Wie zeigt man eine Vergewaltigung? Wie einen Vergewaltiger?
Matthias Glasner hat, sagt er in der Pressekonferenz, sechs Jahre über
diese Frage nachgedacht. Er hatte ein Konzept zu Drehbeginn und dann habe
er, am Drehort, die Kamera (er führte sie selbst) in der Hand, dieses
Konzept über den Haufen geworfen. Was man nun sieht, ist natürlich
zu viel und es ist kaum zu ertragen. Theo Stoer (Jürgen Vogel) fällt
über ein Mädchen her und die Kamera nötigt uns durch ihr
Dabeisein, dabei zu sein. Die Perspektive ist nicht die des Vergewaltigers,
erst recht nicht die des Opfers, es ist die eines Zeugen, der nicht wegsehen
kann.
Matthias Glasner hat sich entschlossen, diese Geschichte zu erzählen,
und zwar ohne Kompromiss. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Unverzeihliches
tut und nichts dringlicher wünscht, als es nie wieder zu tun. Er kommt
nach neun Jahren frei, darf zurück in die Welt. Es ist, wie immer in
solchen Fällen, eine Wette auf die Erlösbarkeit eines Täters,
dem zu verzeihen man niemals geneigt ist.
Und doch lernt man, indem man ihm folgt zurück in die Welt, mit ihm
zu hoffen. Er lernt eine junge Frau kennen, die erst widerstrebt. Wir sehen
sie mit seinen Augen erst, aber diese Perspektive wechselt. Zu den Zumutungen
von Der freie Wille gehört vor allem das: Wir sollen den
Vergewaltiger sehen mit den Augen einer Liebenden. Und zu den Stärken
des Films muss man zählen: Er manipuliert einen nicht, er verzichtet
auf erschlichene Wirkungen, zum Beispiel durch den Einsatz von Musik. (Es
gibt, an zentraler Stelle, Musik aber dabei geht es nicht um Erschleichung
von Gefühlen, sondern um das vom Geschehen zwischen den Figuren gedeckte
Pathos einer Hoffnung.)
Matthias Glasner hat seine Mittel für diesen Film weitestmöglich
reduziert. Mit winzigem Team sucht er als Kameramann die Nähe zu den
Darstellern. Auch sie suchen niemals den einfachen Weg. Niemals zuvor hat
man Jürgen Vogel so zurückgenommen gesehen, so sehr gefangen in
seinem Körper, so subtil in seinen Gesten. Sabine Timoteo als Netti,
die Frau, die ihn liebt, versteht es, wie keine andere Schauspielerin im
deutschen Film, das Gefühlte in huschenden Ausdrücken anzudeuten,
ohne es auszuspielen. Ein Lächeln, das kurz auftaucht und wieder
verschwindet. Und noch im Zusammenbruch spürt man keine Distanz zwischen
einer Technik und dem, was sie zeigt.
Obgleich Matthias Glasner in keine der Fallen, die bereit liegen, tappt
über die eine oder andere dramaturgische Entscheidung, über den
Einsatz des einen oder anderen religiösen Motivs kann man streiten ,
ist Der freie Wille doch kein ganz großer Film. Es bleibt
bis zuletzt das Gefühl eines Überschusses des Inhalts über
die Form. Das Problem ist nicht, und kann nicht sein, dass er seine
Erzählung nicht bändigt. Es ist vielmehr so, dass er die Mittel
nicht findet, dem Ungebändigten, dem Unbändigbaren des Geschehens
angemessenen Ausdruck zu verleihen. Oder, anders gesagt, es gelingt ihm nicht,
für das Moment der Nicht-Erzählbarkeit einer solchen Geschichte
Mittel zu finden, die das Konzept von Direktheit und Reduktion noch einmal
reflektierend übersteigt.
zur Jump Cut Startseite |