Am Anfang war die Statistik auch in diesem Jahr die
allseits beliebte Frage: Wie viele Filme wurden gesichtet?
450; das schließt die ein, die Kollegin (Maryanne) Redpath und ich
auf unseren Reisen das Jahr über sehen; die Filme, die von unserem
Delegierten rangeschaufelt oder empfohlen werden, Filme, die wir bei
eigenständiger Recherche herausfinden und anfordern, sowie eingereichte
Filme. Insgesamt werden beim Kinderfilmfest und 14plus 21 Spiel- und 21 Kurzfilme
gezeigt.
Was zeichnet den Film aus, der das Kinderfilmfestival eröffnet?
Es muss ein Film sein, der auf seine Weise besonders ist und der eine
größere Altersspanne abdeckt. Wir können bei der Eröffnung
keinen Film zeigen, der erst ab 12 frei ist. Da wollen viel jüngere
ein. Beim Eröffnungsfilm ist uns ganz wichtig, dass er Generationen
übergreifend alle mitnimmt. Wir haben ja in diesem Jahr thematisch die
Rückbesinnung auf Familie, und ich finde, es (Opal Dream
von Regisseur Peter Cattaneo) ist ein emotional ungeheuer ergreifendes Statement
zum Thema Familie. Die Familie muss ganz schön ran, um das Seelenheil
der Kleinen zu retten. Es spiegelt sich in der Familie, was im Dorf los ist.
Ein kleiner, abgeschlossener Bereich. Es spielt in einer Welt, in der ich
persönlich noch nie war, von der ich so nicht wusste. Diese aufgebuddelte
Erde mit den Opalminen. Der Film entführt uns wohin. Es ist toll, mal
einen australischen Eröffnungsfilm zu haben. Wir haben klassisch eine
traditionelle Bindung an europäische Länder, an Skandinavien. Man
sieht, es gibt keinen Kriterienkatalog, den wir abarbeiten. Manchmal sieht
man Filme, bei denen man weiß: Den habe ich direkt auf meiner Shortlist,
der könnte eröffnen, weil er einen bestimmten Schwung mit sich
bringt.
Welche länderspezifischen Schwerpunkte gibt es?
Eigentlich besuchen wir die Welt. Ein starkes Viertel dieser 21 Filme kommt
aus asiatischen Ländern. Wenn man über statistische Trends reden
möchte, dann sieht man, dass in diesen Ländern das Thema Familie,
aber auch Kinderfilm und Family Entertainment mit einer sich entwickelnden
Filmindustrie an Relevanz gewinnt. Das ist Teil von einer Diversifizierung.
Es wird wichtig, die jüngere Zielgruppe mitzunehmen und mit eigenen
nationalen Produkten zu verkaufen. Eine gesunde Filmindustrie kümmert
sich nicht nur um eine Zielgruppe von 16 bis 39 Jahren, wie man das klassisch
und fälschlich immer gesehen hat. Wenn man bei den
Zuschauermillionären in den letzten fünf Jahren in Deutschland
schaut, sind in den Top Ten immer vier oder fünf Familienfilme mit dabei
gewesen. Man hat längst gemerkt, dass sie als Zielgruppe relevant sind.
Jetzt und hier, weil sie Umsätze generieren. Aber natürlich auch
wegen des großen Einbruchs im Kino im letzten Jahr. Die Industrie und
die Branche sind gut beraten, dieser Zielgruppe früh klar zu machen,
dass Kino eine Option ist, seine Freizeit zu verbringen.
Bei uns sind Verfilmungen von Kinderbüchern populär, weniger
Originalstoffe. Können Sie den Trend erklären?
Es liegt auf der Hand. Ein Stoff wie Der Räuber Hotzenplotz,
Kleiner Eisbär, Bibbi Blocksberg oder die
Kästner-Verfilmungen hat ein anderes Marketing. Es ist ungeheuer schwierig,
einen Stoff, der nicht bekannt ist, erfolgreich zu platzieren. Wenn man sich
an die Zuschauermillion herantasten will, spricht viel dafür, ein Buch
zu adaptieren, das schon bei der Mutter oder im besten Fall
auch bei der Großmutter im Bücherschrank stand. Dann hat man eine
andere Vermarktungsmöglichkeit.
Diesen Literaturverfilmungen haftete ein retrospektiver Blick auf die
Kinderwelt an. Einen Film wie Räuber Hotzenplotz könnte
man auch moderner gestalten.
Der Film ist bewusst nostalgisch. Ich habe mich gut amüsiert und finde,
der kommt mit einem Augenzwinkern daher. Ich fand es ganz angenehm, dass
es da keine Handys gibt und dass die nicht vorm Computer rumlümmeln.
Das ist einfach der Stil von dieser Truppe, die haben ja auch Das
Sams gemacht, und ihr Stil ist es, sehr genau mit dem Original zu arbeiten
und sehr genau die Erwartungen zu bedienen. Mir macht es großes
Vergnügen. Das ist eine Mordsgaudi, und der Film hat einen souveränen
Platz bei uns im Programm. Ich glaube, der wird laufen wie Bolle. Der wird
keinen Bonus haben, weil er ein deutscher Film ist. Die (Kinder) werden vor
Begeisterung ausrasten, weil sie eine ganz intime und innige Beziehung zu
dem Buch haben und weil sie das alles wieder erkennen. Ich persönlich
finde (Armin) Rohde als Hotzenplotz (spielt) eine, wenn nicht gerade die
Rolle seines Lebens. Richtig gut gemacht. Es ist ja nicht unser Job, hier
Stilnoten zu vergeben. Wir haben in den letzten Jahren, seit ich hier bin,
ein klares Bekenntnis zu Originalstoffen. Wir haben diesen deutschsprachigen,
deutsch co-produzierten Film Lapislazuli Im Auge des
Bären von Wolfgang Murnberger, der eine Originalgeschichte
erzählt, die ich sehr beachtlich finde. Das sehen wir mit großer
Sympathie hier im Programm. Mir ist das beides recht, es muss nur gut gemacht
sein.
Neben der Familie, wie Sie zu Beginn sagten, zieht sich in diesem Jahr
das Thema Migration als roter Faden durch die Filme...
Es scheint ein großes Thema zu sein, es zieht sich bis in die
Kurzfilmprogramme. Wir suchen uns diese Themen nicht abstrakt vorher raus.
Wir suchen nur die besten Filme raus und stellen dann immer wieder relativ
entgeistert fest, dass die einen thematischen Bogen haben. Nicht als reine
Lehre. Letztes Jahr war das ganz klar Krieg und gewalttätige
Veränderungen der Welt. Dieses Jahr ist es wie zwei Gänge
zurückgeschaltet. Die Probleme, die Figuren, die Charaktere sind noch
da, aber es wird eher in der Familie verhandelt oder in dem, was an Familie
übrig ist: Restfamilie, Wahlfamilie, Herkunftsfamilie, Patchwork. Es
sind alle erdenklichen Familienformen.
Wenn man das mit der thematischen Dramatik aus dem letzten Jahr vergleicht
ist alles durch die Rückkehr in die Familie idyllischer
geworden?
Es ist nicht idyllischer, aber leichter auszuhalten. Es wird eher in einem
Kontext verhandelt, in dem es auszuhalten ist. Wobei die Probleme alle noch
da sind. Wir sind nur nicht mehr auf den Kriegsschauplätzen. Wir sind
in der Familie, und der Krieg, die Ergebnisse von Migration wirken zurück
auf die Familie. Ich habe schon das Gefühl, dass im letzten Jahr eine
Klimax erreicht war, die nicht mehr zu toppen war. Wobei es nicht wir sind,
die zurückgefahren haben, sondern es sind die Filme. Wir versuchen,
diese ungeheure Menge zu sichten, wahrzunehmen und einfach zu gucken, was
ist, Film für Film gesehen, vom Handwerklichen, vom Erzählerischen,
von der Originalität her der beste Film. Suchen die dann aus, und
plötzlich beginnt sich ein Programm zu formulieren. Wir gucken aufs
Programm und erkennen dann eine innere Verbindung.
Wie entsteht die Ländergewichtung? Gibt es eine Quote?
Nein, das kann man nicht erzwingen. Es ergibt sich. Wir hätten zum Beispiel
gerne einen afrikanischen Film gehabt. Wir haben das Thema in einem englischen
und schwedischen Kurzfilm, die dort spielen. Aber wir denken nicht in Quoten.
In diesem Jahr haben wir zwei deutsche und einen deutschsprachigen Film.
Im letzten Jahr hatten wir gar keinen deutschen Film. Das macht keinen
Spaß, dann mit Journalisten darüber zu sprechen, gerade wenn der
Direktor des gesamten Festivals darauf großen Wert legt. Aber da haben
wir uns auch nicht verbogen. Wir freuen uns, wenn sechs von 21 Filmen aus
Asien kommen, und wir das Gefühl haben, da gibt es junge, dynamische
Märkte und wir können das auf dem Kinderfilmfestival abbilden.
Neu ist eine Cross-Section zwischen 14plus und anderen Sektionen der
Berlinale. Wie kam es dazu?
Es ist eine ganz pragmatisch geborene Idee. Da gibt es tolle Filme, die richtig
sind, wo sie sind, aber trotzdem haben wir ein Publikum zu bieten. Und dann
haben wir den Gedanken durchgespielt
Ich bin ungeheuer froh, dass wir
diese Filme haben. Wir gehen immer an die Grenze der Herausforderung. Kinder
hassen nichts mehr, als unterschätzt zu werden. Die mögen es wirklich,
wenn man ihnen ordentlich einschenkt. Die spüren bei uns, dass wir ihnen
mit diesem Programm etwas zutrauen. Wir haben viele Rückmeldungen über
Fragebögen und dass ist für uns immer Ansporn zu sagen: Bloß
nicht in diese beschützerische Ecke gehen; wir dürfen keine Filme
aussuchen, die Kinder traumatisieren oder ihnen schlechte Gefühle machen.
Jestem zum Beispiel, dieser polnische Film, in dem der kleine
Bengel so hartes Brot hat. Das ist 85 Kilometer von hier. Das ist nicht irgendwo
in der Sahel-Zone, das ist hier. Wir spüren, dass Kinder das durchaus
zur Kenntnis nehmen. Vielleicht haben eher Eltern oder anders Beauftragte
Angst vor unangenehmen Fragen.
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