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Horizontale Anmut und schwerer Waffengang

Eine Werkbetrachtung des Hong Konger Hochdruckfilmkünstlers Chor Yuen anhand des Beispiels von INTIMATE CONFESSIONS OF A CHINESE COURTESAN

Von -MAERZ- (Axel Estein)

 

 
Zu den dankenswertesten filmhistorischen Ausgrabungen der diesjährigen Berlinale zählt sicher die kleine Retrospektive von fünf Filmen aus dem riesigen Fundus der Shaw Brothers. Eine schöne Überraschung ist, daß sich darunter auch ein Film des Regiealtmeisters Chor Yuen (Hochchinesisch: Chu Yuan) befindet. In Hong Kong zählt er dank seines breites Repertoires vieler verschiedener filmischer Stile, die er in brillianter Weise zu rekombinieren versteht, zu den schöpferischsten und kreativsten Köpfen seiner Zunft. Niemand würde daher in seiner Heimatstadt an seiner Bedeutung für die Entwicklung der kantonesischen Filmkunst zweifeln. In den rund drei Jahrzehnten seines Wirkens als Regisseur dreht er zwischen 1958, dem Jahr, in dem das Regiedebüt GRASS BY THE LAKE des damals 24jährigen erscheint, und 1990 rund 100 Kinofilme. Obwohl die Mehrzahl davon als Auftragsarbeiten für kleinere und größere Studios entsteht, ist der Schnellfilmer Chor alles andere als ein bloßer Erfüllungsgehilfe, denn oft entwickelt er auch die Stoffe und schreibt die Drehbücher zu seinen Filmen - und damit muß er der Theorie des europäischen Arthouse-Kinos gemäß als Autorenfilmer verstanden werden. Und da Chor seit nunmehr fast zwanzig Jahren auch ein gefragter Nebendarsteller für Film- und Fernsehenproduktionen ist, gehört er zu jener Handvoll von Allround-Talenten und lebenden Kino-Fossilien, die ihren Karriereeinstieg in der für das extrem schnellebige Hong Kong-Kino (wo die Uhren gegenüber der Restwelt mit 10fachem Takt laufen) geradezu prähistorischen, unter mehreren produktionsgeschichtlichen Paradigmenwechseln begrabenen Filmkulturperiode der 50er Jahre gefunden haben. Chor war stets beweglich genug, sich selbst einschneidenden ästhetischen Klimawechseln, die in dieser Zeit wiederholt ganze Regiesseur-Population aus dem Rennen geworfen haben, durch immer neue Metamorphosen anzupassen. Das macht ihm so schnell keiner nach.

Viele Filme des dezidierten Studio-Maestros, der hervorragend die Limitierungen der Soundstage zu seinen Vorteilen zu nutzen versteht, zeichnen sich durch eine überbordende Ausstattung, opulente Licht- und Farbdramaturgie und dichte Atmosphäre voller zweideutiger Stimmungen und Fantasy-Elemente aus, um derentwillen er des öfteren auf die Plausibilität der Handlung verzichtet. Der Realismus war nie der engste Begleiter dieses großen Stilisten. Chor ist ein Freund der Überspitzung, des Spiels mit Formen, Farben, Bewegungen. (Seit den 60ern entstehen zahlreiche der in dieser Beziehung besten Arbeiten Chors in Zusammenarbeit mit dem mehrfach mit bedeutenden asiatischen Filmpreisen ausgezeichneten Ausstatter Chan King-sam.)

Auch wenn Chor in den 70ern oft im damals populären Martial-Arts-Genre gearbeitet hat, ist er keiner der wirklich großen Meister der Kampfinszenierungen. Seine Qualitäten liegen eindeutig auf dem Gebiet geradezu rauschhafter, surrealistischer Bildkompositionen, die den Zuschauer packen und in ihren Bann ziehen. Chor inszeniert emblematisch: Vor verschwenderischen Dekorationen skizziert er mit triefender Farbpalette seine ausufernden Ideen. Lieber knallt er mit weitem gestischem Schwung große, vertrackte Abläufe auf die übervolle Leinwand als sich auf die authentische Ausführung einzelner Kampfaktionen zu konzentrieren. Als Liebhaber des Üppigen und Überreifen unterscheidet er sich damit ebenso deutlich von Chang Cheh oder einem in echten Shaolin-Kampftechniken ausgebildeten, extrem traditionalistischen Regisseur wie Lau Kar-leung (Hochchinesisch: Liu Jialiang) wie auch von Yuen Wo-ping (in letzter Zeit im Westen bekannt geworden durch seine Beteiligung als Kampfkunstchoreograf an THE MATRIX und Ang Lees CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON), der von der chinesischen Oper kommt und sein Augenmerk auf besonders komplexe, spektakuläre Bewegungsabläufe richtet. Aber während für Yuen hauptsächlich die artistischen Momente der Oper, und wie sie sich für den Film nutzen lassen, wichtig sind, arbeitet Chor umfassender, mit dem gesamten Repertoire der Opernbühne, nicht nur mit bestimmten Aspekten dieser ausdrucksstarken Kunst und transzendiert dies durch die Möglichkeiten des Films zu einer nur ganz selten wieder ereichten Erhabenheit des Gesamtausdrucks im nivellierten populären Formen verpflichteten Kommerzkino.

Chor interessiert sich in vielerlei Hinsicht nicht für die Echtheit eines Ausdrucks, sondern für die unterschiedlichen Wirkungsweisen der Künstlichkeit, für die in ihr und durch sie generierten Feldkräfte. Ihm geht es um Konzepte. Trotz der damit verbundenen Manierismen zeichnen sich auch seine frühen Familiendramen im Kanton-Dialekt oder seine Jahrzehnte späteren entstandenen Sozialsatiren durch sehr genaue Beobachtung und Treffsicherheit aus. Auf seine Art schwelgt er dabei immer in einer üppig-bacchantischen Selbstgenügsamkeit. Die aber nicht als reiner Selbstzweck mißzuverstehen ist. Ihm geht es um Rezeptionsmuster: wie sie funktionieren, wie sie sich verändern, sich brechen lassen, wie Bedeutungseinheiten, in ungewohnter Weise leicht gegeneinander verschoben, sich plötzlich aneinander zu reiben beginnen und man sie in neuer Weise rekombinieren kann. Er sucht die Differenz und setzt sich daher mit dem Bedeutungswandel des von ihm auf der Leinwand Gezeigten innerhalb des kulturellen Selbstverständnisses der Hong Konger Gesellschaft auseinander. Als vermittelndes Medium seiner Kommentare wählt er die Exploitation, das Triviale, das Pulp-Fiktionale. Ein paar mittelschwere Naivitäten sieht man dem Beherzten dabei gern nach. Innerhalb der für ihn relevanten Strukturen betreibt er eine durchaus ernstzunehmende, fundierte Analyse. Genrekonventionen durchbricht er oft mit Hilfe überraschend komplexer Stories. In auf den ersten Blick rein exploitativen Schwertkampf-Sexfilmen spricht er z.B. durchaus schon einmal die Notwendigkeit des Reflektierens der Handlungsträger über unbewußte psychische Repräsentationen und ihre Bedeutung an. Andernfalls wären die Entscheidungslinien und Verhaltensmuster der Protagonisten für sie selbst wie für die Zuschauer oft nur schwer verständlich, blieben vielleicht sogar total sinnlos. Ein wirklich elegenter Ansatz: über die Dekorbetonung zur tieferen Psychologie.

Viele der frühen Arbeiten Chors stammen aus dem sich seit den frühen 30er Jahre erst im Studiosystem Shanghais, dann, ab den späten 40ern auch in Hong Kong entwickelnden Wenyi-Genre (romantische Melodramen), die in der Tradition moderner Literatur und Bühnenstücke stehen und mit Hilfe komplexer dramatischer Strukturen die Psychologie der Protagonisten in kammerspielartiger Form in den Vordergrund rücken, um ihr oft widersprüchliches Verhalten besser verständlich zu machen. Im Lauf der 60er Jahre wird sich Chor - einerseits Traditionalist und bestens vertraut mit dem filmischen Vokabular seiner Vorgängergeneration (zu der etwa Chors Förderer, der bekannte Studioregisseur Qin Jian zählt), andereseits ein großer Experimentator - als einer der kreativsten Erneuerer des kantonesischsprachigen (später auch des Mandarin-)Kinos erweisen. Selbst zur zweiten Nachkriegsgeneration der Hong Kong-Regisseure gehörend, bedient er sich virtuos der technischen und stilistischen Errungenschaften seiner Lehrer. Und auch er selbst ist durch die psychologischen und filmtheoretischen Aspekte seiner Arbeiten wiederum in mehrfacher Hinsicht für die Ende der 70er Jahre anhebende Aufbruchsbewegung der New Wave des Hong Kong-Kinos (die man als die vierte Generation bezeichnen könnte) richtungsweisend.

Leider sind viele von Chors frühen Werke aus den 50ern und 60ern für das Kino verlorengegangen. Hin und wieder werden jedoch (teilweise gekürzte) 16mm-Fassungen seiner Filme aus dieser Zeit von Hong Konger Fernsehsendern ausgestrahlt. Umso erfreulicher, daß es nun durch die sukzessiven Wiederveröffentlichungen der Firma Celestial auch einem breiteren Publikum möglich sein wird, zumindest seine zahlreichen im Lauf der 70er Jahre entstandenen Arbeiten für die Shaw Brothers neuzuentdecken.
 

Intimate Confessions of a Chinese Courtesan
 

Eine Kostprobe dessen, was den brachialen Eklektizismus Chors, überhaupt schon immer den Geist des Hong Kong-Kinos ausmacht, bietet der in seiner Erzählweise ungestüme Historienfilm INTIMATE CONFESSIONS OF A CHINESE COURTESAN (HK, '72). Dieses ganz unbefangen zusammengefügte Sammelsurium verschiedenartigster und trotzdem hervorragend funktionierender Genre-Versatzstücke wird für Chor ein ebenso großer Hit wie der ein halbes Jahr zuvor erschienene Kampfkunstkrimi THE KILLER (HK, '72). Diese frühe Bündelung viele der wichtigsten Motive und Darstellungsweisen jener Martial-Arts-Filme, die den Filmmarkt Hong Kongs während der 70er Jahre beherrschten, erregte damals sogar international Aufsehen. Allerdings ist der waffenlos ausgetragene Mann-gegen-Mann-Nahkampf wie in THE KILLER nicht Chors Sache; realistische Darstellungen sind für ihn zweitrangig. Primär macht er sich um die Weiterentwicklung des Schwertkampffilms oder Wuxia pian verdient. Die Domäne der künstlerisch relevanten Wuxia pian wird währendd er folgenden Jahre fast ausschließlich von Chor besetzt sein.
 

 
 Für den vor Kostümpracht strotzenden INTIMATE CONFESSIONS nutzt Chor, der nichts dem Zufall zu überlassen scheint, mit viel Liebe zum Detail die volle Studiokapazität der Shaw-Studios: durch schweres Hilfsgerät aufwendig bewegt, gleitet die Kamera durch die bis in letzten Winkel hinein liebevoll durchkomponierten und ausdekorierten, sorgsam ausgeleuchteten Bühnen-Sets. Geschickt nutzt er die Tiefenschärfe für gestaffelte Bildebenen und erzielt hierdurch den Eindruck hoher Komplexität und Verdichtung. Nicht jede seiner Kameraeinstellungen besitzt funktionale Notwendigkeit. Vieles sieht einfach nur gur aus: schnelle Zooms zwischen Totalen und Nahaufnahmen, Gesichter, die wie in Sergio Leones Italowestern die Leinwand ausfüllen, Reißschwenks. Alles, was Spannung und Dynamik erzeugt und die volle Breite des Scope-Formats ausnutzt, ist Chor gerade recht. Diese Verfahrensweisen sind typisch für seine von Statistenheeren wimmelnden Soundstage-Arbeiten. Strukturell gleichen sich natürlich die in dieser Zeit entstandenen Filme der auf dem Gebiet der Studioproduktion konkurrenzlosen Filmfabrik. Mit den Produkten der Shaws einigermaßen vertrauten Zuschauern fällt es auch nicht schwer, den Weg bestimmter Kulissen, Ausstattungsgegenstände etc. durch die Sets verschiedener Filme zu verfolgen. Aber trotz dieser vielen Gemeinsamkeiten besitzen Chors Filme immer ein gewisses Etwas, durch das sie sich deutlich von der Masse ähnlicher Produkte abheben. Nicht viele können sich mit seiner visuellen Eleganz messen. Als Meister der sinnlichen, besonders natürlich der optischen Verführung versucht er seine Zuschauer einzuwickeln. - Und das gelingt ihm: durch geschmackvoll gefilmte Innenaufnahmen, pittoreske Außenaufnahmen in Modellbaulandschaften, nicht besonders realistische, dafür aber umso packender inszenierte Kampfszenen, natürlich auch mit einer komplexen, gut ausgearbeiteten Story und kompetente Darsteller.

Die hohe Kunst des Erzählkinos sollte allerdings niemand von INTIMATE CONFESSIONS erwarten. Das sich dramatisch nicht kontinuierlich aufbauende Geschehen gewinnt duch verschiedene stilistische Mittel an Dynamik. Das Wechselbad der Stile und Formen setzt sich gemäß der Entstehungszeit dieses psychedelischen Spektakels sogar auf musikalischer Ebene fort: ohne erkennbaren Anlaß ertönen Bebob-ähnlicher Jazz, Blaxploitation-Sounds, Hong-Kong-Soul, früher Art-Rock. Wie auch in einigen weiteren Filme aus dieser Schaffensphase, darunter KILLER CLANS (HK, '75), seinem Durchbruch als Regisseur von Kampfkunstflimen, greift Chor hier tief in die Trickkiste und fischt zum Spannungsaufbau die narrativen Muster von Detektiv- und Mystery-Thrillern daraus hervor. Einem Publikum, dem das nicht genügt, gibt er Gewalt und softe Sexploitation.

Fortsetzung (2. Teil)