Das japanische Underground-Kino hat in den vergangenen Jahren
wohl einige der bizarrsten und skurrilsten Filme hervorgebracht, die die
Kinowelt je gesehen hat. Sicherlich, alles was aus Nippon zu uns gelangt
ist im Moment "cool" und "hip", doch es ist unverkennbar, dass die dortige
Multimedia-, Videoclip- und Kinolandschaft etliche interessante Regisseure,
Künstler und Musiker sowohl anzieht als auch hervorbringt und gemeinsame
Projekte realisieren lässt. Einer davon ist der 1958 in Fukujama, in
der Präfektur Hiroshima, geborene Hiroyuki Nakano, der durch den Rock'n'Rock
Samurai Film Samurai Fiction (1998), einer Synthese aus traditionellem
Samuraifilm und moderner Videoclipästhetik, bei uns bekannt wurde.
Das Multitalent begann bereits in der Mittelschule Gitarre zu spielen
und eigene Songs zu schreiben und entwickelte sich so passabel, dass er sich
zu einem Musikstudium entschloss. Doch "Selbstzweifel" ("
, um dann
später als bester Gitarrist der Welt ständig Solo-Alben herausbringen
zu müssen...") und "mein steifer kleiner Finger an der linken Hand"
beendeten seine Musikerkarriere vorzeigt. Fortan verdiente er seinen Unterhalt
bei einem Fernsehsender in Osaka, wo er, nach kurzer Einarbeitungszeit, der
Geschäftsleitung zugeteilt wurde. Obwohl ihm die Arbeit gefiel und er
Einblicke in die Produktionsstrukturen erhielt, stellte er nach einigen Wochen
fest, dass ihm das Leben in "Anzügen und Lederschuhen" auf die Dauer
nicht zusagte. Mit 24 Jahren wechselte er in die Unterhaltungsabteilung des
Senders, wo er bald selbständig Klamauk-Musiksendungen für das
Spätprogramm produzierte und Regie führte. Etwa zum gleichen Zeitpunkt
kaufte er sich eine Videokamera, experimentierte damit und unterlegte die
Aufnahmen mit Musik. In Zusammenarbeit mit Freunden entstanden damals die
ersten "Videoclips". Hierbei sammelte er erstmals Erfahrungen, die er, in
seinen späteren Arbeiten und im Umgang mit seinen Mitarbeitern und Kollegen,
einsetzte. Aus dem begeisterten Videofilmer wurde ein Film-Autor. "Ein Film
kommt durch den Einsatz vieler Zustande, und Filmregisseure geben oft zu,
dass Teamwork dem Alleinentscheiden gegenüber Vorteile hat. Allerdings
trifft das bei ganz neuen Sachen nicht zu. Ein zu eingefahrener Mitarbeiterstab
kann sich selbst im Weg sein, um etwas Neues zu entwickeln. Falls man über
genügend Zeit verfügt, kann man alles alleine machen. Damit falle
ich aber den Schauspielern zur Last". Der anfängliche Spaß
mündete 1985 in der Tyrell Corporation, Japans erster
Musik-Video-Produktionsfirma. In den 80er Jahren verschaffte er sich mit
seinen Videokunstarbeiten landesweite Anerkennung und erregte Aufsehen bei
zahlreichen japanischen Musikern. 1992 reichten die Kapazitäten der
Tyrell Corporation nicht mehr aus und Nakano expandierte sein Unternehmen
und firmierte fortan unter Peacedelic Studios. Die Gruppe Dee
Lite engagierte ihn für die Verfilmung ihres Songs Groove Is
In The Heart, der in sieben Kategorien für den MTV Award nominiert
wurde. Von nun an war der Name Nakano in der Musik- und Werbebranche in aller
Munde. Er arbeitete u. a. für Les Rita Mitzouko, Pizzicato
5 und zeichnete verantwortlich für den herausragenden Clip NI TEN
ICHI RYU der britischen Drum'n'Bass-Artisten PHOTEK. Das 1996 entstandene
Video, dessen Titel eine bestimmte Schwertkampftechnik mit zwei Schwertern,
einem Lang- und einem Kurzschwert bezeichnet, wurde weltweit von MTV ausgestrahlt
und im gleichen Jahr auf dem Edinburgh International Film Festival mit
großer Resonanz gezeigt und wies bereits deutlich auf den zwei Jahre
später realisierten Samuraifilm hin.
Durch diese Arbeit kam er mit dem in Japan äußerst
populären Musiker Tomoyasu Hotei in Kontakt. In Hotei, der von 1979
bis 1988 als Leadgitarrist der Rockband Boowy Karriere gemacht hatte
und 1996 als Special Guest beim David Bowie-Konzert in Tokio für Furore
sorgte, sah der Filmemacher "den Samurai der Gitarre", den er für seinen
geplanten Spielfilm gewinnen wollte. Parallel zu seiner Tätigkeit als
Videoclipregisseur schrieb er etliche Drehbücher und erarbeitete Konzepte,
die jedoch nie realisiert wurden, wie z. B. das Funky Musical über James
Brown und ein 3-D-Film mit Björk. Sowohl Hotei als auch Nakano waren
begeisterte Anhänger des Samuraifilms und interessierten sich für
die philosophische Weltanschauung dieser Kriegergemeinschaft. Altmeister
wie Akira Kurosawa, Masahiro Makino und der legendäre Seijun Suzuki
zählten zu ihren Lieblingsregisseuren, und beide träumten davon
einen Samuraifilm zu drehen. Mitte der 90er Jahre kam es zu einem Treffen
zwischen Nakano und dem japanischen Verleiher von Trainspotting, der ihm
auf die Frage, was denn die Zuschauer eigentlich von einem Film erwarten,
antwortete: "Einen Film der cool ist". Das war der Anstoß für
Samurai Fiction! Nachdem die Pre-Production bereits vier Monate in
vollem Gange war, sprangen die beiden Produzenten, denen das Unterfangen
inzwischen zu bizarre Formen angenommen hatte, ab. Dem japanischen Multitalent
gelang es dennoch, als "Film-Ronin", die Finanzierung zu sichern. Die Hauptrolle
des Kazamatsuri übernahm, der inzwischen zum unverzichtbaren Kompagnon
avancierte, Tomoyasu Hotei.
Nach der Deutschlandpremiere, die während der Berlinale 1998
stattfand, zeigte sich das Publikum begeistert und viele Angehörige
der Kritikerzunft stimmten ebenfalls in den Chor der Lobeshymen ein. Die
spielerische Zusammenführung des Newcomers der Filmmontage, der Verwendung
von Rockmusik mit den Elementen der Slapstick-Komödie überbot vieles
bereits da Gewesene. Doch nach anfänglicher Begeisterung zeigten sich
auch einige Zweifler. War Hiroyuki Nakano nicht vielmehr ein Scharlatan,
der die oberflächliche Ästhetik des Musikvideos zur Länge
eines Spielfilms ausdehnte? Oder war sein Ziel die Ausdrucksform des Kinos
zu erweitern?
Diente das Japanische Reich der Edo-Ära (1600-1853) bereits in
seinem ersten Spielfilm als dekorative Kulisse, setzte der Workoholic mit
seinem, kürzlich in Tokio präsentierten, Ninja-Epos Aka Kage
(Red Shadow) neue Maßstäbe in Set- und Production-Design. Der
Plot ist denkbar einfach: In den Wirren der Sengoku-Periode, um das Jahr
1545, verfällt die Macht und das Ansehen des Ninja-Clans Kageichi zusehens.
Vormals bekannt für ihre unbezwingbaren kämpferischen
Fähigkeiten, versucht der übriggebliebene Ninja-Meister (Naoto
Takenaka) sein Wissen, um die Kunst des Kämpfens, an seine drei
Schützlinge, dem aufrichtigen, aber naiven Aka Kage (Masanobu Ando),
dem mutigen, aber unbeholfenen Aokage (Jun Murakami) und der schönen,
aber gefährlichen Asuka (Kumiko Aso), weiterzugeben. Um den Frieden
im Reich zu sichern, werden sie von ihrem Meister ausgesandt gegen den sinisteren
Daimyo Togo (Masahiko Tsugawa) zu kämpfen. Nachdem sie diesen besiegt
haben, geraten sie in Konflikt mit dem Nachbarclan Kyogoku, bei dem Asuka
tödlich verletzt wird. Aka Kage will sie rächen. Sein Fable für
die Kostüme, Waffen und Accessoires der mythischen asiatischen
Kriegerkasten, lebte der Regisseur, in dem zuerst als Manga
veröffentlichten Epos, vollends aus. Hiroyuki Nakano schloss direkt
an die Tradition Masahiro Makinos an, des Meisters des Samuraifilms der
Stummfilm-Ära. In Europa kaum bekannt, drehte Makino Ende der 30er Jahre
stilistisch äußerst präzise Chambara- (Schwertkampf-) Filme,
die ihrer damaligen Zeit weit voraus waren. Nicht zuletzt durch den Schauspieler
Bando Tsumbasaburo, der die Technik des Schwertkampfes bis zur Perfektion
beherrschte und eine enorme physische Präsenz besaß, zählen
diese Filme auch 60 Jahre später zur Crème-de-la-Crème
des Chambara-Films. In den zahlreichen Filmen, die der Pionier des Samuraifilms
mit dem, von japanischen Fans liebevoll bezeichneten, "Batsuma" drehte,
gewichtete er die körperliche Aktion des Schauspielers und das damit
erzielte Tempo des Geschehens, sehr viel stärker, als den logischen
Handlungsablauf. Und genau hier liegt der Schnitt- (und Knack-) punkt zwischen
den beiden kreativen Köpfen ihrer Zeit. Denn das heutige Talent bediente
sich in Aka Kage zu häufig der wohlvertrauten technischen
Unterstützung, so dass, trotz aller Hong-Kong-inspirierten Actionszenen,
humorigen Einlagen à la Indiana Jones unterlegt mit
Heavy-Metal-Music (!), am Ende nichts weiter bleibt, als ein blutarmer, an
ein Videospiel erinnernder Plastik-Eastern, mit dem man allenfalls
14-jährige Teenager begeistern kann. Die atmosphärische Dichte
und Intensität der Filme Makinos, die durch eine temporeiche, aber nie
hektische Montage und einen grandiosen Darsteller erzielt wurden, ersetzte
Nakano durch eine überreizte Bilderflut, die sich negativ durch den
gesamten Film zog. Man darf auf die Rezeption hierzulande gespannt
sein.
Doch Nakano wäre nicht er selbst, hielte er nicht zeitgleich
eine neue Überraschung parat. Mit Stereo Future, ebenfalls in
diesem Jahr fertiggestellt, machte er einen Zeitsprung in das Jahr 2002 und
widmete sich den negativen ökologischen Einflüssen, die der Mensch
auf die Natur nimmt. Das Leben des erfolglosen Samurai-Darstellers Keisuke
(Masatoshi Nagase) steht im Mittelpunkt der Handlung, dessen Leben eine einzige
Beziehungskatastrophe ist. Kurz vor einem neuen Engagement verlässt
ihn auch noch seine Freundin Eri (Akiko Manou). Schnell tröstet er sich
mit Mika (Kumiko Aso), einer Schauspielerkollegin. Währenddessen besucht
Eri, gemeinsam mit ihrer Schwester Kaoru (Tamaki Ayakawa), einer TV-Redakteurin,
die an einem Bericht über Umweltzerstörung arbeitet, ein Symposium.
Dort begegnet sie dem gutaussehenden italienischen Botanikexperten, der sie
zu einem Spaziergang im Wald einlädt. Umgeben von grüner Natur
und umschlungen von den Armen eines Fremden, schöpft Eri hier neue Kraft.
Parallel dazu ereignen sich in dem TV-Studio bei dem Kaoru arbeitet,
umweltaktivistische Tätigkeiten, die den ursprünglich vorgesehenen
Beitrag manipulieren wollen. Die Krise zwischen Eri und Keisuke ist jedoch
noch nicht überstanden. Im Laufe des weiteren Geschehens wird dem Zuschauer
die Odyssee immer undurchsichtiger, was die beiden eigentlich einmal
zusammengeführt hat und warum. Das ist vielleicht auch nicht das Anliegen
Hiroyuki Nakanos gewesen, denn abermals gelang es ihm nicht, eine narrative
Geschichte zu erzählen. Vielmehr setzte er erneut auf die erprobte
MTV-Ästhetik und reihte Models wie Monou, Musikstars wie Towa-Tei und
andere TV-Persönlichkeiten aneinander, ließ sie jedoch
unzusammenhängend und hölzern agieren. Erschwerend hinzu kam die
Absenz jeglicher Ironie! Die vermeintlich tiefschürfenden Gedanken zur
ökologischen Verschmutzung der Welt und der damit einhergehenden moralischen
"Verunreinigung" der modernen Gesellschaft, dienten als willkommenes Tableau,
um ein perfekt durchgestyltes Ambiente präsentieren zu können.
Selbstverständlich durfte die passende Musik dazu nicht fehlen, die
von J. S. Bach bis zum Techno-Beat reichte. So bleibt, nach einem gekonnten
Sprengen der Genrekonventionen mit Samurai Fiction nicht mehr als ein schaler
Nachgeschmack. Vielleicht besinnt sich der Regisseur seines Humors und seiner
Unvoreingenommenheit gegenüber tradierten filmischen Zwängen und
bietet und etwas "wirklich" Neues. Bis dahin sehen wir lieber
Stummfilm-Samuraifilme und legen dazu Motörhead auf, wenn`s denn sein
muß.
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