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Berlinale 2006

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Interview mit Thomas Hailer, Leiter des Kinder- und Jugendfilmfestivals der Berlinale

Von Ulrike Mattern 

Am Anfang war die Statistik – auch in diesem Jahr die allseits beliebte Frage: Wie viele Filme wurden gesichtet?

450; das schließt die ein, die Kollegin (Maryanne) Redpath und ich auf unseren Reisen das Jahr über sehen; die Filme, die von unserem Delegierten rangeschaufelt oder empfohlen werden, Filme, die wir bei eigenständiger Recherche herausfinden und anfordern, sowie eingereichte Filme. Insgesamt werden beim Kinderfilmfest und 14plus 21 Spiel- und 21 Kurzfilme gezeigt.

Was zeichnet den Film aus, der das Kinderfilmfestival eröffnet?

Es muss ein Film sein, der auf seine Weise besonders ist und der eine größere Altersspanne abdeckt. Wir können bei der Eröffnung keinen Film zeigen, der erst ab 12 frei ist. Da wollen viel jüngere ein. Beim Eröffnungsfilm ist uns ganz wichtig, dass er Generationen übergreifend alle mitnimmt. Wir haben ja in diesem Jahr thematisch die Rückbesinnung auf Familie, und ich finde, es („Opal Dream” von Regisseur Peter Cattaneo) ist ein emotional ungeheuer ergreifendes Statement zum Thema Familie. Die Familie muss ganz schön ran, um das Seelenheil der Kleinen zu retten. Es spiegelt sich in der Familie, was im Dorf los ist. Ein kleiner, abgeschlossener Bereich. Es spielt in einer Welt, in der ich persönlich noch nie war, von der ich so nicht wusste. Diese aufgebuddelte Erde mit den Opalminen. Der Film entführt uns wohin. Es ist toll, mal einen australischen Eröffnungsfilm zu haben. Wir haben klassisch eine traditionelle Bindung an europäische Länder, an Skandinavien. Man sieht, es gibt keinen Kriterienkatalog, den wir abarbeiten. Manchmal sieht man Filme, bei denen man weiß: Den habe ich direkt auf meiner Shortlist, der könnte eröffnen, weil er einen bestimmten Schwung mit sich bringt.

Welche länderspezifischen Schwerpunkte gibt es?

Eigentlich besuchen wir die Welt. Ein starkes Viertel dieser 21 Filme kommt aus asiatischen Ländern. Wenn man über statistische Trends reden möchte, dann sieht man, dass in diesen Ländern das Thema Familie, aber auch Kinderfilm und Family Entertainment mit einer sich entwickelnden Filmindustrie an Relevanz gewinnt. Das ist Teil von einer Diversifizierung. Es wird wichtig, die jüngere Zielgruppe mitzunehmen und mit eigenen nationalen Produkten zu verkaufen. Eine gesunde Filmindustrie kümmert sich nicht nur um eine Zielgruppe von 16 bis 39 Jahren, wie man das klassisch und fälschlich immer gesehen hat. Wenn man bei den Zuschauermillionären in den letzten fünf Jahren in Deutschland schaut, sind in den Top Ten immer vier oder fünf Familienfilme mit dabei gewesen. Man hat längst gemerkt, dass sie als Zielgruppe relevant sind. Jetzt und hier, weil sie Umsätze generieren. Aber natürlich auch wegen des großen Einbruchs im Kino im letzten Jahr. Die Industrie und die Branche sind gut beraten, dieser Zielgruppe früh klar zu machen, dass Kino eine Option ist, seine Freizeit zu verbringen.

Bei uns sind Verfilmungen von Kinderbüchern populär, weniger Originalstoffe. Können Sie den Trend erklären?

Es liegt auf der Hand. Ein Stoff wie „Der Räuber Hotzenplotz”, „Kleiner Eisbär”, „Bibbi Blocksberg” oder die Kästner-Verfilmungen hat ein anderes Marketing. Es ist ungeheuer schwierig, einen Stoff, der nicht bekannt ist, erfolgreich zu platzieren. Wenn man sich an die Zuschauermillion herantasten will, spricht viel dafür, ein Buch zu adaptieren, das schon bei der Mutter oder – im besten Fall – auch bei der Großmutter im Bücherschrank stand. Dann hat man eine andere Vermarktungsmöglichkeit.

Diesen Literaturverfilmungen haftete ein retrospektiver Blick auf die Kinderwelt an. Einen Film wie „Räuber Hotzenplotz” könnte man auch moderner gestalten.

Der Film ist bewusst nostalgisch. Ich habe mich gut amüsiert und finde, der kommt mit einem Augenzwinkern daher. Ich fand es ganz angenehm, dass es da keine Handys gibt und dass die nicht vorm Computer rumlümmeln. Das ist einfach der Stil von dieser Truppe, die haben ja auch „Das Sams” gemacht, und ihr Stil ist es, sehr genau mit dem Original zu arbeiten und sehr genau die Erwartungen zu bedienen. Mir macht es großes Vergnügen. Das ist eine Mordsgaudi, und der Film hat einen souveränen Platz bei uns im Programm. Ich glaube, der wird laufen wie Bolle. Der wird keinen Bonus haben, weil er ein deutscher Film ist. Die (Kinder) werden vor Begeisterung ausrasten, weil sie eine ganz intime und innige Beziehung zu dem Buch haben und weil sie das alles wieder erkennen. Ich persönlich finde (Armin) Rohde als Hotzenplotz (spielt) eine, wenn nicht gerade die Rolle seines Lebens. Richtig gut gemacht. Es ist ja nicht unser Job, hier Stilnoten zu vergeben. Wir haben in den letzten Jahren, seit ich hier bin, ein klares Bekenntnis zu Originalstoffen. Wir haben diesen deutschsprachigen, deutsch co-produzierten Film „Lapislazuli – Im Auge des Bären” von Wolfgang Murnberger, der eine Originalgeschichte erzählt, die ich sehr beachtlich finde. Das sehen wir mit großer Sympathie hier im Programm. Mir ist das beides recht, es muss nur gut gemacht sein.

Neben der Familie, wie Sie zu Beginn sagten, zieht sich in diesem Jahr das Thema Migration als roter Faden durch die Filme...

Es scheint ein großes Thema zu sein, es zieht sich bis in die Kurzfilmprogramme. Wir suchen uns diese Themen nicht abstrakt vorher raus. Wir suchen nur die besten Filme raus und stellen dann immer wieder relativ entgeistert fest, dass die einen thematischen Bogen haben. Nicht als reine Lehre. Letztes Jahr war das ganz klar Krieg und gewalttätige Veränderungen der Welt. Dieses Jahr ist es wie zwei Gänge zurückgeschaltet. Die Probleme, die Figuren, die Charaktere sind noch da, aber es wird eher in der Familie verhandelt oder in dem, was an Familie übrig ist: Restfamilie, Wahlfamilie, Herkunftsfamilie, Patchwork. Es sind alle erdenklichen Familienformen.

Wenn man das mit der thematischen Dramatik aus dem letzten Jahr vergleicht – ist alles durch die Rückkehr in die Familie idyllischer geworden?

Es ist nicht idyllischer, aber leichter auszuhalten. Es wird eher in einem Kontext verhandelt, in dem es auszuhalten ist. Wobei die Probleme alle noch da sind. Wir sind nur nicht mehr auf den Kriegsschauplätzen. Wir sind in der Familie, und der Krieg, die Ergebnisse von Migration wirken zurück auf die Familie. Ich habe schon das Gefühl, dass im letzten Jahr eine Klimax erreicht war, die nicht mehr zu toppen war. Wobei es nicht wir sind, die zurückgefahren haben, sondern es sind die Filme. Wir versuchen, diese ungeheure Menge zu sichten, wahrzunehmen und einfach zu gucken, was ist, Film für Film gesehen, vom Handwerklichen, vom Erzählerischen, von der Originalität her der beste Film. Suchen die dann aus, und plötzlich beginnt sich ein Programm zu formulieren. Wir gucken aufs Programm und erkennen dann eine innere Verbindung.

Wie entsteht die Ländergewichtung? Gibt es eine Quote?

Nein, das kann man nicht erzwingen. Es ergibt sich. Wir hätten zum Beispiel gerne einen afrikanischen Film gehabt. Wir haben das Thema in einem englischen und schwedischen Kurzfilm, die dort spielen. Aber wir denken nicht in Quoten. In diesem Jahr haben wir zwei deutsche und einen deutschsprachigen Film. Im letzten Jahr hatten wir gar keinen deutschen Film. Das macht keinen Spaß, dann mit Journalisten darüber zu sprechen, gerade wenn der Direktor des gesamten Festivals darauf großen Wert legt. Aber da haben wir uns auch nicht verbogen. Wir freuen uns, wenn sechs von 21 Filmen aus Asien kommen, und wir das Gefühl haben, da gibt es junge, dynamische Märkte und wir können das auf dem Kinderfilmfestival abbilden.

Neu ist eine Cross-Section zwischen 14plus und anderen Sektionen der Berlinale. Wie kam es dazu?

Es ist eine ganz pragmatisch geborene Idee. Da gibt es tolle Filme, die richtig sind, wo sie sind, aber trotzdem haben wir ein Publikum zu bieten. Und dann haben wir den Gedanken durchgespielt… Ich bin ungeheuer froh, dass wir diese Filme haben. Wir gehen immer an die Grenze der Herausforderung. Kinder hassen nichts mehr, als unterschätzt zu werden. Die mögen es wirklich, wenn man ihnen ordentlich einschenkt. Die spüren bei uns, dass wir ihnen mit diesem Programm etwas zutrauen. Wir haben viele Rückmeldungen über Fragebögen und dass ist für uns immer Ansporn zu sagen: Bloß nicht in diese beschützerische Ecke gehen; wir dürfen keine Filme aussuchen, die Kinder traumatisieren oder ihnen schlechte Gefühle machen. „Jestem” zum Beispiel, dieser polnische Film, in dem der kleine Bengel so hartes Brot hat. Das ist 85 Kilometer von hier. Das ist nicht irgendwo in der Sahel-Zone, das ist hier. Wir spüren, dass Kinder das durchaus zur Kenntnis nehmen. Vielleicht haben eher Eltern oder anders Beauftragte Angst vor unangenehmen Fragen.

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