Kürzlich wurden gleich bei zwei deutschen Fernsehsendern
eine Reihe von Bollywood-Filmen ausgestrahlt: bei Arte und RTL 2. In Berlin
bekommt man Bollywood-Filme entweder im Arsenal zu sehen, zwischen Avantgarde
und Filmgeschichte, oder alle zwei Wochen im City Kino Wedding, wo man vor
allem Inderinnen und Inder antreffen wird. Bollywood in Deutschland ist also
angesiedelt zwischen Trash und Kunst, Exotik und Diaspora, mit einem Wort:
ein Sonderfall. Erst seit kurzer Zeit wagt sich der zuvor auf Asiatika anderer
Art spezialisierte Verleih REM auch an die deutsche Kino- und Video-Auswertung
von Bollywood-Produkten, zuvor gab es jahrzehntelang: nichts, nada, Bollywood
fand, außer für die indische community, einfach nicht statt.
Dabei war Bollywood nie eine quantité negligeable, sondern ist seit
Jahrzehnten nicht weniger als die größte Kinematografie der Welt.
Als im letzten Jahr die BBC eine weltweite Umfrage startete, wer der
berühmteste Entertainment-Star des 20. Jahrhunderts sei, landete der
im Westen kaum bekannte Amitabh Bachchan ("The Big B", wie er in Indien
heißt) auf Platz eins, für Auftritte des seit gut zehn Jahren
größten Star des Subkontinents Shah Rukh Khan zahlt man auch in
Deutschland, umgeben von NRIs (non resident Indians) ein paar Hundert Euro.
Die Begeisterung, die dabei herrscht, vermittelt wenigstens eine leise Ahnung
vom göttergleichen Status, den die berühmtesten Schauspieler in
Indien genießen.
Indien ist die filmverrückteste Nation der Welt und die einzige,
in der Hollywood ohne alle Steuerungs- und Zensurmaßnahmen einen
Marktanteil von unter fünf Prozent hat. Die gerne kolportierte Behauptung,
dass Bollywood jedes Jahr etwa achthundert Filme und somit dreimal mehr als
Hollywood produziert, ist nicht ganz korrekt - aber nur deshalb nicht, weil
der Begriff "Bollywood" in der Regel nur das Hindi-sprachige Kommerzkino
umfasst. Richtig wird die Behauptung, zählt man die in anderen Sprachen
(Tamilisch, Malayalam, Telugu etc.) gedrehten indischen Filme dazu. (Die
genauen Zahlen für 2004: 934 Filme in ganz Indien, 244 in Hindi.
Übrigens ist Indien, was die schieren Produktionszahlen angeht, inzwischen
von der nigerianischen Video-Industrie überholt worden, die im letzten
Jahr mehr als 1000 ihrer No-Budget-Werke auf den Markt warf. In Aufwand wie
Machart ist ein Vergleich zwischen "Nollywood" und "Bollywood" allerdings
nicht zulässig.)
Der Name "Bollywood" ist eine Ende der 70er Jahre entstandene, sehr unscharfe,
einst eher unfreundlich gemeinte, heute allerdings durchgesetzte Bezeichung.
Das B steht für "Bombay" (das heute offiziell Mumbai heißt), wo
seit jeher die größte Filmindustrie des Subkontinents beheimatet
ist, diejenige mit dem größten Einzugsbereich, der umfangreichsten
Produktion und den bekanntesten Stars. Gedreht wird in der am weitesten
verbreiteten Sprache "Hindi", die allerdings in Bombay selbst gar nicht die
Hauptsprache ist. Bollywood ist auch in Bombay eine Welt für sich, in
der andere Regeln gelten als in der indischen Gesellschaft sonst. So ist
die Präsenz von Muslimen hier außergewöhnlich hoch, was man
schon daran sieht, dass der größte Star Bollywoods im letzten
Jahrzehnt eben Shah Rukh Khan ein Moslem ist, während
zur gleichen Zeit die hindu-nationalistische Regierung gegen anti-muslimische
Ausschreitungen und Stimmungsmache in verschiedenen Landesteilen wenig unternahm.
Geschichte
Eine eher hybride Mischkultur war Bollywood nicht ganz unähnlich
dem amerikanischen Pendant von Anbeginn. Durch die britische
Kolonialherrschaft existierte, besonders in Bombay, Zugang zu den neuesten
westlichen Entwicklungen. Schon 1896 tauchten Abgesandte der
Lumière-Brüder aus Paris in der Stadt auf und führten
allerdings exklusiv für Weiße die ersten Filme vor. Neben
den westlichen Einflüssen waren aber von Beginn an sehr spezifische
indische Traditionen für die Herausbildung einer eigenen Filmkultur
von Bedeutung. In den meisten Darstellungen wird das Theater der Parsi an
erster Stelle genannt, dessen Zentrum zunächst auch in Bombay lag und
das im Laufe des 19. Jahrhunderts zu großer Popularität gelangt,
mit indischen Stoffen, aber auch mit (vor allem: musikalisch) indianisierten
Shakespeare-Varianten. Im Vordergrund standen, ganz wie später im indischen
Tonfilm, Song und Dance und der Sinn fürs Spektakuläre und
Sensationelle.
Als Vater des indischen Kommerzkinos gilt heute Dadasaheb Phalke, der sich
auf einer Reise nach London im Jahre 1912 das nötige Knowhow aneignete
und darauf in seine Heimat zurückkehrte, um die einheimischen
Göttermythen und Geschichtslegenden auf Zelluloid zu bannnen. Von seinen
Filmen sind, wie von großen Teilen der Stumm- aber auch
beträchtlichen Mengen der späteren Tonfilmproduktion, nur noch
Bruchstücke erhalten. Das kann nicht verwundern angesichts des der
Konservierung nicht gerade zuträglichen Klimas und vor allem
angesichts einer Haltung, die das populäre Kinoerbe teilweise bis heute
nicht als kulturell wertvoll erachtet. Schon mit dem ersten Tonfilm, Alam
Ara (1931) waren die Weichen gestellt für die entscheidende Abweichung
vom westlichen Kino: Die Erzählhandlung wird siebenmal durch Musik-
und Tanzeinlagen unterbrochen, die Filme sind deshalb für westlichen
Geschmack von zum Teil beträchtlicher Überlänge. Alam Ara
war gleich ein großer Erfolg und fand deshalb jede Menge Nachahmer.
Seitdem gehört zum Bollywood-Film die Song-and-Dance-Sequenz und bis
heute muss man die Geschichte des populären indischen Films mit der
Lupe durchsuchen, um auf Filme zu stoßen, die ohne diese Einlagen
auskommen. Auch in einer anderen Beziehung wurden Weichen gestellt.
Sehr rasch kam es in den zwanziger und dreißiger Jahren zur Herausbildung
eines Hollywood strukturell, wenngleich natürlich nicht finanziell
vergleichbaren Studiosystems. Tejaswini Ganti stellt allerdings fest: "Anders
als in Hollywood kam es nie dazu, dass eine Handvoll Studios das gesamte
Geschäft monopolisierten und die meisten indischen Studios
kontrollierten, anders als in Hollywood, weder den Verleih noch die Kinos.
Die fehlende Integration von Produktion, Verleih und Vorführstätten
war für die erhebliche Mortalitätsrate der Studios verantwortlich,
die nach einer Serie von Fehlschlägen oder gar nur einem Riesenflop
bankrott gingen. Was in der Filmgeschichtsschreibung als die 'Studio-Ära'
bezeichnet wird, ist in Wahrheit nur ein kurzes Kapitel in der Geschichte
des indischen Kinos." (Ganti: S. 15)
Die bedeutendsten und langlebigsten Studios waren Imperial
Films, der einzige große integrierte Konzern, der von 1928 bis 1936
existierte, die Prabhat Film Company, die sich 1933 in Pune niederließ,
170 Kilometer von Bombay entfernt, das bengalische Studio New Theatres, in
Kalkutta angesiedelt und in guter bengalischer Tradition mit häufigem
Bezug auf literarische Vorlagen künstlerisch recht ambitioniert. Am
interessantesten ist vielleicht die Entstehungs-Geschichte von Bombay Talkies,
dem Studio, das einige der besten Filme der dreißiger und vierziger
Jahre produzierte. Die Geschichte seiner Gründung reicht zurück
in die zwanziger Jahre und sie ist mit einem der exotischeren Kapitel des
deutschen Stummfilms verknüpft. Im Jahr 1925 entschloss sich der Regisseur
Franz Osten, einen Film in Indien zu drehen, der exotischen Schauwerte wegen.
Eigentlich hieß Osten Franz Ostermayr und war einer der Brüder,
die in München die Emelka-Filmstudios gegründet hatten, aus denen
später die Bavaria entstand. Also reiste Osten mit einem Münchner
Team nach Indien, dort entstand der Film "Die Leuchte Asiens", eine Art exotisch
gewürzter Heimatfilm.
Schon in Deutschland hatte Osten Bekanntschaft mit einem Mann geschlossen,
der sich vom Medium Film begeistert zeigte. Sein Name war Himansu Rai und
dank seines Enthusiasmus und seiner Anstrengungen setzte sich der Austausch
zwischen Indien und Deutschland fort. Osten drehte im Westen von der Kritik
wenig beachtete Heimatfilme und ging in den dreißiger Jahren nach Indien,
um nun dort mit gemischten Teams Produktionen in Hindi und auch sonst im
filmsprachlichen Idiom des Subkontinents zu drehen. Rai fungierte dabei oft
als Darsteller und als Produzent, es kam zur Gründung des Studios Bombay
Talkies, das auch nach dem Tod Rais und der Ausweisung Ostens im Jahr 1939
einige der Filmprofis aus dem Westen weiterbeschäftigte. So blieb etwa
der aus Österreich stammende Kameramann Josef Wirsching bis in die 60er
Jahre aktiv und verlieh vor allem den wichtigsten Filmen des Dichters und
Regisseurs Kamal Amrohi seine sehr eigene, deutlich an den deutschen Stummfilm
der zwanziger Jahre erinnernde Handschrift.
Die wohl spektakulärste Figur im frühen indischen Tonfilm war
gleichfalls ein Import, diesmal allerdings aus Australien. Für das von
mehreren Brüdern geführte Studio Wadia Movietones drehte Mary Evans
unter der Regie von Homi Wadia und mit dem programmatischen Künstlernamen
Fearless Nadia mehrere höchst erfolgreiche Filme als wahrhaft furchtlose
Action-Heldin. Am berühmtesten wurde die Figur der Hunterwali, ein
weiblicher Zorro, Peitschen schwingend, aber bereits in Miss Frontier Mail
von 1936 sind die Charakteristika zu bewundern, die Mary Evans zum wohl
ungewöhnlichsten Star in der Geschichte des an Ungewöhnlichkeiten
gewiss nicht armen Bollywood-Kinos machten. Zu sehen sind jede Menge Kämpfe
und Tote, Gefangennahmen und Fluchten, Anschläge und spektakuläre
Rettungsaktionen. Mehrfach rasen, nach Art des Thrillers, Züge aufeinander
zu, aber auch an Slapstick-Elementen fehlt es nicht. Alles konzentriert sich
dabei auf die Heldin, einen wahrhaft unwahrscheinlichen Star: blond,
blauäugig, griechisch-australischer Abstammung, Hindi sprechend mit
heftigem Akzent, selbst für das indische Schönheitsideal wohl ein
bisschen zu wenig schlank. Aber fäusteschwingend, über Zugdächer
rennend, an den Kraftmaschinen arbeitend, Männer über die Schulter
werfend und Welten entfernt von den ätherischen Heldinnen, die das
Bollywood-Kino in aller Regel bevorzugt, von den kultisch verehrten Heroinen
der vierziger und fünfziger Jahre wie Madhubala oder Meena Kumari bis
zu den etwas emanzipierteren weiblichen Stars der Jetztzeit wie Aishwaria
Rai oder Madhuri Dixit.
Schon in den fünfziger Jahren geriet das indische Studiosystem an sein
Ende. Das hatte ganz anders als in den USA nichts mit dem Fernsehen
zu tun, das in Indien vor allem aufgrund der durch die Größe des
Landes bedingten technischen Schwierigkeiten erst seit der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre seine zunehmend bedeutende Rolle spielt. Abgelöst
wurden die Studios durch kleinteiligere Familienunternehmen mit undurchsichtigen
Produktionsstrukturen und oftmals dubiosen Finanzierungswegen: Der Einfluss
der Mafia auf die als Geldwaschanlagen genutzte Filmindustrie (die allerdings
bis in die jüngste Vergangenheit steuerlich nicht als Industrie anerkannt
war) ist bis in die Gegenwart beträchtlich, wenngleich vielleicht nicht
ganz so beträchtlich, wie in den ins Kraut schießenden Gerüchten
immer wieder gemunkelt wurde und wird.
Als höchst erfolgreich erwiesen sich und erweisen sich bis heute
Organisationsstrukturen, in denen wenige Beteiligte stets mehrere
Rollen auf einmal spielten, etwa bei Yashraj Films, einem Familienunternehmen,
bei dem die Brüder B.R. (bis zu seinem Tod) und Yash Chopra sich die
Aufgaben zwischen Produktion und Regie, Auswahl der Bücher, Komponisten
und Darsteller teilten. Yash Chopra, der seit Jahrzehnten im Geschäft
ist, hat mit seinem jüngsten Werk, der indo-pakistanischen Romanze
Veer-Zaara in diesem Jahr auch auf der Berlinale zu sehen nicht
nur mal wieder einen riesigen Publikums-Erfolg gelandet, sondern auch die
wichtigsten Auszeichnungen in Indien gewonnen. Sein Sohn Aditya führt
als Autor (auch für Veer-Zaara) und Regisseur (Mohabbatein) die
Familientradition höchst erfolgreich fort.
Bereits die beiden großen Regie-Stars der 50er Jahre, Guru Dutt und
Raj Kapoor, vereinigten die gesamte Produktion ihrer Filme in eigener Hand.
In ihren wichtigsten Filmen traten sie zudem nicht nur als Produzenten und
Regisseure, sondern auch als Hauptdarsteller in Erscheinung. Berühmt
waren auch Geeta Dutt, als Background-Sängerin, und Raj Kapoors Bruder
Shammi, als Darsteller. Bereits Raj Kapoors Vater Prithviraj war einer der
größten Theaterstars seiner Zeit, der auch im Film in Raj
Kapoors Awara ebenso wie als strenger Vater in Mughal-e-Azam
reüssierte. Bis heute, fast zwanzig Jahre nach dem Tod des Patriarchen,
ist der Kapoor-Clan in Bollywood höchst präsent; seine
Enkeltöchter Kareena und Karisma gehören inzwischen zu den
berühmstesten Schauspielerinnen ihrer Generation. Es wird oft kritisiert,
ist aber bis heute eine Tatsache: Auch bei höchst mäßiger
Begabung ist die Zugehörigkeit zu einem der großen Familienclans
ein verlässliches Eintrittsticket zur Industrie. Auch die Karriere des
wohl erfolgreichsten Jungstars Hrithik Roshan wurde von seinem Vater Rakesh
lanciert, der seit langem erst als Schauspieler, dann als Regisseur einen
guten Namen in der indischen Filmindustrie besitzt und selbst der
Sohn des berühmten Komponisten Roshan ist.
Die fünfziger und sechziger Jahre sind so etwas wie die "Goldene Ära"
Bollywoods, viele bis heute gespielte und vor allem verehrte Klassiker entstanden
in dieser Zeit. Nicht zuletzt war es die Periode vor der klaren Spaltung
zwischen dem zunehmend dem Mainstream und auch der Popkultur zuneigenden
Bollywood und dem sogenannten "Parallel Cinema", für das zunächst
die (meist bengalischen) Autorenfilmer wie Satjayit Ray (mit seiner Apu-Trilogie)
und Ritwik Ghatak oder später Shyam Benegal und Mrinal Sen stehen. Ghatak
etwa hatte zunächst noch im Kontext des kommerziellen Kinos gearbeitet,
das Drehbuch für Bimal Roys Geisterfilm Madhumati geschrieben. Regisseure
wie Mehboob Khan (Mother India) und auch Roy selbst stehen für eine
Form und Spielart des indischen Films, die man später kaum mehr findet,
die mit dem bunten Masala-Kino trotz der auch hier in aller Regel vorhandenen
Musik- und Tanzeinlagen kaum etwas zu tun haben. Diese beiden und einige
andere muslimische Filmemacher (ebenso wie Kapoor und Dutt) hielten mit in
Richtung Sozialismus tendierender Gesellschaftskritik nicht hinter dem Berg,
auch ästhetisch gibt es in dieser Phase und bei diesen Regisseuren
Nähen zum und Anleihen beim europäischen Neorealismus.
Mit den siebziger Jahren ist die klare Trennung vollzogen und man
kann sagen, dass das indische Kino weder der einen noch der anderen Richtung
davon profitiert hat. Während auf der einen Seite neben den Meisterwerken
von Ghatak und Ray ein ästhetisch eher epigonales, an der originären
Form des indischen Kommerzfilms weitgehend uninteressiertes, jeden Bezug
auf diese vielmehr als Verrat begreifendes Kino der realistischen und politisch
korrekten Darstellung sozialer Probleme entstand (und bei Regisseuren wie
Buddhadeb Dasgupta bis heute fortbesteht), bewegte sich Bollywood
bei zunehmenden Produktionszahlen und riesigen Publikumserfolgen zusehends
in Richtung Exzess und Spektakel um des Spektakels willen. Natürlich
sind einige der Hauptwerke der 70er, wie der oft auf Platz eins der beliebtesten
Bollywood-Filme geführte Sholay (1975) oder der hinreißend
durchgeknallte Amar, Akbar, Anthony (1977), hochkarätige Unterhaltung,
die neben dem Werk von Frank Tashlin oder Richard Lester mühelos bestehen
kann. Zugleich wird aber der Anteil belanglosen Trashs zusehends
größer, ein Trend, der sich in den 80er Jahre, die den Tiefpunkt
in der Geschichte des indischen Kommerzfilms darstellen dürften, fortsetzt.
Mit den 90er Jahren ein entscheidendes Datum ist hier der Film Dilwale
Dulhaniya Le Jayenge(1995) hat sich dieses Bild wieder deutlich
verändert. Mit den vor allem in den USA und Großbritannien lebenden
wohlhabendenn NRIs (non resident Indians) und der wachsenden Mittelschicht
der Großstädte hat die Industrie ein neues Zielpublikum entdeckt.
Die Entwicklung ist durchaus ambivalent. Während nun anspruchsvollere
Blockbuster-Produktionen für die neuen, besser gebildeten und wohlhabenderen
Multiplex-Besucher entstehen und auch auf westliche Festivals exportiert
werden (herausragendes Beispiel: die ins Mafia-Milieu von Bombay verlegte
Macbeth-Version Maqbool, 2004), droht der Masala-Film, der stets allen Schichten
etwas versprach und eines der originären Produkte der indischen
Filmindustrie war, auszusterben. Die zuletzt auch bei uns (vor allem bei
RTL II und in der Video-Auswertung) erfolgreichen Blockbuster wie Kabhie
Kushi Khabie Gham (2003) oder Kal Ho Naa Ho (2004) sind die Musterbeispiele
für diesen Richtungswechsel. Technik und Schauwerte haben den westlichen
Standard erreicht und die teilweise oder vollständige Verlegung der
Schauplätze nach Europa und USA haben den Transfer der
Bollywood-Ästhetik nach Westen erstmals von 50er-Jahre-Erfolgen
vor allem Raj Kapoors in Osteuropa einmal abgesehen - in der Geschichte des
indischen Kommerzfilms wirklich als Option erscheinen lassen.
Ästhetik
Von Hollywood aus betrachtet und der dort präferierten Grammatik glatt
fließender Découpage, sind die in den Filmen Bollywoods verwendeten
Stilmittel inkonsistent und überdeutlich. Auffällig im Vergleich
zum dominierenden "Realismus" des Westens ist die unbekümmerte
Künstlichkeit, die beinahe jeden Aspekt des Hindi-Kinos bestimmt. Die
Filmsprache Bollywoods gehorcht, von den Konventionen des westlichen Kommerzkinos
aus gesehen, einer eigentümlichen Pidgin-Grammatik, die erlaubt, was
gefällt, auch und gerade dann, wenn der Rahmen des flüssigen Fortgangs
der Geschichte dabei gesprengt oder beschädigt wird. Die Form folgt
nicht der Funktion, sondern verselbständigt sich, in Fahrten und Zooms
der Kamera, in der Wahl seltsamer Aufnahmewinkel, in der Lust an der Redundanz
und Wiederholung, in Achsensprüngen, willkürlich anmutenden Blenden
und Großaufnahmen. Die Welt der fiktional geschaffenen Illusion ist
offener und durchlässiger, bis hin zu Formen, die im Westen als Fehler
des Anschlusses, der Geschlossenheit, auch der Synchronizität von Bild
und Ton betrachtet würden, hier aber oftmals gar nicht als solche
wahrgenommen werden: von Blicken der Darsteller in die Kamera bis hin zum
Dreh in der Stadt mit Passanten, die im Bild aufs inszenierte Geschehen starren
wie der Betrachter im Kinosaal.
Das herausstechende Merkmal sind natürlich die Song-and-Dance-Szenen
oder, wie es im Bollywood-Jargon in der Regel heißt: Picturizations,
die das narrative Geschehen vielfach unterbrechen. In der Regel sind sie
vor der Intermission, die als weit mehr als zufällige Zäsur die
Struktur der Filme deutlich prägt, häufiger. Die ersten eineinhalb
Stunden können oftmals mit der Entwicklung des Settings, mit der
Einführung der Charaktere vergehen, die einander in scheinbar
vorläufigen Plot-Bewegungen und Tanz-Szenen angenähert, deren Konflikte
in diesen nach westlichem Verständnis sehr ausführlichen Expositionen
entworfen werden. Homogenität in Ton, Genre-Zugehörigkeit und Stil
ist dabei in der Regel keineswegs angestrebt, ganz im Gegenteil. Der sog.
Masala-Film (damit ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschmacksrichtungen
bezeichnet) ist vielmehr darum bemüht, scheinbar Widerstrebendes zu
Gemengelagen jeder Art zusammenzuführen und -rühren. Albernste
Komik und tiefe Tragik schließen sich dabei nicht nur nicht aus, der
Wechsel vom einen zum anderen kann sich binnen Sekunden vollziehen.
Sehr allgemein gesprochen ist das Kino Bollywoods als Kunst des Melodrams
im Unterschied zu Hollywood nicht ein Kino des unsichtbaren Schnitts, sondern
ein Kino der Blende - und im Begriff der Blende darf man sich den "weichen"
Schnitt, der im Trennen verbindet, und das englische "blend" als synchrone
oder sukzessive Vermischung des Getrennten selbst noch einmal ungeschieden
vorstellen. Im Zugleich etwa des Bitteren und des Komischen, zu dem es immer
wieder kommt, entstehen Zwischenzustände der Gefühle als Formprinzip
eines Erzählens. Der gleitende Übergang vom internen, das
heißt also: mit Wirklichkeitsabbildung unter keinen Umständen
zu verwechselnden Realismus der Diegese zum Überschwang der Bewegung
in den Tanzeinlagen, der der Kontinuität von Ort, Zeit, Handlung kaum
mehr verpflichtet ist, ist der Höhepunkt dieser Übergängigkeit,
reinste Gestalt des Prinzips: denn von Bild zu Bild, von Schnitt zu Schnitt,
wechseln hier potenziell die Kleider, die Farben, die
Schauplätze, die Stimmungen, die Musikstile, die Verhältnisse zwischen
den Personen.
Die Tatsache, dass die Darsteller in den choreografierten Song-and-Dance-Szenen
in aller Regel nicht selbst singen, sondern die Lippen nur mehr oder minder
synchron zum Playback selbst oftmals als Stars gefeierter Sängerinnen
und Sänger bewegen, unterstreicht nur einen anderen Grundsachverhalt:
Fast niemals gibt es in Bollywood-Filmen Originalton. Alle Dialoge werden
nachsynchronisiert, die Geräusche nachträglich zum Bild komponiert,
komisch unterstreichend oft, seltsam asynchron manchmal, kaum jedoch, wie
es die Hollywood-Konvention vorschriebe, dem Ideal eines Realismus gehorchend,
der das Medium als Form im Dienst einer durchgehenden Realitätsillusion
auslöschen möchte. Die wichtigste "Attraktion" des Bollywood-Kinos
ist dabei fraglos die Musik. Die Komponisten werden inzwischen als Pop-Stars
gefeiert, A.R. Rahman, der inzwischen auch im Westen als von Andrew Lloyd
Webber engagierter Komponist des in London (aber nicht in New York) sehr
erfolgreichen Musicals "Bombay Dreams" bekannt ist, gibt längst Konzerte
vor riesigem Publikum. Dies ist eine Entwicklung, die sich mit der zunehmenden
Bedeutung anderer Verbreitungsmedien ungezählter Zeitschriften,
des Fernsehens, des Internets noch einmal verstärkt hat, die
Musik war jedoch immer schon einer der wichtigsten Bestandteile für
die Erfolgsaussichten eines Films. Der reine Soundtrack wurde und wird lange
vor dem Kinostart vertrieben (früher auf Kassetten, heute auf CDs),
so dass die Zuschauer im Kino mit vielen der Songs längst vertraut sind.
Für alle Theoretiker und Liebhaber des Films, die das Medium als Erretter
von Wirklichkeiten betrachten, ist das indische Kommerzkino, mit dem man
im Westen lange Zeit kurzen Prozeß gemacht hat, ein Greuel. Aber auch
die Freunde der strengen Entsprechung von Form und Funktion, in der Grammatik
der Filmsprache ebenso wie der damit stets verbundenen linearen
Schlüssigkeit der Figurenpsychologie, haben am Ausufern der Form im
Kino von Bollywood wenig Freude. Der formalen Enttäuschung jeder
eingeübten Realismuserwartung korrespondiert zudem eine inhaltliche.
Anders als im Kino des sogenannten "parallel cinema" eines Satyajit Ray oder
Shyam Benegal, das auf westlichen Festivals sehr viel häufiger anzutreffen
ist, kommt in Bollywood die gesellschaftliche Wirklichkeit nur über
implizierte allegorische Lesarten ins Bild. Die Häufigkeit von Plots,
in denen früh getrennte, am Ende wieder vereinigte Geschwister (z.B.
als Zwillingsschwestern in Seeta aur Geeta) oder feindliche, freundliche
Brüder verschiedener Religionszugehörigkeit (z.B. ein Hindu, ein
Moslem, ein Christ in Amar, Akbar, Anthony) zentrale Rollen spielen, ist
kein Zufall. Das Trauma der mit der Selbständigkeit verbundenen Trennung
Indiens und die damit keineswegs überwundenen Religionskonflikte sind
Themen, die man höchst selten in realistischer Schilderung von Milieus
und Sozialverhältnissen dargestellt finden wird aber eben in
für das indische Publikum sofort entzifferbaren Plotstrukturen und Symbolen.
Was als eskapistische Erzählweise kritisiert wird, läßt sich
ebenso gut ohne daß das eine das andere ausschließt
als Anschluß an nicht-realistische Erzählformen lesen, wie sie
in den großen Sanskrit-Epen wie dem Mahabharata vorliegen, aber
natürlich auch von den vor-aufklärerischen Epen des Westens her
ganz grob gesagt: von Chréstien de Troyes bis John Bunyan
nicht ganz unvertraut sind.
Das Komplement des Allegorischen ist das Melodram. Erst in der nahtlosen
Verbindung von Allegorie und Melodrama wird die ästhetische Differenz
des indischen zum europäischen wie amerikanischen in anderer
Weise auch zum asiatischen - Kino deutlich. Was dieses
Komplementärverhältnis schlüssig erscheinen läßt,
ist der ambivalente Bezug von Allegorie wie Melodram zum Narrativen.
Während die Allegorie zur buchstäblichen Lesart (das Geschehen,
der Plot, die Geschichten, in die die Figuren sich verstricken) immer eine
zweite, allgemeinere Lesart impliziert, setzt das Melodram auf Plots, deren
Unwahrscheinlichkeit die Voraussetzung für abrupt wechselnde
Affektmodulationen ist. Beides scheint notwendig für ein "Kino der
Unterbrechungen" und Diskontinuitäten: der Bilder, von Bild und Ton,
Effekt und Affekt, Plot und unvermitteltem Wechsel in die arienhaften
Gesangs-Sequenzen. Heraus kommen dabei Mischungen, in denen jedes Bild, jedes
formale Mittel, jeder Affekt einen anderen "Wert" haben als in den im Westen
vertrauten Filmsprachen.
Wichtigste Filme
Naturgemäß ist die Geschichte des indischen Kinos nicht wirklich
überschaubar. Grob gerechnet kommt man, den in der "Encyclopedia of
Indian Cinema" aufgeführten offiziellen Zahlen folgend, auf deutlich
über 35.000 Werke in der Geschichte des indischen Stumm- und Tonfilms.
Auch wenn ein beträchtlicher Teil davon nicht erhalten sein dürfte
und obgleich natürlich die überwiegende Mehrzahl dieser Werke von
nicht einmal marginaler Bedeutung ist, bleibt jede Auswahl der "wichtigsten"
Filme nicht nur den eigenen Vorlieben und geschmacklichen Prämissen
geschuldet, sondern stets auch an die Verfügbarkeit der Filme auf Video
und DVDs mit englischen Untertiteln wie die Rezeptionskapazitäten des
Betrachters gebunden. Die folgende Auswahl ist daher gewiss lückenhaft.
Viele aufregende Filme sind mit Sicherheit noch zu entdecken das gilt
auch und vor allem für das nicht hindi-sprachige Regionalkino, das nur
in wenigen Exemplaren mit Untertiteln zu erhalten bzw. zu importieren ist.
Kamal Amrohi: Mahal (1949)
Einer der letzten großen Filme von Bombay Talkies, das Regiedebüt
des Urdu-Poeten und Himansu-Rai-Schützlings Kamal Amrohi. Ein Mann verliebt
sich todestrunken in den Geist einer Frau. Kameramann Josef Wirsching
ein Österreicher, der mit Franz Osten nach Indien gekommen war und blieb
- erfindet in den Licht-und-Schatten-Kulissen des Studios von Bombay Talkies
den deutschen Expressionismus neu. Die Geister, die er ruft, wird der Plot
wieder los, mit einer abenteuerlichen Wendung in Richtung Film-Noir-Thriller.
Gespensterschöne Musik von Khemchan Prakash, einer der Cutter war der
spätere Meisterregisseur Bimal Roy. "Mahal" ist ein elegischer Trauergesang,
hingegeben an Todessehnsucht und Liebesqual, voller berückender Musik,
auf Moll gestimmt, mit Auftritten und Abgängen, die in ihrer
traumwandlerischen Weltvergessenheit ihresgleichen kaum kennen. Klassisches
Bollywood in Quintessenz. Weiterer großartiger Amrohi-Film: Pakeezah
(1971), an dem Amrohi und seine (Ex-)Frau Meena Kumari fünfzehn Jahre
gearbeitet haben. Kumari, die bis heute kultisch verehrt wird, starb kurz
nach der Uraufführung des Films.
Raj Kapoor: Awara (1951)
Frühes Meisterwerk von Raj Kapoor, aber auch dessen Sangam (1964) wäre
zu empfehlen in ihm liegt unter anderem die Schweiz-Begeisterung des
indischen Kinos begründet. Awara erzählt die Geschichte des Vagabunden
Raj (Raj Kapoor) und des Richters Ragdunath (gespielt von Raj Kapoors Vater
Prithviraj) und zu Gericht gesessen wird in Wahrheit nicht über
den Vagabunden, sondern über den Richter und die von ihm vertretene
gewissenlose Sozialpolitik. Ein Höhepunkt ist die berühmte
Traumsequenz, die in monströser Studiokulisse den Expressionismus auf
die Spitze treibt und eine Schlacht zwischen Gut und Böse, zwischen
Himmel und Hölle, Rita und Jagga inszeniert und die inneren Kämpfe
mit allem Pomp, der Raj Kapoor in seinem eben gegründeten eigenen Studio
zur Verfügung stand, ins Äußere eines Traums wendet. Weitere
wichtige Kapoor-Filme: Barsaat (1949), Mera Naam Joker (1970)
Do bigha Zarim (Bimal Roy, 1953)
Der Stil, der Ton der Filme von Ritwik Gathak und Satyajit Ray sind hier
schon angedeutet. Der Neorealismus ist ein unverkennbarer Einfluss in dieser
Geschichte um eine Familie, die darum kämpft, ihren Grund und Boden
nicht an einen rücksichtslosen Kapitalisten zu verlieren. Vater und
Sohn machen sich, auf der Suche nach Arbeit und Geld, auf nach Kalkutta,
von ihren Fährnissen in der Großstadt erzählt Roy - und viel
davon hat er von Rossellini und de Sica gelernt. Auch im Plot, der von kleinen
großen Tragödien im Alltag erzählt, gibt es deutliche
Anklänge. Für indische Verhältnisse sehr ungewöhnlich
ist der gedämpfte Ton; die Gesangsszenen fügen sich nahtlos ins
elegante Understatement der Szenerie. Was hier sanft ineinandergeht, wird
Ghatak später in seinem in manchen Motiven ähnlichen Meisterwerk
"Der verborgene Stern" harsch auseinander reißen und gegeneinander
setzen. Weitere bedeutende Filme von Bimal Roy: Devdas (1955), Madhumati
(1958), Bandini (1963)
Mehboob Khan: Mother India (Bharat Mata, Indien 1957)
Vielfach als der Klassiker überhaupt gefeiert: Schon der Titel deutet
an, dass sich der Film selbst als Nationalepos versteht. Erzählt wird
von einer Mutter, die im Kampf gegen einen Kredithai und allerlei Widrigkeiten
ihre Kinder durchbringt, nur um erleben zu müssen, dass ihr Sohn Birju
ein rettungsloser Tunichtgut und Rebell wird. Nargis auch berühmt
für ihre langjährige Beziehung mit Raj Kapoor - ist als leidende
Mutter unsterblich geworden und "Mother India" das wichtigste in einer ganzen
Reihen von Mehboob Khans Sozialmelodramen. Weitere bedeutende Filme: Andaz
(1949), Aan (1952).
Guru Dutt: Pyaasa (1957)
Der früh verstorbene Guru Dutt war der künstlerisch ambitionierteste
Regisseur seiner Zeit und nach großen Erfolgen, von denen Pyaasa
der größte war, landete er mit dem Nachfolger Kagaaz Ke Phool
(1959) einen desaströsen Flop, der das Ende seiner Karriere einleitete.
Im Zentrum von Pyaasa steht der erfolglose, bettelarme Dichter Vijay (gespielt
von Dutt selbst), der nach seinem vermeintlichen Tod berühmt und von
seinem Verleger ausgenutzt wird. Die Anklänge an die Passion Christi
sind unübersehbar, auch Dostojewskis "Legende vom Großinquisitor"
ist nicht weit. Während aber Kagaaz Ke Phool es geht um einen
einst erfolgreichen, nun verachteten Regisseur im Selbstmitleid zu
ertrinken droht, gewinnt Pyaasa seiner bitteren Geschichte grandiose pathetische
Momente ab. Weitere empfehlenswerte Filme von Guru Dutt: Jaal (1952), Chaudhvin
Ka Chand (1960), Sahib Bibi Aur Ghulam (1962, offiziell figuriert Dutt hier
nur als Produzent)
Karim Asif: Mughal-e-Azam (1960)
Zur Zeit seiner Entstehung der mit Abstand teuerste indische Film aller Zeiten
genauer gesagt: etwa zehnmal so teuer wie der nächstfolgende.
Man muss sagen: Das sieht man auch. Verschwenderisch ausgestattete
Palastinnenräume, nur das Teuerste war gut genug. Die auf einer alten
Legende beruhende unglückliche, an Macht und Politik scheiternde
Liebesgeschichte trägt all den Aufwand mit etwas Mühe. Sehr umstandslos
wird man jedoch für die eine oder andere Länge durch die
berühmteste Sequenz des Schwarz-Weiß-Films entschädigt, einen
Spiegeltanz, der in Farbe nachgedreht wurde. In diesem Jahr ist eine
computerkolorierte Fassung mit teilweise neu eingestpieltem Soundtrack in
die indischen Kinos gekommen, die dann vielleicht doch endgültig zu
viel des Guten ist. Das Drehbuch mit den dramaturgischen Schwächen,
aber sehr poetischen Dialogen stammt übrigens vom Kamal Amrohi (Mahal).
Sunil Dutt: Reshma aur Shera (1971)
Der am wenigsten prominente Film in dieser Liste. Der einzige Film des
Schauspielers Sunil Dutt war ein Publikumsflop und wie es scheint,
ist keine vollständige Version erhalten; auf den derzeit erhältlichen
DVDs fehlt eine nicht ganz unwichtige Sequenz von ca. einer Viertelstunde.
Dennoch ein umwerfendes Werk: Romeo und Julia in der Wüste, mit
Anklängen an griechische Tragödien. Atemberaubende Bild-Tableaus
und Wüsten-Szenen, die auf ein finsteres und sehr konsequentes Happy-End
zulaufen. Waheeda Rehman ist zauberhaft, etwa in einer
Solo-Song-and-Dance-Sequenz zu Beginn, wenn sie ausführlich mit der
sehr beweglichen Kamera flirtet. In einer Nebenrolle: Amitabh Bachchan, als
ihn noch keiner kannte.
Ramesh Sippy: Sholay (1975)
Der Aufstieg Amitabh Bachchans zum größten Superstar aller Zeiten
im indischen Kino erfolgte rasch. Mit Filmen wie Zanjeer (1973), Majboor
(1974) und Deewar (1975) kultivierte er unter dem Rollennamen "Vijay" das
Image des Angry Young Man. Auch im Curry-Western Sholay nimmt er sich im
Bund mit seinem vagabundischen Ganovenkumpan Dharmendra allerhand Freiheiten.
Man wird hier an manches gemahnt, in erster Linie natürlich an den
Spaghetti-Western. Allerdings fallen Szenen wie die Hitler/Chaplin-Parodie
und der Freundschaftssong im Motorrad mit Beiwagen ein bisschen aus diesem
Rahmen. Ganz bei der Genre-Sache ist der Film immer dann, wenn Gabbar Sing,
der berühmteste Schurke der Bollywood-Geschichte, ins Bild kommt. Sehenswert
von Ramesh Sippy auch: Seeta aur Geeta (1972) und Shakti (1982)
Manmohan Desai: Amar Akbar Anthony (1977)
Der verrückteste in einer Reihe verrückter Bollywood-Filme, jedenfalls
wenn man nur die zählt, die es absichtlich sind. Unsterblich die Szene,
in der Amitabh Bachchan, der hier einer von drei einander lange unbekannten
Brüdern unterschiedlicher Religionszugehörigkeit ist, aus einem
Osterei schlüpft, mit Schirm, Charme und Monokel bewaffnet und mehrfach
die berühmte Zeile "You know the whole country of the system is
juxtapositioned by the hemoglobin in the atmosphere because you are a
sophisticated rhetorician intoxicated by the exuberance of your own bombasity"
von sich gibt. Auch die falsche Hochzeit am Ende mit Auftritt des irgendwie
Schweizerischen Ein-Mann-Orchesters ist einen Blick wert. Weitere Filme von
Manmohan Desai: Coolie (1983), bei dessen Dreharbeiten Amitabh Bachchan beinahe
ums Leben kam in Indien herrschte deshalb Ausnahmezustand
Aditya Chopra: Dilwale Dulhania Le Jayenge (1995)
Der Blockbuster, der die aktuellen Bollywood-Erfolge im Westen möglich
gemacht hat. Shah Rukh Khan ist hier mit Kajol in Europa unterwegs und muss
sie dann in Indien von einem sehr gestrengen Vater erobern. Regiedebüt
von Aditya Chopra, dem Sohn der Produzenten- und Regie-Legende Yash Chopra
(Veer-Zaara), das Ost-West-Konflikte vorführt und Superstar Shah Rukh
Khan in seiner Musterrolle als nonchalanter, in Maßen rebellischer
Schwiegermutterliebling zeigt. Sehr angenehm, im Vergleich zum dick aufgetragenen
Bombast etwa von Kabhi Kushi Kahbie Gham (und überhaupt den Filmen von
Karan Johar), sind das entspannte Tempo und die simple Storyline dieses Films,
der noch jahrelang mit großem Erfolg in den Kinos lief.
Mani Ratnam: Dil Se (1998)
Der Tamile Mani Ratnam ist der vielleicht wichtigste indische Regisseur der
Gegenwart. Wie keinem anderen gelingt ihm die Verbindung von Polit-Themen
und Liebesromanzen. Und keiner seiner Filme ist so atemberaubend wie sein
gewagtes Hindi-Debüt Dil Se. Sha Rukh Khan verliebt sich hier als Reporter
in eine Terroristin und lässt und lässt nicht locker. Die Spannung
steigert sich nach großen Musiknummern im ersten Teil herausragend
der Tanz auf dem fahrenden Zug, den Lars von Trier hier geklaut hat
zu einem explosiven Finale, das seinesgleichen im Bollywood-Kino nicht kennt.
Vielleicht war der Film deshalb ein katastrophaler Box-Office-Misserfolg.
Weitere großartige Ratnam-Filme: Der Gangsterfilm Nayakan (1987), die
durchgeknallte Komödie Thiruda...Thiruda (1993), der Polit-Film Bombay
(1995),
Aditya Chopra: Mohabbatein (2000)
Der zweite Streich von Aditya Chopra konfrontiert in geradezu mythischer
Manier den größten Star der Vergangenheit mit dem größten
Star der Gegenwart. Amitabh Bachchan gibt den sehr gestrengen
Universitäts-Leiter, Shah Rukh Khan seinen aufmüpfigen Widerpart.
Ähnlichkeiten mit Club der toten Dichter sind nicht zu übersehen,
aber Mohabbatein kann zum einen mit seinem Pathos entspannter umgehen und
ist zum anderen voller visueller Einfälle, die an Eleganz den
größten Teil des sonstigen Bollywood-Mainstreams weit überragen.
Ashutosh Gowariker: Lagaan (2001)
Der erste Oscar-nominierte Bollywood-Film seit Jahrzehnten. Ein Historien-Epos,
in dem ein Häuflein aufrechter Inder es mit den britischen Kolonisatoren
ausgerechnet in deren ureigenstem Sport, dem Cricket, aufnehmen will. Ein
selbst für indische Verhältnisse überlanger Film, der mit
dem fast einstündigen Cricket-Match endet, ohne auch nur eine Minute
zu langweilen. Zu bewundern sind eigentümliche Wurftechniken, Aamir
Khan zwischen zwei Frauen, eine im Tanz ausagierte Vermischung der Sphären
und nicht zuletzt die phantastische Musik von Komponisten-Superstar A.R.
Rahman. Sehenswert auch der jüngste Film von Ashuthosh Gowariker, Swades
(2004), diesmal mit Shah Rukh Khan in der Hauptrolle.
Kommentierte Literaturliste
Völlig unverzichtbar für jeden, der sich näher mit dem indischen
Film befassen will, ist das große Standardwerk von Paul Willemen und
Ashish Rajadhyaksha mit dem zutreffenden Titel "Encyclopedia of Indian Cinema"
(2001), das Biografien und Filmografien zahlreicher Regisseure, Darsteller
und anderer Bollywood-Prominenz ebenso zu bieten hat wie Inhaltsangaben einer
beträchtlichen Anzahl von Filmen. Die betonte Zurückhaltung
insbesondere in der positiven Bewertung der einzelnen Filme ebenso wie der
tendenziell eher auf Politisches als auf Ästhetisches fokussierte Blick
mindern leider das Lektürevergnügen.
Als Gegenstück für den Fan, dem bei der Enzyklopädie der
Enthusiasmus zu kurz kommt, empfiehlt sich der von Lait Joshi, Derek Malcolm
und Lalit Mohan Josh herausgegebene populärer orientierte Band "Bollywood:
Popular Indian Cinema", der wirklich verschwenderisch illustriert ist.
Im deutschen Sprachraum sieht es mit Publikationen zu Bollywood noch sehr
mau aus. Als Erste Hilfe, aber keinesfalls darüber hinaus, ist für
die grundsätzlichen Fakten die Einführung von Myriam Alexowitz
mit dem Titel "Traumfabrik Bollywood" (2003) zu gebrauchen.
Sehr viel besser bedient ist man da mit der englischsprachigen Einführung
"Bollywood a guidebook to popular Hindi cinema" von Tejaswini Ganti,
die sehr kompetent und vorurteilslos über alle wichtigen historischen
Daten und gesellschaftlichen Zusammenhänge informiert und
darüber hinaus sowohl kurze biografische Abrisse der Protagonisten
Bollywoods (Regisseure, Darsteller, Komponisten) als auch Informationen
über einige der wichtigsten Filme bietet.
Als erster Überblick mit kurzen, aber so präzisen wie
bewertungsfreudigen Zusammenfassungen wichtiger Filme empfiehlt sich auch
Ashok Bankers "Bollywood: The Pocket Essential" (2001).
Websites
Die wichtigsten indischen Websites (in englischer Sprache) sind
www.planetbollywood.com,
www.rediff.com und
www.upperstall.com.
In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen bieten sie Kritiken, Klatsch,
News und Informationen zur Geschichte des indischen Films.
Im deutschsprachigen Raum findet man bei
http://molodezhnaja.ch/bollywood.htm
eine verblüffende Menge von Besprechungen. Die Texte selbst sind sehr
subjektiv und wenig analytisch gehalten.
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