Das fortwährende Murmeln im Hintergrund, das Murmeln der
Institution. Darüber komponiert Frederick Wiseman Auftritte von Gesichtern
und Stimmen, die im Film niemals als das sich darstellen, was sie für
die Beteiligten der Institution "Welfare" halber sind: fallförmig. Wie
Wiseman zugleich verhindert, dass das, was man im Ausschnitt sieht, zu falschen
conditio-humana-Behauptungen sich addieren lässt, wie er jede Bewegung
in diese Richtung entschlossen blockiert, das ist die noch bewundernswertere
Stärke seiner Darstellung. Wiseman setzt voraus, dass die Gesichter
und die Stimmen für sich sprechen und eine Geschichte haben, gerade
in der Unvollständigkeit, in der sie verbleiben. Vorausgesetzt bleibt
auch etwas wie der mythische Entwurf eines murmelnden Hintergrunds, den man
Leben nennen kann oder Gesellschaft und aus dem die Kamera da, wo sie ist,
etwas herausfiguriert, das mehr als nur einen zufälligen Bezug auf diesen
Hintergrund hat.
Das Individuum, das hier vor der Kamera erscheint, ist immer doppelter Sprecher.
Es spricht für sich selbst und es repräsentiert, als einzelner,
das, was man als nicht abzählbare, nicht erzählbare Vielzahl von
Gesellschaft mitdenkt. Es ruft, im Sprechen für sich, diese Gesellschaft
immer mit auf, es bringt das Murmeln der Vielen im Hintergrund nicht zum
Verstummen. Es tritt aus dem Chor heraus, spricht, tritt zurück in den
Chor, dessen Sprechen und Murmeln und Summen nicht abbricht. Das Chorische,
das nicht anders kann denn als Allegorie des Sozialen in einem spezifischen
Auftritt sich zu figurieren, ist bei Wiseman Sache der Komposition im Schnitt.
Was die Kamera zeigt, wird sichtbar als Zusammenhang der Einzelnen und der
Vielen erst in der auswählenden und Bild an Bild, Bild gegen Bild setzenden
Zurichtung im Schnitt. Was man in "Welfare" sieht ist aus dem Leben gegriffen
nur in dem Sinn, in dem das zwar immerzu anakolutisch aussetzende, aber noch
und gerade darin unausgesetzte Sprechen in den Romanen des William Gaddis
aus dem Leben gegriffen wäre.
Das Prinzip des Chorischen ist von repräsentativer Exemplarität
scharf zu scheiden. Die Gesichter und Stimmen, die die Kamera auf den
Stühlen und Gängen der Institution "Welfare" in der 14. Straße
Manhattans während eines Monats im Jahr 1974 findet, repräsentieren
nicht exemplarisch. Der Bezug zur Gesellschaft, aus deren Murmeln sie für
den Moment heraustreten, ist ein metonymischer, kein metaphorischer. Genau
das ist das Großartige an Wisemans Komposition. Die Stimmen sprechen
für die ihnen eingeräumte Dauer, für die Dauer, die sie im
Sprechen über sich sich einräumen. Wiseman eröffnet diesen
Raum, indem er seiner Exploration eine feste Grenze setzt. Und er verhindert
jede Ablenkung, indem er auf allfällige Markierungen seines Zugriffs
souverän verzichtet.
zur Jump Cut Startseite |