternehmen mit undurchsichtigen Produktionsstrukturen und oftmals dubiosen Finanzierungswegen: Der Einfluss der Mafia auf die als Geldwaschanlagen genutzte Filmindustrie (die allerdings bis in die jüngste Vergangenheit steuerlich nicht als Industrie anerkannt war) ist bis in die Gegenwart beträchtlich, wenngleich vielleicht nicht ganz so beträchtlich, wie in den ins Kraut schießenden Gerüchten immer wieder gemunkelt wurde und wird.

Als höchst erfolgreich erwiesen sich – und erweisen sich bis heute – Organisationsstrukturen, in denen wenige Beteiligte stets mehrere Rollen auf einmal spielten, etwa bei Yashraj Films, einem Familienunternehmen, bei dem die Brüder B.R. (bis zu seinem Tod) und Yash Chopra sich die Aufgaben zwischen Produktion und Regie, Auswahl der Bücher, Komponisten und Darsteller teilten. Yash Chopra, der seit Jahrzehnten im Geschäft ist, hat mit seinem jüngsten Werk, der indo-pakistanischen Romanze Veer-Zaara – in diesem Jahr auch auf der Berlinale zu sehen – nicht nur mal wieder einen riesigen Publikums-Erfolg gelandet, sondern auch die wichtigsten Auszeichnungen in Indien gewonnen. Sein Sohn Aditya führt als Autor (auch für Veer-Zaara) und Regisseur (Mohabbatein) die Familientradition höchst erfolgreich fort.

Bereits die beiden großen Regie-Stars der 50er Jahre, Guru Dutt und Raj Kapoor, vereinigten die gesamte Produktion ihrer Filme in eigener Hand. In ihren wichtigsten Filmen traten sie zudem nicht nur als Produzenten und Regisseure, sondern auch als Hauptdarsteller in Erscheinung. Berühmt waren auch Geeta Dutt, als Background-Sängerin, und Raj Kapoors Bruder Shammi, als Darsteller. Bereits Raj Kapoors Vater Prithviraj war einer der größten Theaterstars seiner Zeit, der auch im Film – in Raj Kapoors Awara ebenso wie als strenger Vater in Mughal-e-Azam – reüssierte. Bis heute, fast zwanzig Jahre nach dem Tod des Patriarchen, ist der Kapoor-Clan in Bollywood höchst präsent; seine Enkeltöchter Kareena und Karisma gehören inzwischen zu den berühmstesten Schauspielerinnen ihrer Generation. Es wird oft kritisiert, ist aber bis heute eine Tatsache: Auch bei höchst mäßiger Begabung ist die Zugehörigkeit zu einem der großen Familienclans ein verlässliches Eintrittsticket zur Industrie. Auch die Karriere des wohl erfolgreichsten Jungstars Hrithik Roshan wurde von seinem Vater Rakesh lanciert, der seit langem erst als Schauspieler, dann als Regisseur einen guten Namen in der indischen Filmindustrie besitzt – und selbst der Sohn des berühmten Komponisten Roshan ist.

Die fünfziger und sechziger Jahre sind so etwas wie die "Goldene Ära" Bollywoods, viele bis heute gespielte und vor allem verehrte Klassiker entstanden in dieser Zeit. Nicht zuletzt war es die Periode vor der klaren Spaltung zwischen dem zunehmend dem Mainstream und auch der Popkultur zuneigenden Bollywood und dem sogenannten "Parallel Cinema", für das zunächst die (meist bengalischen) Autorenfilmer wie Satjayit Ray (mit seiner Apu-Trilogie) und Ritwik Ghatak oder später Shyam Benegal und Mrinal Sen stehen. Ghatak etwa hatte zunächst noch im Kontext des kommerziellen Kinos gearbeitet, das Drehbuch für Bimal Roys Geisterfilm Madhumati geschrieben. Regisseure wie Mehboob Khan (Mother India) und auch Roy selbst stehen für eine Form und Spielart des indischen Films, die man später kaum mehr findet, die mit dem bunten Masala-Kino trotz der auch hier in aller Regel vorhandenen Musik- und Tanzeinlagen kaum etwas zu tun haben. Diese beiden und einige andere muslimische Filmemacher (ebenso wie Kapoor und Dutt) hielten mit in Richtung Sozialismus tendierender Gesellschaftskritik nicht hinter dem Berg, auch ästhetisch gibt es in dieser Phase und bei diesen Regisseuren Nähen zum und Anleihen beim europäischen Neorealismus.

Mit den siebziger Jahren ist die klare Trennung vollzogen – und man kann sagen, dass das indische Kino weder der einen noch der anderen Richtung davon profitiert hat. Während auf der einen Seite neben den Meisterwerken von Ghatak und Ray ein ästhetisch eher epigonales, an der originären Form des indischen Kommerzfilms weitgehend uninteressiertes, jeden Bezug auf diese vielmehr als Verrat begreifendes Kino der realistischen und politisch korrekten Darstellung sozialer Probleme entstand (und bei Regisseuren wie Buddhadeb Dasgupta bis heute fortbesteht), bewegte sich Bollywood – bei zunehmenden Produktionszahlen und riesigen Publikumserfolgen – zusehends in Richtung Exzess und Spektakel um des Spektakels willen. Natürlich sind einige der Hauptwerke der 70er, wie der oft auf Platz eins der beliebtesten Bollywood-Filme geführte Sholay (1975) oder der hinreißend durchgeknallte Amar, Akbar, Anthony (1977), hochkarätige Unterhaltung, die neben dem Werk von Frank Tashlin oder Richard Lester mühelos bestehen kann. Zugleich wird aber der Anteil belanglosen Trashs zusehends größer, ein Trend, der sich in den 80er Jahre, die den Tiefpunkt in der Geschichte des indischen Kommerzfilms darstellen dürften, fortsetzt.

Mit den 90er Jahren – ein entscheidendes Datum ist hier der Film Dilwale Dulhaniya Le Jayenge(1995) – hat sich dieses Bild wieder deutlich verändert. Mit den vor allem in den USA und Großbritannien lebenden wohlhabendenn NRIs (non resident Indians) und der wachsenden Mittelschicht der Großstädte hat die Industrie ein neues Zielpublikum entdeckt. Die Entwicklung ist durchaus ambivalent. Während nun anspruchsvollere Blockbuster-Produktionen für die neuen, besser gebildeten und wohlhabenderen Multiplex-Besucher entstehen und auch auf westliche Festivals exportiert werden (herausragendes Beispiel: die ins Mafia-Milieu von Bombay verlegte Macbeth-Version Maqbool, 2004), droht der Masala-Film, der stets allen Schichten etwas versprach und eines der originären Produkte der indischen Filmindustrie war, auszusterben. Die zuletzt auch bei uns (vor allem bei RTL II und in der Video-Auswertung) erfolgreichen Blockbuster wie Kabhie Kushi Khabie Gham (2003) oder Kal Ho Naa Ho (2004) sind die Musterbeispiele für diesen Richtungswechsel. Technik und Schauwerte haben den westlichen Standard erreicht und die teilweise oder vollständige Verlegung der Schauplätze nach Europa und USA haben den Transfer der Bollywood-Ästhetik nach Westen erstmals – von 50er-Jahre-Erfolgen vor allem Raj Kapoors in Osteuropa einmal abgesehen - in der Geschichte des indischen Kommerzfilms wirklich als Option erscheinen lassen.

Ästhetik

Von Hollywood aus betrachtet und der dort präferierten Grammatik glatt fließender Découpage, sind die in den Filmen Bollywoods verwendeten Stilmittel inkonsistent und überdeutlich. Auffällig im Vergleich zum dominierenden "Realismus" des Westens ist die unbekümmerte Künstlichkeit, die beinahe jeden Aspekt des Hindi-Kinos bestimmt. Die Filmsprache Bollywoods gehorcht, von den Konventionen des westlichen Kommerzkinos aus gesehen, einer eigentümlichen Pidgin-Grammatik, die erlaubt, was gefällt, auch und gerade dann, wenn der Rahmen des flüssigen Fortgangs der Geschichte dabei gesprengt oder beschädigt wird. Die Form folgt nicht der Funktion, sondern verselbständigt sich, in Fahrten und Zooms der Kamera, in der Wahl seltsamer Aufnahmewinkel, in der Lust an der Redundanz und Wiederholung, in Achsensprüngen, willkürlich anmutenden Blenden und Großaufnahmen. Die Welt der fiktional geschaffenen Illusion ist offener und durchlässiger, bis hin zu Formen, die im Westen als Fehler des Anschlusses, der Geschlossenheit, auch der Synchronizität von Bild und Ton betrachtet würden, hier aber oftmals gar nicht als solche wahrgenommen werden: von Blicken der Darsteller in die Kamera bis hin zum Dreh in der Stadt mit Passanten, die im Bild aufs inszenierte Geschehen starren wie der Betrachter im Kinosaal.

Das herausstechende Merkmal sind natürlich die Song-and-Dance-Szenen oder, wie es im Bollywood-Jargon in der Regel heißt: Picturizations, die das narrative Geschehen vielfach unterbrechen. In der Regel sind sie vor der Intermission, die als weit mehr als zufällige Zäsur die Struktur der Filme deutlich prägt, häufiger. Die ersten eineinhalb Stunden können oftmals mit der Entwicklung des Settings, mit der Einführung der Charaktere vergehen, die einander in scheinbar vorläufigen Plot-Bewegungen und Tanz-Szenen angenähert, deren Konflikte in diesen nach westlichem Verständnis sehr ausführlichen Expositionen entworfen werden. Homogenität in Ton, Genre-Zugehörigkeit und Stil ist dabei in der Regel keineswegs angestrebt, ganz im Gegenteil. Der sog. Masala-Film (damit ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschmacksrichtungen bezeichnet) ist vielmehr darum bemüht, scheinbar Widerstrebendes zu Gemengelagen jeder Art zusammenzuführen und -rühren. Albernste Komik und tiefe Tragik schließen sich dabei nicht nur nicht aus, der Wechsel vom einen zum anderen kann sich binnen Sekunden vollziehen.

Sehr allgemein gesprochen ist das Kino Bollywoods als Kunst des Melodrams im Unterschied zu Hollywood nicht ein Kino des unsichtbaren Schnitts, sondern ein Kino der Blende - und im Begriff der Blende darf man sich den "weichen" Schnitt, der im Trennen verbindet, und das englische "blend" als synchrone oder sukzessive Vermischung des Getrennten selbst noch einmal ungeschieden vorstellen. Im Zugleich etwa des Bitteren und des Komischen, zu dem es immer wieder kommt, entstehen Zwischenzustände der Gefühle als Formprinzip eines Erzählens. Der gleitende Übergang vom – internen, das heißt also: mit Wirklichkeitsabbildung unter keinen Umständen zu verwechselnden – Realismus der Diegese zum Überschwang der Bewegung in den Tanzeinlagen, der der Kontinuität von Ort, Zeit, Handlung kaum mehr verpflichtet ist, ist der Höhepunkt dieser Übergängigkeit, reinste Gestalt des Prinzips: denn von Bild zu Bild, von Schnitt zu Schnitt, wechseln hier – potenziell – die Kleider, die Farben, die Schauplätze, die Stimmungen, die Musikstile, die Verhältnisse zwischen den Personen.

Die Tatsache, dass die Darsteller in den choreografierten Song-and-Dance-Szenen in aller Regel nicht selbst singen, sondern die Lippen nur mehr oder minder synchron zum Playback selbst oftmals als Stars gefeierter Sängerinnen und Sänger bewegen, unterstreicht nur einen anderen Grundsachverhalt: Fast niemals gibt es in Bollywood-Filmen Originalton. Alle Dialoge werden nachsynchronisiert, die Geräusche nachträglich zum Bild komponiert, komisch unterstreichend oft, seltsam asynchron manchmal, kaum jedoch, wie es die Hollywood-Konvention vorschriebe, dem Ideal eines Realismus gehorchend, der das Medium als Form im Dienst einer durchgehenden Realitätsillusion auslöschen möchte. Die wichtigste "Attraktion" des Bollywood-Kinos ist dabei fraglos die Musik. Die Komponisten werden inzwischen als Pop-Stars gefeiert, A.R. Rahman, der inzwischen auch im Westen als von Andrew Lloyd Webber engagierter Komponist des in London (aber nicht in New York) sehr erfolgreichen Musicals "Bombay Dreams" bekannt ist, gibt längst Konzerte vor riesigem Publikum. Dies ist eine Entwicklung, die sich mit der zunehmenden Bedeutung anderer Verbreitungsmedien – ungezählter Zeitschriften, des Fernsehens, des Internets – noch einmal verstärkt hat, die Musik war jedoch immer schon einer der wichtigsten Bestandteile für die Erfolgsaussichten eines Films. Der reine Soundtrack wurde und wird lange vor dem Kinostart vertrieben (früher auf Kassetten, heute auf CDs), so dass die Zuschauer im Kino mit vielen der Songs längst vertraut sind.

Für alle Theoretiker und Liebhaber des Films, die das Medium als Erretter von Wirklichkeiten betrachten, ist das indische Kommerzkino, mit dem man im Westen lange Zeit kurzen Prozeß gemacht hat, ein Greuel. Aber auch die Freunde der strengen Entsprechung von Form und Funktion, in der Grammatik der Filmsprache ebenso wie der damit stets verbundenen linearen Schlüssigkeit der Figurenpsychologie, haben am Ausufern der Form im Kino von Bollywood wenig Freude. Der formalen Enttäuschung jeder eingeübten Realismuserwartung korrespondiert zudem eine inhaltliche. Anders als im Kino des sogenannten "parallel cinema" eines Satyajit Ray oder Shyam Benegal, das auf westlichen Festivals sehr viel häufiger anzutreffen ist, kommt in Bollywood die gesellschaftliche Wirklichkeit nur über implizierte allegorische Lesarten ins Bild. Die Häufigkeit von Plots, in denen früh getrennte, am Ende wieder vereinigte Geschwister (z.B. als Zwillingsschwestern in Seeta aur Geeta) oder feindliche, freundliche Brüder verschiedener Religionszugehörigkeit (z.B. ein Hindu, ein Moslem, ein Christ in Amar, Akbar, Anthony) zentrale Rollen spielen, ist kein Zufall. Das Trauma der mit der Selbständigkeit verbundenen Trennung Indiens und die damit keineswegs überwundenen Religionskonflikte sind Themen, die man höchst selten in realistischer Schilderung von Milieus und Sozialverhältnissen dargestellt finden wird – aber eben in für das indische Publikum sofort entzifferbaren Plotstrukturen und Symbolen. Was als eskapistische Erzählweise kritisiert wird, läßt sich ebenso gut – ohne daß das eine das andere ausschließt – als Anschluß an nicht-realistische Erzählformen lesen, wie sie in den großen Sanskrit-Epen wie dem Mahabharata vorliegen, aber natürlich auch von den vor-aufklärerischen Epen des Westens her – ganz grob gesagt: von Chréstien de Troyes bis John Bunyan – nicht ganz unvertraut sind.

Das Komplement des Allegorischen ist das Melodram. Erst in der nahtlosen Verbindung von Allegorie und Melodrama wird die ästhetische Differenz des indischen zum europäischen wie amerikanischen – in anderer Weise auch zum asiatischen - Kino deutlich. Was dieses Komplementärverhältnis schlüssig erscheinen läßt, ist der ambivalente Bezug von Allegorie wie Melodram zum Narrativen. Während die Allegorie zur buchstäblichen Lesart (das Geschehen, der Plot, die Geschichten, in die die Figuren sich verstricken) immer eine zweite, allgemeinere Lesart impliziert, setzt das Melodram auf Plots, deren Unwahrscheinlichkeit die Voraussetzung für abrupt wechselnde Affektmodulationen ist. Beides scheint notwendig für ein "Kino der Unterbrechungen" und Diskontinuitäten: der Bilder, von Bild und Ton, Effekt und Affekt, Plot und unvermitteltem Wechsel in die arienhaften Gesangs-Sequenzen. Heraus kommen dabei Mischungen, in denen jedes Bild, jedes formale Mittel, jeder Affekt einen anderen "Wert" haben als in den im Westen vertrauten Filmsprachen.

Wichtigste Filme

Naturgemäß ist die Geschichte des indischen Kinos nicht wirklich überschaubar. Grob gerechnet kommt man, den in der "Encyclopedia of Indian Cinema" aufgeführten offiziellen Zahlen folgend, auf deutlich über 35.000 Werke in der Geschichte des indischen Stumm- und Tonfilms. Auch wenn ein beträchtlicher Teil davon nicht erhalten sein dürfte und obgleich natürlich die überwiegende Mehrzahl dieser Werke von nicht einmal marginaler Bedeutung ist, bleibt jede Auswahl der "wichtigsten" Filme nicht nur den eigenen Vorlieben und geschmacklichen Prämissen geschuldet, sondern stets auch an die Verfügbarkeit der Filme auf Video und DVDs mit englischen Untertiteln wie die Rezeptionskapazitäten des Betrachters gebunden. Die folgende Auswahl ist daher gewiss lückenhaft. Viele aufregende Filme sind mit Sicherheit noch zu entdecken – das gilt auch und vor allem für das nicht hindi-sprachige Regionalkino, das nur in wenigen Exemplaren mit Untertiteln zu erhalten bzw. zu importieren ist.

Kamal Amrohi: Mahal (1949)

Einer der letzten großen Filme von Bombay Talkies, das Regiedebüt des Urdu-Poeten und Himansu-Rai-Schützlings Kamal Amrohi. Ein Mann verliebt sich todestrunken in den Geist einer Frau. Kameramann Josef Wirsching – ein Österreicher, der mit Franz Osten nach Indien gekommen war und blieb - erfindet in den Licht-und-Schatten-Kulissen des Studios von Bombay Talkies den deutschen Expressionismus neu. Die Geister, die er ruft, wird der Plot wieder los, mit einer abenteuerlichen Wendung in Richtung Film-Noir-Thriller. Gespensterschöne Musik von Khemchan Prakash, einer der Cutter war der spätere Meisterregisseur Bimal Roy. "Mahal" ist ein elegischer Trauergesang, hingegeben an Todessehnsucht und Liebesqual, voller berückender Musik, auf Moll gestimmt, mit Auftritten und Abgängen, die in ihrer traumwandlerischen Weltvergessenheit ihresgleichen kaum kennen. Klassisches Bollywood in Quintessenz. Weiterer großartiger Amrohi-Film: Pakeezah (1971), an dem Amrohi und seine (Ex-)Frau Meena Kumari fünfzehn Jahre gearbeitet haben. Kumari, die bis heute kultisch verehrt wird, starb kurz nach der Uraufführung des Films.

Raj Kapoor: Awara (1951)

Frühes Meisterwerk von Raj Kapoor, aber auch dessen Sangam (1964) wäre zu empfehlen – in ihm liegt unter anderem die Schweiz-Begeisterung des indischen Kinos begründet. Awara erzählt die Geschichte des Vagabunden Raj (Raj Kapoor) und des Richters Ragdunath (gespielt von Raj Kapoors Vater Prithviraj) – und zu Gericht gesessen wird in Wahrheit nicht über den Vagabunden, sondern über den Richter und die von ihm vertretene gewissenlose Sozialpolitik. Ein Höhepunkt ist die berühmte Traumsequenz, die in monströser Studiokulisse den Expressionismus auf die Spitze treibt und eine Schlacht zwischen Gut und Böse, zwischen Himmel und Hölle, Rita und Jagga inszeniert und die inneren Kämpfe mit allem Pomp, der Raj Kapoor in seinem eben gegründeten eigenen Studio zur Verfügung stand, ins Äußere eines Traums wendet. Weitere wichtige Kapoor-Filme: Barsaat (1949), Mera Naam Joker (1970)

Do bigha Zarim (Bimal Roy, 1953)

Der Stil, der Ton der Filme von Ritwik Gathak und Satyajit Ray sind hier schon angedeutet. Der Neorealismus ist ein unverkennbarer Einfluss in dieser Geschichte um eine Familie, die darum kämpft, ihren Grund und Boden nicht an einen rücksichtslosen Kapitalisten zu verlieren. Vater und Sohn machen sich, auf der Suche nach Arbeit und Geld, auf nach Kalkutta, von ihren Fährnissen in der Großstadt erzählt Roy - und viel davon hat er von Rossellini und de Sica gelernt. Auch im Plot, der von kleinen großen Tragödien im Alltag erzählt, gibt es deutliche Anklänge. Für indische Verhältnisse sehr ungewöhnlich ist der gedämpfte Ton; die Gesangsszenen fügen sich nahtlos ins elegante Understatement der Szenerie. Was hier sanft ineinandergeht, wird Ghatak später in seinem in manchen Motiven ähnlichen Meisterwerk "Der verborgene Stern" harsch auseinander reißen und gegeneinander setzen. Weitere bedeutende Filme von Bimal Roy: Devdas (1955), Madhumati (1958), Bandini (1963)

Mehboob Khan: Mother India (Bharat Mata, Indien 1957)

Vielfach als der Klassiker überhaupt gefeiert: Schon der Titel deutet an, dass sich der Film selbst als Nationalepos versteht. Erzählt wird von einer Mutter, die im Kampf gegen einen Kredithai und allerlei Widrigkeiten ihre Kinder durchbringt, nur um erleben zu müssen, dass ihr Sohn Birju ein rettungsloser Tunichtgut und Rebell wird. Nargis – auch berühmt für ihre langjährige Beziehung mit Raj Kapoor - ist als leidende Mutter unsterblich geworden und "Mother India" das wichtigste in einer ganzen Reihen von Mehboob Khans Sozialmelodramen. Weitere bedeutende Filme: Andaz (1949), Aan (1952).

Guru Dutt: Pyaasa (1957)

Der früh verstorbene Guru Dutt war der künstlerisch ambitionierteste Regisseur seiner Zeit – und nach großen Erfolgen, von denen Pyaasa der größte war, landete er mit dem Nachfolger Kagaaz Ke Phool (1959) einen desaströsen Flop, der das Ende seiner Karriere einleitete. Im Zentrum von Pyaasa steht der erfolglose, bettelarme Dichter Vijay (gespielt von Dutt selbst), der nach seinem vermeintlichen Tod berühmt und von seinem Verleger ausgenutzt wird. Die Anklänge an die Passion Christi sind unübersehbar, auch Dostojewskis "Legende vom Großinquisitor" ist nicht weit. Während aber Kagaaz Ke Phool – es geht um einen einst erfolgreichen, nun verachteten Regisseur – im Selbstmitleid zu ertrinken droht, gewinnt Pyaasa seiner bitteren Geschichte grandiose pathetische Momente ab. Weitere empfehlenswerte Filme von Guru Dutt: Jaal (1952), Chaudhvin Ka Chand (1960), Sahib Bibi Aur Ghulam (1962, offiziell figuriert Dutt hier nur als Produzent)

Karim Asif: Mughal-e-Azam (1960)

Zur Zeit seiner Entstehung der mit Abstand teuerste indische Film aller Zeiten – genauer gesagt: etwa zehnmal so teuer wie der nächstfolgende. Man muss sagen: Das sieht man auch. Verschwenderisch ausgestattete Palastinnenräume, nur das Teuerste war gut genug. Die auf einer alten Legende beruhende unglückliche, an Macht und Politik scheiternde Liebesgeschichte trägt all den Aufwand mit etwas Mühe. Sehr umstandslos wird man jedoch für die eine oder andere Länge durch die berühmteste Sequenz des Schwarz-Weiß-Films entschädigt, einen Spiegeltanz, der in Farbe nachgedreht wurde. In diesem Jahr ist eine computerkolorierte Fassung mit teilweise neu eingestpieltem Soundtrack in die indischen Kinos gekommen, die dann vielleicht doch endgültig zu viel des Guten ist. Das Drehbuch mit den dramaturgischen Schwächen, aber sehr poetischen Dialogen stammt übrigens vom Kamal Amrohi (Mahal).

Sunil Dutt: Reshma aur Shera (1971)

Der am wenigsten prominente Film in dieser Liste. Der einzige Film des Schauspielers Sunil Dutt war ein Publikumsflop – und wie es scheint, ist keine vollständige Version erhalten; auf den derzeit erhältlichen DVDs fehlt eine nicht ganz unwichtige Sequenz von ca. einer Viertelstunde. Dennoch ein umwerfendes Werk: Romeo und Julia in der Wüste, mit Anklängen an griechische Tragödien. Atemberaubende Bild-Tableaus und Wüsten-Szenen, die auf ein finsteres und sehr konsequentes Happy-End zulaufen. Waheeda Rehman ist zauberhaft, etwa in einer Solo-Song-and-Dance-Sequenz zu Beginn, wenn sie ausführlich mit der sehr beweglichen Kamera flirtet. In einer Nebenrolle: Amitabh Bachchan, als ihn noch keiner kannte.

Ramesh Sippy: Sholay (1975)

Der Aufstieg Amitabh Bachchans zum größten Superstar aller Zeiten im indischen Kino erfolgte rasch. Mit Filmen wie Zanjeer (1973), Majboor (1974) und Deewar (1975) kultivierte er unter dem Rollennamen "Vijay" das Image des Angry Young Man. Auch im Curry-Western Sholay nimmt er sich im Bund mit seinem vagabundischen Ganovenkumpan Dharmendra allerhand Freiheiten. Man wird hier an manches gemahnt, in erster Linie natürlich an den Spaghetti-Western. Allerdings fallen Szenen wie die Hitler/Chaplin-Parodie und der Freundschaftssong im Motorrad mit Beiwagen ein bisschen aus diesem Rahmen. Ganz bei der Genre-Sache ist der Film immer dann, wenn Gabbar Sing, der berühmteste Schurke der Bollywood-Geschichte, ins Bild kommt. Sehenswert von Ramesh Sippy auch: Seeta aur Geeta (1972) und Shakti (1982)

Manmohan Desai: Amar Akbar Anthony (1977)

Der verrückteste in einer Reihe verrückter Bollywood-Filme, jedenfalls wenn man nur die zählt, die es absichtlich sind. Unsterblich die Szene, in der Amitabh Bachchan, der hier einer von drei einander lange unbekannten Brüdern unterschiedlicher Religionszugehörigkeit ist, aus einem Osterei schlüpft, mit Schirm, Charme und Monokel bewaffnet und mehrfach die berühmte Zeile "You know the whole country of the system is juxtapositioned by the hemoglobin in the atmosphere because you are a sophisticated rhetorician intoxicated by the exuberance of your own bombasity" von sich gibt. Auch die falsche Hochzeit am Ende mit Auftritt des irgendwie Schweizerischen Ein-Mann-Orchesters ist einen Blick wert. Weitere Filme von Manmohan Desai: Coolie (1983), bei dessen Dreharbeiten Amitabh Bachchan beinahe ums Leben kam – in Indien herrschte deshalb Ausnahmezustand

Aditya Chopra: Dilwale Dulhania Le Jayenge (1995)

Der Blockbuster, der die aktuellen Bollywood-Erfolge im Westen möglich gemacht hat. Shah Rukh Khan ist hier mit Kajol in Europa unterwegs und muss sie dann in Indien von einem sehr gestrengen Vater erobern. Regiedebüt von Aditya Chopra, dem Sohn der Produzenten- und Regie-Legende Yash Chopra (Veer-Zaara), das Ost-West-Konflikte vorführt und Superstar Shah Rukh Khan in seiner Musterrolle als nonchalanter, in Maßen rebellischer Schwiegermutterliebling zeigt. Sehr angenehm, im Vergleich zum dick aufgetragenen Bombast etwa von Kabhi Kushi Kahbie Gham (und überhaupt den Filmen von Karan Johar), sind das entspannte Tempo und die simple Storyline dieses Films, der noch jahrelang mit großem Erfolg in den Kinos lief.

Mani Ratnam: Dil Se (1998)

Der Tamile Mani Ratnam ist der vielleicht wichtigste indische Regisseur der Gegenwart. Wie keinem anderen gelingt ihm die Verbindung von Polit-Themen und Liebesromanzen. Und keiner seiner Filme ist so atemberaubend wie sein gewagtes Hindi-Debüt Dil Se. Sha Rukh Khan verliebt sich hier als Reporter in eine Terroristin und lässt und lässt nicht locker. Die Spannung steigert sich nach großen Musiknummern im ersten Teil – herausragend der Tanz auf dem fahrenden Zug, den Lars von Trier hier geklaut hat – zu einem explosiven Finale, das seinesgleichen im Bollywood-Kino nicht kennt. Vielleicht war der Film deshalb ein katastrophaler Box-Office-Misserfolg. Weitere großartige Ratnam-Filme: Der Gangsterfilm Nayakan (1987), die durchgeknallte Komödie Thiruda...Thiruda (1993), der Polit-Film Bombay (1995),

Aditya Chopra: Mohabbatein (2000)

Der zweite Streich von Aditya Chopra konfrontiert in geradezu mythischer Manier den größten Star der Vergangenheit mit dem größten Star der Gegenwart. Amitabh Bachchan gibt den sehr gestrengen Universitäts-Leiter, Shah Rukh Khan seinen aufmüpfigen Widerpart. Ähnlichkeiten mit Club der toten Dichter sind nicht zu übersehen, aber Mohabbatein kann zum einen mit seinem Pathos entspannter umgehen und ist zum anderen voller visueller Einfälle, die an Eleganz den größten Teil des sonstigen Bollywood-Mainstreams weit überragen.

Ashutosh Gowariker: Lagaan (2001)

Der erste Oscar-nominierte Bollywood-Film seit Jahrzehnten. Ein Historien-Epos, in dem ein Häuflein aufrechter Inder es mit den britischen Kolonisatoren ausgerechnet in deren ureigenstem Sport, dem Cricket, aufnehmen will. Ein selbst für indische Verhältnisse überlanger Film, der mit dem fast einstündigen Cricket-Match endet, ohne auch nur eine Minute zu langweilen. Zu bewundern sind eigentümliche Wurftechniken, Aamir Khan zwischen zwei Frauen, eine im Tanz ausagierte Vermischung der Sphären und nicht zuletzt die phantastische Musik von Komponisten-Superstar A.R. Rahman. Sehenswert auch der jüngste Film von Ashuthosh Gowariker, Swades (2004), diesmal mit Shah Rukh Khan in der Hauptrolle.

Kommentierte Literaturliste

Völlig unverzichtbar für jeden, der sich näher mit dem indischen Film befassen will, ist das große Standardwerk von Paul Willemen und Ashish Rajadhyaksha mit dem zutreffenden Titel "Encyclopedia of Indian Cinema" (2001), das Biografien und Filmografien zahlreicher Regisseure, Darsteller und anderer Bollywood-Prominenz ebenso zu bieten hat wie Inhaltsangaben einer beträchtlichen Anzahl von Filmen. Die betonte Zurückhaltung insbesondere in der positiven Bewertung der einzelnen Filme ebenso wie der tendenziell eher auf Politisches als auf Ästhetisches fokussierte Blick mindern leider das Lektürevergnügen.

Als Gegenstück für den Fan, dem bei der Enzyklopädie der Enthusiasmus zu kurz kommt, empfiehlt sich der von Lait Joshi, Derek Malcolm und Lalit Mohan Josh herausgegebene populärer orientierte Band "Bollywood: Popular Indian Cinema", der wirklich verschwenderisch illustriert ist.

Im deutschen Sprachraum sieht es mit Publikationen zu Bollywood noch sehr mau aus. Als Erste Hilfe, aber keinesfalls darüber hinaus, ist für die grundsätzlichen Fakten die Einführung von Myriam Alexowitz mit dem Titel "Traumfabrik Bollywood" (2003) zu gebrauchen.

Sehr viel besser bedient ist man da mit der englischsprachigen Einführung "Bollywood – a guidebook to popular Hindi cinema" von Tejaswini Ganti, die sehr kompetent und vorurteilslos über alle wichtigen historischen Daten und gesellschaftlichen Zusammenhänge informiert – und darüber hinaus sowohl kurze biografische Abrisse der Protagonisten Bollywoods (Regisseure, Darsteller, Komponisten) als auch Informationen über einige der wichtigsten Filme bietet.

Als erster Überblick mit kurzen, aber so präzisen wie bewertungsfreudigen Zusammenfassungen wichtiger Filme empfiehlt sich auch Ashok Bankers "Bollywood: The Pocket Essential" (2001).

Websites

Die wichtigsten indischen Websites (in englischer Sprache) sind www.planetbollywood.com, www.rediff.com und www.upperstall.com. In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen bieten sie Kritiken, Klatsch, News und Informationen zur Geschichte des indischen Films.

Im deutschsprachigen Raum findet man bei http://molodezhnaja.ch/bollywood.htm eine verblüffende Menge von Besprechungen. Die Texte selbst sind sehr subjektiv und wenig analytisch gehalten.

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