Hektisch, aggressiv und kosmopolitisch
John C. Reilly (37) ist vielleicht noch nicht berühmt, ganz zweifellos
aber einer der besten Schauspieler seiner Generation. Ob als verzweifelter
Fischer in "Der Sturm", als koksender Pornostar in "Boogie Nights" oder einsamer
Cop in "Magnolia": Reilly ist ein cineastisches Chamäleon und derzeit
an gleich drei Top-Filmen beteiligt: "Gangs of New York", "The Hours" und
nicht zuletzt das Musical "Chicago", das ihm eine Oscar-Nominierung als bester
Nebendarsteller einbrachte.
Frage: Mr. Reilly, herzlich willkommen auf der Berlinale. Wie gefällt
Ihnen Deutschland?
John C. Reilly: Fantastisch. Auf der Berlinale-Premierenparty für "Chicago"
wollte Heidi Klum mit mir tanzen. Das konnte ich mir natürlich nicht
entgehen lassen. Sie ist so hübsch und trug ein unverschämt edles
Designerkleid. Ich liebe Deutschland.
Frage: In "Chicago" schwingen sie des öfteren das Tanzbein. Haben Sie
eigentlich eine professionelle Ausbildung?
Reilly: Vor Ewigkeiten habe ich eine Schauspielschule besucht, in der ich
jeden nur erdenklichen Tanzschritt lernen musste. Aber das war in meiner
Jugend, und vieles davon habe ich vergessen.
Frage: Erinnern wir uns gemeinsam an Ihre Jugend!
Reilly: Sehr gerne! Meine Jugend verbrachte ich in Chicago, unser Haus stand
in einem ziemlich üblen Arbeiterviertel. Ein Viertel ohne jegliche
Kreativität. Die Schauspielschule war der beste Ort, um davon Abstand
zu bekommen und Dinge zu tun, die ich sonst nie hätte machen können.
Wie Schauspielen und Tanzen zum Beispiel.
Frage: Also war "Chicago" für Sie keine wirklich neue Herausforderung?
Reilly: Ich bin mit dem Milieu sehr gut vertraut. Im Alter von acht bis siebzehn
habe ich fast nichts anderes gemacht als in Musicals aufzutreten. Das ist
die Basis meiner Schauspielerfahrung. Auf der Schauspielschule wollte man
aber von alledem nichts wissen. Dort galten Musicals als reine Unterhaltung
und hatten nichts mit echter Kunst zu tun. Deshalb bin ich froh, mit "Chicago"
wieder zu den Anfängen zurückzukehren.
Frage: Wie kamen Sie denn an die Rolle?
Reilly: Ich schickte dem Regisseur ein Videoband von mir, in dem ich mit
einer richtig schicken kleinen Fliege am Anzug meine musikalische Interpretation
von Amos Hart zum Besten gab. Es hat ihm offenbar gefallen.
Frage: Damit nicht genug. Viele bezeichnen Sie inzwischen als den neuen Gene
Hackman...
Reilly: ...und ich betrachte das als große Ehre. Gene Hackman ist eine
der wenigen lebenden Legenden - das perfekte Vorbild, um seine Karriere daran
zu orientieren. Aber er lebt ja noch. Daher besteht vermutlich kein wirklich
großes Interesse an einem neuen Gene Hackman (lacht). Gene spielt schon
seit Jahren nur gute Rollen...
Frage: ...und auch Sie haben einmal gesagt, dass sie nur sehr ungern einfache
Rollen spielen!
Reilly: Es wäre doch schrecklich, wenn mich meine Rollen auf Dauer
langweilen würden. Ich brauche die Herausforderung, möchte immer
wieder etwas Neues probieren. Das bin ich mir schuldig.
Frage: Trotzdem sind Sie keiner der wirklich großen Superstars, die
immer und überall von ihren Fans verfolgt werden...
Reilly: Ich mache diesen Job seit beinahe fünfzehn Jahren, und es gab
natürlich Zeiten, in denen ich mir mehr Bekanntheit und Anerkennung
gewünscht hätte. Aber Anerkennung ernte ich mittlerweile mehr als
genug. Ich liebe meinen Job und genieße das Leben in vollen Zügen.
Stellen Sie sich vor, auf der Berlinale wurde mir sogar die deutsche
Vizepräsidentin vorgestellt.
Frage: Deutschland hat eine Vizepräsidentin?
Reilly: Nein? (irritiert) So wurde sie mir zumindest vorgestellt. Zumindest
war sie eine sehr wichtige Politikerin.
Frage: Derzeit sind Sie in drei Blockbustern zu sehen: "The Hours", "Chicago"
und "Gangs of New York". Werden Sie seitdem auf der Straße öfter
erkannt?
Reilly: Momentan spüre ich die Auswirkungen schon. Aber im Gegensatz
zu früher kann ich heute damit umgehen. Im Rampenlicht zu stehen finde
ich nicht mehr ganz so schlimm.
Frage: Der Drang nach Bekanntheit ist auch ein zentrales Thema in "Chicago".
Bei Ihnen scheint dieser Drang dagegen nicht so ausgeprägt zu sein.
Reilly: Es gibt einige wenige Schauspieler, die es schaffen, bei all dem
Rummel um ihre Person normal zu bleiben. Jack Nicholson ist das beste Beispiel.
Vor ein paar Jahren war ich mit ihm auf einem U2-Konzert. Zuerst besuchte
er mit mir die Jungs hinter der Bühne, danach stürzte er sich ohne
jegliche Berührungsängste mitten in die Menge tausender grölender
Fans.
Frage: Jack Nicholson? Auf einem Rockkonzert?
Reilly: Ganz richtig. Er hat weder Paranoia noch übertriebene
Sicherheitsbedenken. Jack ist einfach locker und normal. Gerade weil er sich
so verhält, wird er von den meisten Passanten auch in Ruhe gelassen.
Frage: Werden Sie auch in Ruhe gelassen?
Reilly: Nicht immer, aber ich komme damit auch gut klar. Ich freue mich,
wenn ich einen Fan mit einem gemeinsamen Foto glücklich machen kann.
Aber wirkliche Kraft schöpfe ich nicht aus der Bewunderung von fremden
Leuten. Viele andere Schauspieler brauchen diese Bestätigung von
außen. Mir ist es wichtig, dass meine Familie und enge Freunde mich
lieben und bewundern. Mehr nicht.
Frage: Mit "Gangs of New York" und "Chicago" spielen Sie in Filmen über
zwei sehr konträre Städte. Welche gefällt Ihnen denn besser?
Reilly: Chicago ist meine Heimatstadt und für mich der schönste
Fleck der Erde. Demnächst werde ich dort am St. Patrick's Day co-moderieren.
Aus diesem Grund bekam ich neulich einen Brief vom Oberbürgermeister
und zitterte am ganzen Körper. Für mich war das eine
größere Ehre, als wenn ich unserem Präsidenten die Hand
hätte schütteln dürfen.
Frage: Und New York...
Reilly: ...ist hektisch, aggressiv und kosmopolitisch. Zwar auch irgendwie
schön, aber kein Vergleich zu Chicago. Ich sage immer: Wenn dir Chicago
nicht gefällt, dann gefällt es dir nirgends.
Frage: Trotzdem wohnen Sie in Los Angeles!
Reilly: Los Angeles besteht eigentlich nur aus gigantischen Vorortbezirken,
ohne Auto ist man vollkommen aufgeschmissen. Alles dreht sich in dieser Stadt
um Film, Glamour und Stars. Für den Beruf mag das vielleicht ganz
vorteilhaft sein. Trotzdem werde ich vermutlich wieder nach New York ziehen.
Vielleicht schon sehr bald.
zur Jump Cut Startseite |