Am äußersten Rand seiner Geschichte beginnt "Aibu".
Ganz genau: am unteren Rand. Füße sind zu sehen, von denen schwer
zu sagen ist, wozu der Film sich ihrer bedienen wird. Bewegt er sich mit
ihrer Hilfe hinein in eine folgende Handlung? Aber die Füße stehen
still. Da sitzt einer. Und zwar ist das einer, der eine Rikscha zieht. Zu
ihm gehören die Füße, aber sein Gesicht sehen wir nicht.
Zunächst. Die Kamera nämlich bewegt sich nach rechts und nach oben.
Sie metonymisiert. Sie zeigt im Anschnitt die Rikscha und lässt das
Gesicht zur Person einfach weg. Sie nähert sich einem Fenster, dahinter
ein Raum. In diesem Raum ein Klassenzimmer, in dem Kinder vermessen werden
und vom Arzt untersucht. Der Arzt ist der Mann, dem die Rikscha gehört,
die der Mann, dessen Füße wir kennen, zieht. Wir sehen dann sein
Gesicht.
Es geht danach an einen anderen Rand. Das Haus des Arztes, das ein Jugendfreund
besucht. Der Jugendfreund ist inzwischen ein erfolgreicher Romanautor. Im
Haus ist die Tochter und im Haus ist ein Bild. Es ist das Bild des Sohnes
Hideo, der in Tokio ist. Der Arzt und der Jugendfreund verfehlen sich erst
mal. Vor dem Haus treffen sie sich, mit Verzögerung. Der Rikschazieher
transportiert den Jugendfreund ins Hotel, wo er seinen Verleger trifft Im
Hotel liegt aber auch ein Mann krank in seinem Zimmer mit heftigsten
Leibschmerzen. Der Arzt wird gerufen und verschreibt ihm Wärme. Das
wird, später, Folgen haben. Der Autor wird abreisen, in Tokio ins Schicksal
von Hideo eingreifen und auch wieder zurückkehren ins Haus des Arztes.
Der liegt nun selbst auf dem Krankenlager, der Folgen wegen, die seine
Wärmeverschreibung, die ein Kunstfehler war, gehabt haben wird.
Zwischendurch ist der Film mit dem Zug nach Tokio gefahren. Der Zug selbst
füllt rechts das Bild. Vorne raucht es, der Rauch füllt, dunkel
im Dunkeln, das Bild. Die Einstellung wiederholt sich, im Lauf der Wiederholung
wird es Tag: der Rauch und das Bild werden dann heller. Der Zug fährt
nach Tokio und später fährt er wieder zurück.
Dazwischen aber hat "Aibu" immer weiter metonymisiert. Auch eine Abschweifung
sich erlaubt zu einer Geschichte, von der man zunächst glauben könnte,
sie sei nun die eigentliche Geschichte des Films. Es geht darin um einen
reichen, aber unsympathischen Mann, der um die Tochter des Arztes freit.
Und um den armen, aber sympathischen Lehrer, den sie liebt. Es stellt sich
heraus: Das ist nicht die eigentliche Geschichte des Films. Es stellt sich
auch heraus: Es gibt gar keine eigentliche Geschichte. Es gibt viele Figuren,
von denen die meisten Nebenfiguren sind, aber auch und gerade diesen widmet
der Film sich länger, als man erwarten würde. "Aibu" ist, von Anfang
bis Ende, ein angenehm dezentrierter Film. Es gibt Handlungen und es gibt
Probleme, die Personen haben und bekommen, und all das und noch mehr wird
vorgestellt als ein kleiner Kosmos, in dem alles miteinander kommuniziert,
aber ganz zwanglos.
"Aibu" will am ehesten noch darauf hinaus, dass er auf nichts hinauswill.
Oder höchstens: Auf eine Art Gleichgewichtszustand, der darin besteht,
dass alle das Leben gewinnen, das ihnen gemäß ist. Schon eine
Gerechtigkeit, aber diese Gerechtigkeit liegt darin, dass erzählt wird,
was erzählt werden muss. Dahinter etwas wie die Idee eines Eigengewichts
an Aufmerksamkeit, die jeder Person, jedem Ding gebührt. Den Personen,
die man mag, aber den anderen auch. Den Figuren am einen Rand und am andern.
Fast ist es, als ginge es nur um eine Verschiebung der Ränder. Auch
das Zentrum ist, wenn Gosho wie in diesem Film darauf blickt, nur eine andere
Form von Rand, einer, auf dem der Blick, der derselbe bleibt, etwas länger
verharrt.
Wie unterstrichen darum die Bewegungen, Menschen, die rennen und dann die
manchmal fast ruppigen Kameraschwenks. Das Ins-Bild-Kommen und
Auch-Noch-ins-Bild-Bringen von Menschen und Dingen. Verbindungen herstellen.
Alles steht zueinander im Verhältnis der Metonymie, die
Gosho-Übersetzung davon ist am ehesten: im Verhältnis der guten
Nachbarschaft. Es geht darum, einander zu besuchen, aufeinander acht zu geben,
einander im Auge zu behalten. Es gehört eine Anstrengung dazu, aber
es ist die Anstrengung einer entschiedenen, aber doch kleinen oder bestenfalls
mittleren Bewegung: mit der Kamera, mit dem Zug. Oder eilend trippelnden
Schritts. Aber immer fällt ein Blick auch noch durch dieses Fenster,
hinter diese Tür, auf diese Person.
Kleine Wirbel bilden sich in der Bewegung, da kommt es zu größeren,
kleineren Dramen. Was sich so knotet, wird weniger aufgelöst, als dass
sich Gegengewichte bilden, am anderen, aber kommunizierenden Ort. Die Welt
von "Aibu" ist eine, aus der nichts, was in sie einmal Eingang gefunden hat,
wieder geschafft werden muss. Harmonisch ist sie, weil - auch gegen momentanen
Anschein - die größeren Dramen durch das, was man eine Haltung
der Achtung nennen könnte, wenn nicht verschwinden, so doch kleinere
werden.
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