The Only Son (Hitori Musuko; 1936)
Ein Prolog, 1923. Mit drei Einstellungen auf Ding und Raum nähert sich
Ozu Mutter und Sohn. Die Mutter, die in einer Seidenspinnner-Fabrik arbeitet,
im Vordergrund das Drehen und Klappern der Maschinen. Der Sohn, der sie
anlügt: er hat dem Lehrer nicht gesagt, ob er aufs Gymnasium gehen
könne. Hat er doch, der Lehrer gratuliert der Mutter, die sich darauf
entschließt, das wenige Geld, das sie verdient, zu opfern und in den
Sohn und seine Zukunft zu investieren. Das ist es, was zählt: du musst
ein großer Mann werden. Es geht also um die Relation von Geld und
Erwartungen, daran ändert sich nichts im zweiten Teil - dazwischen ein
kurzer Verbindungsschritt -, dreizehn Jahre später, 1936. Wieder: Mutter
und Sohn, er holt sie vom Bahnhof ab, führt sie zu seiner Wohnung in
Tokio.
Und wieder: Geld und Erwartungen. Triumphal noch die Fahrt durch Tokio, gefilmt
von einer hinter dem linken Scheinwerfer des Wagens befestigten Kamera, die
fast mehr Auto zeigt als Stadt. Dann aber geht es zu ihm nach Hause. Eine
bittere Enttäuschung für die Mutter ist es zu sehen, in welch
ärmlichen Verhältnissen der Sohn lebt. Die Frau hat er ihr
verschwiegen, den Sohn (benannt nach dem abwesenden, dem toten Vater) auch,
die Schäbigkeit seiner Wohnung. Bis zum Ende wird, ein sehr bissiger
Kommentar zu den Möglichkeiten des Tonfilms, das Klappern einer nie
gezeigten Werkstatt von nebenan nicht verstummen. Wieder und wieder geht
der Blick der Kamera, nüchtern, nach draußen. Wäsche auf
der Leine. Industriebrache, eine Müllverbrennungsanlage, Rauch aus den
vier Schloten. Der Sohn borgt sich Geld, um der Mutter etwas zu bieten, pars
pro toto sehen wir: einen Kinobesuch (natürlich, nicht das erste Mal
- und doch ganz anders dieses Mal). Ein Ausschnitt, ausgerechnet, aus Willi
Forsts Film "Leise flehen meine Lieder", die Heldin singt und läuft
durchs Gras. "Das ist ein Tonfilm", erklärt der Sohn. Die Mutter
schläft ein. Es zeigt sich, mehr und mehr, das Ausmaß des Scheiterns.
Der Lehrer, das Vorbild, der Freund erscheint, als sie ihn besuchen, von
der Armut ins beinahe Pathologische gebeugt. Im Freien ein Gespräch
zwischen Mutter und Sohn, im Hintergrund die Müllverbrennungsanlage,
er spricht davon aufzugeben. Nachts, sie kann nicht schlafen, eine weitere
Aussprache. Er ist verbittert, weil er ihre Erwartungen enttäuscht hat,
weil er ihr nichts bieten kann. Sie beschimpft ihn, weil er keine Kraft zu
kämpfen zeigt. Im Raum nebenan: seine Frau. Sie erwacht, sie weint,
was wir hören, bevor wir es zu sehen bekommen. Ein Unfall, der Sohn
des Freundes und einstigen Lehrers, wird von einem Pferd getreten, der Sohn
schenkt das Geld, das seine Frau mit dem Verkauf ihres einzigen Kimonos
erlöst hat, der Mutter des Kindes. In dieser Geste, deren Zeugin seine
Mutter wird, liegt, ohne dass Ozu große Worte darum macht, wenigstens
die Andeutung einer Versöhnung. Er ist ein guter Mensch, immerhin.
Dann ist die Mutter verschwunden, keine Bilder von der Fahrt zurück
(wenn man Züge fahren sieht, ist das bei Ozu stets das Zeichen dafür,
dass das Leben weiter geht, irgendwie). Der Sohn will noch einmal kämpfen,
sagt er, noch einmal studieren, einen besser bezahlten Job finden (trostlos
übrigens die Bilder vom Unterricht, kein Vergleich mehr zu den
Studentenkomödien). Die Mutter, die nun als Putzfrau arbeitet in ihrer
alten Fabrik - und ihr Haus verkauft hat, im Schlafsaal übernachtet
-, erzählt der Freundin: Mein Sohn ist ein großer Mann geworden
in Tokio. Sie setzt sich draußen hin. Drei, vier Einstellungen ihrer
Umgebung, eine langsame Entfernung von den Menschen, dann nichts mehr. Eine
Schrifttafel vor Beginn des Films, das Motto: Das größte Unglück
liegt in der Beziehung von Eltern und Kindern.
A Story of Floating Weeds (Ukigusa monogatari; 1934)
Wollte man abstrahieren, und damit Ozus Insistenz auf Konkretion notwendig
entgegenarbeiten, könnte man sagen, dass es in "A Story of Floating
Weeds" um menschliche Gemeinschaft in Verschiebungen und Variationen geht.
Gegenüber stehen sich die wenig erfolgreich durch die Gegend tingelnde
Kabuki-Theatertruppe, deren Chef Kihachi ist - und seine Familie: der Sohn
aber kennt ihn nur als periodisch auftauchenden Onkel. Der Film beginnt mit
einer Ankunft, die, wie sich bald zeigt, eine Rückkehr ist, zur Frau,
die Kihachi liebte, für den gemeinsamen Sohn hat er aus der Ferne gesorgt.
Die Theatertruppe schlägt ihre - für den bald herabstürzenden
Regen nur allzu anfälligen - Zelte auf in dem Ort, in dem Frau und Kind
leben, Kihachi besucht die beiden. Eine Annäherung in leisen Gesten.
Vater und Sohn spielen Schach, sie gehen gemeinsam angeln. Die Beine im Wasser,
im Rhtyhmus schwingen sie die Angeln und unterhalten sich unter Männern.
Konkurrenz kommt ins Spiel: in der Truppe, eine andere Form von Gemeinschaft,
die im Interim der mehrtägigen Regenunterbrechung vorgeführt, lebt
Kihachi mit Otaka zusammen. Als die von seinen Besuchen bei der Familie
erfährt, sucht sie ihn dort auf und stiftet ihre Freundin an, den Sohn
Shinkichi zu verführen. Aus der Intrige aber wird rasch Ernst, die
Verhältnisse, die Kihichi so gern separiert hätte, beginnen sich
zu verwirren: der Sohn zirkuliert wie der Vater zwischen Schauspieltruppe
und dem Haus seiner Mutter. Die Gruppe der Schauspieler dagegen löst
sich langsam auf, es kommt zu Streitereien, Kihichi verkauft seine Habe und
beschließt, der Kleinfamilie fortan ein Vater zu sein. Das Verhältnis
aber des Sohns mit der Schauspielerin - an dem die Trennung der Sphären
so äußerlich scheitert wie sie Kihichi innerlich längst
unmöglich ist - wird zum Stein des Anstoßes. Der Vater schlägt
den Sohn, als der ihn im ersten Schock: mein Vater war Beamter, er ist tot,
nicht akzeptieren will.
Drei Akte hat der Film, im dritten schließt sich der Kreis zum Neuanfang
im Alten. Auf die Rückkehr und die Gegenwart in der Familie, den Moment
einer möglichen kleinfamilialen Gemeinschaft, folgt der erneute Aufbruch.
In diesem Kreis fließen, in den Möglichkeiten, die sich auftun,
im Dulden, im Hass, in der Eifersucht, in der Freundschaft und in der Liebe,
die in ständigen Verschiebungen die Beziehungen bestimmen, intensive
Gefühle. Wieder, wie so oft in Ozus Filmen, kommt es zur Entladung in
Schlägen, zu Verletzungen aus Verletztheit. Am Ende ein Neuanfang, der
zugleich Hoffnung bedeutet, Weitermachen und Abschied von der Alternative,
die für einen Moment zu bestehen schien: Kihichi setzt sich in den Zug
mit Otaka und beschließt, eine neue Schauspieltruppe zu gründen.
Das letzte Bild: der fahrende Zug, von außen. Ein Bewegungsbild.
Tröstlich und melancholisch zugleich.
A Mother Should be Loved (Haha o kowazuya; 1934)
Der Film ist nur fragmentarisch erhalten, Anfang und Ende fehlen, sind ersetzt
durch nüchterne Schrifttafeln. In medias res erleben wir in der
Rumpffassung das traumatische Ereignis: den Tod des Vaters. Sadao und Kosaku,
die beiden Jungen, die die Hauptfiguren des Films sind, werden aus dem
Klassenzimmer gerufen, als Bruderpaar werden sie inszeniert, im Gleichschritt
durch den Schnee. Etabliert wird die häusliche Szene, die Mutter, der
Onkel, die Brüder. Dann ein Zeitsprung, unvermittelt, mehrmals geschieht
das, die Schrifttafel gehört, irritierend, zum noch gar nicht
eröffneten Zeit-Raum, maskiert also, als Mittel der Montage, einen Schnitt.
Sadao, der ältere der beiden, geht aufs College und erfährt aus
seiner Geburtsurkunde, dass er nur der Stiefbruder Kosakus ist: er ist der
Sohn aus der ersten Ehe seines Vaters. Er revoltiert, für einen Moment,
sein Onkel, seine stets sehr passive Mutter können ihn besänftigen,
vorerst. Ozu inszeniert diese Szene als Melodram auf engstem Raum, jede kleinste
Geste erhält großes Gewicht. Die Mutter, die ihrem Stiefsohn
über das Haar streicht, die mit dem Taschentuch sich die Tränen
aus dem Gewicht wischt: das wird sich wiederholen.
Und wieder springt der Film, die Brüder nun auf dem College, zwei Themen
vermischen sich merkwürdig: die zunehmenden Finanzprobleme der Familie,
der Riss zwischen Sadao und seiner Mutter: er fühlt sich, lautet sein
Vorwurf, nicht gleich behandelt, sie bevorzuge ihn dem Bruder gegenüber,
als sei er nicht ihr richtiger Sohn. Der Konflikt gewinnt an Dramatik, bis
Sadao die Familie verlässt und ausgerechnet in einem Bordell eine neue
Heimat sucht. Mehrfach stößt er die Mutter brutal zurück,
der Bruder schlägt ihn, in diesem Dreieck springen die Verletzungen
durch die zweite Hälfte des Films. Klar sind die Szenen der Konfrontation,
unklar bleibt der wahre Verlauf der Konfliktlinien: spielt Sadao, wie die
Mutter erst vermutet, nur den Verletzten? Das bleibt seltsam unlesbar. Und
so konzentriert die Auflösungen in den einzelnen Begegnungen sind: genau
kadriert, mit steter Aufmerksamkeit auf die kleinste Geste (die Brüder
etwa, die sich die Pfeifen ihres Vaters anzünden, seinen Zylinder aufsetzen)
- im narrativen Fortgang verfährt Ozu hier eher ruppig. Im letzten
(erhaltenen) Drittel kommt es auch zum formalen Bruch: Bis dahin verzichtet
der Film vollständig auf Bewegungen der Kamera, nun häufen sie
sich, ohne nachvollziehbaren Anlass. Abrupt, natürlich, das Ende: es
kommt, sagt die Schrifttafel, zur Versöhnung der Familie. Das hätte
man gerne gesehen.
AWoman of Tokyo (Tokyo no onna; 1933)
"AWoman
of Tokyo" ist Chikako, die ihrem Bruder fürs Studium den Rücken
freihält. Tagsüber arbeitet sie als Schreibkraft, abends - so
erzählt sie ihrem Bruder - als Gehilfin eines Professors. Die Wahrheit
ist: sie arbeitet in einem Nachtclub, als Begleiterin gut zahlender Herren.
Man kommt ihr auf die Spur, erste Ermittlungen werden angestellt, die Information
erreicht Ryoichi, ihren Bruder, durch Harue, die Frau, auf die er ein Auge
geworfen hat. Mit der er ins Kino geht: sie sehen und Ozu zeigt in Ausschnitten,
wunderbare Hommage, Ernst Lubitschs Episode The Clerk aus dem Film
If I Had a Million. Ryoichi aber will erst nicht glauben, was Harue
ihm erzählt, verweist sie des Zimmers. Chikako kehrt heim, spät
nachts, er beschimpft sie, er schlägt sie und hört kaum mehr damit
auf. Kümmer dich nicht um mich, sagt sie, du sollst studieren, nichts
sonst soll dich beschäftigen. Er geht, die Hausschuhe an den
Füßen, Chikako fragt, später, Harue, ob sie ihn gesehen habe.
Auch Harue ist gnadenlos: er tut mir leid, deinetwegen. Kurz darauf der Anruf:
Ryoichi hat sich umgebracht. Wir sehen ihn aufs Bett gelagert, einen Haarschopf
nur unter Decken, davor Chikako und Harue. Tränen in ihren Gesichtern,
Harue, die zusammenbricht. Chikako aber, die Schwester, ihre Verzweiflung
verwandelt sich in Verachtung, sie schleudert dem Toten als letzte Worte
hinterher: Du Schwächling.
Der Film ist, anders als die bisherigen, weder Komödie noch Melodram
noch Tragikomödie, sondern: eine meisterhafte Tragödie. Eine abrupte
Senkung der Temperatur im Vergleich zum bisherigen Werk. Distanziert beobachtet
Ozu seine Figuren, Großaufnahmen der Gesichter wechseln mit Einstellungen
aus Nebenräumen, in denen die Darsteller im sie umgebenden Raum beinahe
verschmelzen. Auch der Raum ist nun ein anderer: klar, schlicht, nackte
Wände. Der Verweis aufs Kino ist von der Inschrift an der Wand gelöst,
in die Vorführung selbst verlegt. Ozu zeigt das reine Zitatbild,
rätselhaft, ohne es zuende zu erzählen; es gibt einen Bezug zu
Chikakos Bürotätigkeit, er bleibt aber kryptisch. Unvermutet kommt
nach den bisherigen Filmen, in denen unvermerkt das Bittere ins Komische
hinüberlief, der Ernst nie allzu ernste Konsequenzen zeitigte, diese
radikale Entmischung. Die Konturen der Geschichte sind scharf, das
Mitgefühl für die Figuren wird entschieden auf Abstand gehalten.
Durch die Bilder weht eine eisige Luft - und gelegentlich sieht man
Reifwölkchen vor den Mündern, wenn gesprochen wird. Nicht Tragik
mobilisiert der Film, sondern Wut. Die aber ist beinahe von den Figuren
gelöst, bekommt in der Reinheit der Form etwas seltsam Objektives. Der
Film kulminiert in dem einen Satz Michikos: "Du Schwächling". Mehr ist
nicht zu sagen. Nichts wird damit geheilt, es bleibt nur diese Anklage, zu
der sich ein lakonischer Vorwurf an dahergelaufene Sensationsjournalisten
gesellt. "AWoman of Tokyo" endet ganz passend mit den Bildern einer
Löschung. In einer der wenigen Kamerafahrten hat man zuvor die letzten
Schritte Ryoichis gesehen, auf der Straße, an den Füßen
noch die Haussandalen. Es gibt, am Ende, eine weitere Kamerafahrt, wieder
in Bodenhöhe. Zu sehen aber ist nichts mehr, nur die Abwesenheit, die
leere Straße, niemandes Schritt.
Dragnet Girl (Hijosen no onna, 1932)
Eine Gangstergeschichte, ja. Die Genreelemente - das Milieu, die Waffen,
der Überfall - sind aber nichts als die Schlacke falscher Vorbilder,
die Ozu in eine auf sie gar nicht angewiesene Geschichte schleppt. Die
eigentliche Logik dieser Geschichte hat, der beträchtlichen Spannung,
die der Film entwickelt, zum Trotz, wenig mit diesen Oberflächenmerkmalen
zu tun. Konstelliert werden vor allem vier Personen: der Gangster Joji und
seine Freundin Tokiko auf der einen, der Möchtegern-Gangster Hiroshi
und seine auf Ehrlichkeit insistierende Schwester Kazuko auf der anderen
Seite. Kazuko sucht Hiroshi aus den Händen Jojis zu retten; der wiederum
verliebt sich in sie, verstößt erst Hiroshi und möchte dann
selbst aussteigen. Tokiko ist zunächst eifersüchtig, es kommt gar
zu einem Showdown, in dem sie die Waffe auf Kazuko richtet. An deren
Zurückhaltung aber prallt die Drohung ab, Tokiko fasst nun auch Zuneigung
zu ihr und will, wie Joji, die Gangsterbande verlassen.
Die Geschichte einer mehrfachen Bekehrung also, aber nicht ohne Komplikation.
Denn Hiroshi hat seiner Schwester Geld gestohlen und will es ihr nun
zurückerstatten: Joji soll es ihm leihen. Seltsam aber kommunizieren
die Röhren hier: der nun will, um das Verhältnis zwischen Bruder
und Schwester zu wahren, gemeinsam mit Tokiko einen letzten Überfall
auf deren ihr auf unangenehme Weise zugetanen Chef verüben. So geschieht
es, die Beute (eine beträchtliche Summe) geht an Hiroshi und seine
Schwester. Joji, der Kazuko längst aufgegeben hat, kehrt zu Tokiko
zurück. Sie beschwört ihn nun, sich zu stellen. Die Flucht macht
etwa das letzte Viertel des Films aus. Sie kommen jedoch kaum voran, Tokiko
hält Joji zurück, fleht ihn an und schießt ihm zuletzt ins
Bein. Auf solche Konfrontationen läuft der Film in seinen besten Momenten
immer hinaus: zwischen Kazuko und Joji, zwischen Hiroshi und Kazuko, zwischen
Tokiko und Kazuko und, zuletzt, entscheidend zwischen Joji und Tokiko. Um
diese Paarungen geht es Ozu - und man könnte sagen: alles andere ist
hier ganz überflüssig.
Dazu gehört in diesem Fall auch manche stilistische Extravaganz. Ozu
füllt seine Räume und filmt diese Fülle, wie er es wohl von
Joseph von Sternberg gelernt hat. Er schneidet von einem Schwenk über
auf dem Boden verstreute Gegenstände zu Tokiko auf einer Party, montiert
von da aus parallel zu Joji in einer Bar. Oder er filmt die Flucht im Auto
mit Blick auf den als verzerrenden Spiegel genutzten Vorderscheinwerfer.
Das ist alles sehr elegant gemacht - und in den Montagen als Kontraktion
der Beziehungen, die auf dem Spiel stehen, durchaus sinnvoll. Der Reduktion
aufs Emotionale, das gerade in dieser Reduktion Komplexität gewinnt,
wirkt es jedoch entgegen. Anders als manche der beinahe zeitgleich entstandenen
Filme hat "Dragnet Girl" eine Tendenz, die momentweise erzeugten
Intensitäten auf Dekor und Stil abzulenken und dadurch zu zerstreuen.
Where Now Are The Dreams of Youth (Seishun no Yume Ima Izuko; 1932)
Eine Studentenkomödie, noch einmal. Eingeübt wird ein lustiger
Tanz, in der Pause, auf der Wiese, vor der Uni, außen vor: Saiki (Tatsuo
Saito). Die Kamera, die beschwingt zuvor über die sitzenden und hampelnden
Studenten schwenkte, fährt jetzt zur Seite und landet, halbhoch, bei
einem Buch, führt so - pars pro toto - den ein, der es liest, Saiki.
Sogleich erfahren wir, Professoren unterhalten sich: fleißig ist er,
besonders helle leider nicht. Es folgen Szenen, die wir schon kennen, die
Prüfung und Versuche, sich der strengen Aufsicht zwecks Unterschleifs
zu entziehen. Ein anderer Schauplatz, nicht weniger einschlägig: die
Liebe. Die vier Freunde, von denen der Film erzählt, lieben alle ein
bisschen, glücklich und unglücklich, darauf kommt es im Ernst nicht
an, Shige, das Mädchen, dessen Vater die Bäckerei und Teestube
gehört, in die man sich, zum Shogi-Spiel zum Beispiel, begibt zwischen
den Vorlesungen. Shiges Wohlgefallen findet, scheint es, vor allem Tetsuo,
der weltgewandt und stets zum Scherz bereit ist, ganz im Gegensatz zum
melancholischen Schlaks Saiki, der abseits sitzt und der Welt sein schiefes
Lächeln schenkt.
Für Tetsuo ist ohnehin anderes vorgesehen: ein Onkel präsentiert
eine designierte Ehefrau nach der anderen - und Tetsuo ist stets höchst
unzufrieden. In der komischsten aller bisher gesehenen Ozu-Szenen verbündet
er sich mit seinem Vater, einem anti-autoritären Trunkenbold, und serviert
die jüngste Neuerwerbung ab mit dem unverschämtesten und ungalantesten
Verhalten eines Mannes gegen eine Frau diesseits von Groucho Marx und Margaret
Dumont. Zurück an die Uni, eine erneute Prüfungssituation und wiederum
jede Menge Unfug. Mitten hinein aber platzt die Botschaft an Tetsuo, dass
sein Vater schwer erkrankt sei. Aus heiterem Himmel schlägt der Film
an dieser Stelle um. Wir sehen zu, wie Tetsuos Vater stirbt. Nichts ist danach,
wie es vorher war. Tetsuo übernimmt die Firma seines Vaters, kehrt nicht
an die Uni zurück. Er und mit ihm der ganze Film sind, von einer Sekunde
auf die andere, aus allen Jugendträumen gerissen. Und mit dem Ernst
des Lebens ist nicht zu spaßen. Noch einmal nimmt der Film Anlauf zur
Komödie, diesmal unter Angestellten - die Verhältnisse aber, zeigt
sich rasch, sind nicht mehr danach.
Tetsuo lässt seinen Freunden vor dem entscheidenden Examen die
Prüfungsfragen zukommen, als Deus ex Machina hilft er noch im Klassenzimmer
nach. Shige erst, dann auch die anderen Freunde, lädt er ein, in seiner
Firma zu arbeiten. Sie sind erfreut, denn die wirtschaftliche Lage ist desolat.
Rasch zeigt sich jedoch: die neuen Machtverhältnisse sind ihnen in die
Glieder gefahren. Devot wagen sie nie den Widerspruch gegen Tetsuo. Saiki,
vor allem, der jetzt wieder ins Zentrum gerät. Ihm ist in der Zwischenzeit
Shige versprochen, wovon Tetsuo, der sie und keine andre haben will, nichts
weiß. Er weiht seine Freunde in die Hochzeitspläne ein, Saiki
senkt den Kopf und blickt sehr traurig: "Ich habe nichts dagegen." Es geht
jetzt, hier, plötzlich um nichts anderes mehr als die Asymmetrie, die
in die Freundschaft hineinfährt, um das zerstörerische Werk der
Abhängigkeit. Die Darstellung des Dilemmas kulminiert in einem grandiosen
Höhepunkt. Tetsuo such Saiki auf, möchte ihn zur Rede stellen,
ja, Widerstandsgeist in ihn hineinprügeln. Ozu verlangsamt die
Erzählung noch einmal beträchtlich. Im Freien sind die vier Freunde.
Er bringt sie einzeln ins Bild, kreisrund schattig abgekascht die Leinwand
um das Zentrum herum, in das er sie, je, stellt. Sie sind, für diese
langen Momente, nicht mehr im selben Bild. Objektivierend, nicht kommentierend
und auch nicht metaphorisierend, schneidet Ozu zwei im Wind rauschende
Laubbäume dazwischen. Es ist eine monumentale Einsamkeit, die die vier
nun trennt. Man sieht ihre Gesichter, wieder und wieder, im Dämmerlicht.
Natur und Sprachlosigkeit, hilflose Blicke, die Verzweiflung des Mächtigen,
die Furcht der Ohnmächtigen, dies alles im offenen Raum, der alles bietet,
nur keinen Trost und keine Hilfe. Tetsuo schlägt Saiki, der gebückt
steht, der dann nüchtern erklärt: Widerspruch gefährdet die
Existenz meiner Familie, er schlägt ihn und hört nicht mehr damit
auf. Saiki lässt es sich gefallen, spät die leiseste Abwehrgeste,
er nimmt, wie schützend, ganz ratlos, die Hand vors Gesicht. Er ist
der traurigste Mensch der Welt.
Es ist dies eine große Szene der Katharsis, an der Grenze des
Erträglichen. Von hier schlägt der Film ein weiteres Mal um. Die
Freundschaft ist, im Überschreiten dieser Grenze, gerettet. Saiki wird
Shige heiraten. Der Zug verlässt Tokio, der Beginn der Hochzeitsreise
(Züge, immer wieder Züge bei Ozu. In "Ich wurde geboren, aber..."
fahren sie immer aufs neue vorbei, ohne anzuhalten), die drei Freunde winken
Shige und Saiki, die winken zurück. Ein Happy-End, ums Haar.
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