Sechs deutsche Filme hätte er in diesem Jahr im Wettbewerb
zeigen können, hat Berlinale-Leiter Dieter Kosslick im Vorfeld
verkündet. Immerhin vier sinds geworden, in recht bunter Mischung.
Außen vor blieb dabei der neue Film von Dominik Graf, der sich für
sein DDR-Generationenporträt Der rote Kakadu mit einem Platz
im Panorama begnügen muss. Detlev Buck ergeht's nicht besser, er legt
mit Knallhart nach sechs Jahren erstmals wieder einen Film vor.
Erstaunlicher ist es, dass Ulrich Köhler seinen zweiten Film "Montag
kommen die Fenster" nur im Forum vorstellen darf. Seine Geschichte einer
Entfremdung ist ein würdiger Nachfolger des allseits und zu Recht gefeierten
"Bungalow"; besser noch als im Erstling gelingt es Köhler, Genauigkeit
der Form mit bizarrer Komik zu verbinden. Der gespenstische Auftritt des
Tennis-Altstars Ilie Nastase in einem geschenkverpackten Hotel gehört
zu den großen Momenten des deutschen Kinos der letzten Jahre. Gleichfalls
im Forum läuft Henner Wincklers konzentrierte und präzise
Jungfamilien-Studie Lucy. Im Panorama gibt es Andres Veiels
Filmversion seiner Theaterinszenierung Der Kick, dazu Jan-Henrik
Stahlbergs (Muxmäuschenstill) Pamphlet Bye bye
Berlusconi. Der allerbeste Ruf eilt Thomas Arslans Dokumentation einer
Reise durch die Türkei mit dem Titel "Aus der Ferne" (Forum) voraus.
Der in den Wettbewerbsvorstellungen versammelten Weltpresse will Kosslick
aber lieber Oskar Röhlers neuesten Entwurf verquälter
Selbstzerstörungstransgressionen zumuten. Mit Michel Houellebecqs Roman
Elementarteilchen dürfte Röhler eine kongeniale Vorlage
gefunden haben. Gecastet ist mehr oder weniger das Who is Who der deutschen
SchauspielerInnengilde. In einem weiteren Wettbewerbsbeitrag besinnt sich
Hans-Ulrich Schmid nach dem allzu thesenhaften und klischeebeladenen
Lichter in seiner auf wahren Begebenheiten beruhenden
Exorzismus-Geschichte Requiem auf seine große Stärke,
die unaufdringliche Darstellung bundesdeutscher Vergangenheiten. Zu hoffen
ist, dass Valeska Griesebach das Versprechen, das ihr Erstling Mein
Stern gewesen ist, mit Sehnsucht einlösen kann, einer
ausschließlich mit Laien besetzten Liebesgeschichte aus dem Osten
Deutschlands, deren Produktion, wie zu hören ist, allen Beteiligten
einiges abverlangt hat. Mit wieviel Subtilität der bisher als penetranter
style-over-substance-Regisseur aufgefallene Matthias Glasner in "Der freie
Wille" einen Vergewaltiger porträtiert, bleibt abzuwarten.
So viel zum deutschen Film. Es gibt Interessanteres. So laufen zwei Werke
aus dem Iran im Wettbewerb, wahrscheinlich eher aus den falschen, nämlich
immer in Richtung Tagespolitik schielenden Gründen. Egal, denn Jafar
Panahi, der einst als Assistent Abbas Kiarostamis begann, hat sich längst
als Regisseur von eigener Statur profiliert. In dem recht kurzfristig noch
eingeladenen Offside geht es um Frauen, die trotz des
grundsätzlichen Stadionverbots ein Fußballspiel sehen wollen.
Von der desolaten Lage unterer Gesellschaftsschichten erzählen Rafi
Pitts in seiner Arbeitslosengeschichte Its Winter und Nasser
Refaie in seinem Forums-Beitrag Another Morning, der selten gesehene
Alltagsimpressionen vom Rand der von Gegensätzen zerrissenen Gesellschaft
zu bieten hat. Einblick in ganz andere Schichten gibt Mani Haghigi (auch
er ein ehemaliger Kiarostami-Assistent) mit Men at Work, einer
Satire, die in der besseren Teheraner Gesellschaft und unter Männern
- spielt.
Den Filmen aus den USA ist fast durchweg das
Roter-Teppich-Kalkül anzusehen, aber für das jüngste
Werk des großen Robert Altman mit dem Titel A Prairie Home
Companion sprechen, so ist zu hoffen, auch andere Gründe als die
Starbesetzung mit Meryl Streep, Lily Tomlin, Woody Harrelson, Kevin Kline
etc. Dem Wettbewerb, aber nicht der Konkurrenz um die Bären stellen
sich der Politthriller Syriana mit George Clooney, die nach ersten
Testvorführungen hoch gehandelte Alan-Moore-Verfilmung V wie
Vendetta und das Oscar-nominierte Biopic Capote. Gespannt
sein darf man auf Terrence Malicks teils hymnisch gefeierte Amerika-Meditation
The New World, die der Regisseur nach einem ersten US-Start noch
einmal umgeschnitten und um 17 Minuten gekürzt hat.
Recht überraschend kam Ende Januar auch die Meldung von der Einladung
eines neuen Films des Routiniers Sidney Lumet, der seine besten Zeilen freilich
schon eine ganze Weile hinter sich hat. Mit Finding Guilty" (Hauptrolle:
Vin Diesel) hat er sich nach den Meisterwerken "Die zwölf Geschworenen"
und "The Verdict" ein weiteres Mal ans Gerichtsfilm-Genre gewagt. Noch vor
dem deutschen Start seiner von der Kritik andernorts begeistert aufgenommenen
Tristram-Shandy-Verfilmung "A Cock and Bull Story" zeigt der unermüdliche
Michael Winterbottom schon seinen nächsten Film. Mit "The Road to
Guantanamo" wendet sich der Brite, wie schon bei seinem
Goldenen-Bären-Gewinner "Into this World", wieder der Tagespolitik zu.
Ein herausragender Beitrag im Programm des "Forums des Internationalen Films"
ist Amir Muhammads "The Last Communist". Der junge Regisseur aus Malaysia
wird nach einigen Kurzfilmen bereits als kommende Größe des Weltkinos
gehandelt. Sein Versuch, die Geschichte Malaysias der letzten achtzig Jahre
am Leitfaden der Biografie eines kommunistischen Widerstandskämpfers
zu erzählen, fasziniert durch eine atemberaubende Mischung aus
dokumentarischer Genauigkeit, dem Willen zur Abschweifung und Auslassung
und campigen, aber sehr komischen Musical-Clip-Intermezzi. Nach dem starken
Auftritt im letzten Jahr ist das chinesische Kino diesmal nicht so prominent
vertreten aber Zhang Mings langsame und enigmatische Strandhotel-Elegie
"Before Born" (auch im Forum) hat ihren Reiz.
Etwas unterrepräsentiert scheint auch das französische Kino. Im
Wettbewerb ist Claude Chabrols neuer Politthriller "Staatsaffairen" zu sehen,
mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Außer Konkurrenz läuft
Michel Gondrys ("Vergissmeinnicht") "The Science of Sleep", dessen Held sich
in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit verliert. Im Panorama findet
sich ein weiterer Film Gondrys, die Dokumentation "Dave Chappelle's Block
Party". Wettbewerbswürdig wäre auch Brice Cauvins im Forum laufende
Terrorismus-Tragikomödie "De particulier à particulier" gewesen,
die Öffentliches und Privates aufs Seltsamste ineinander blendet. Der
Film überzeugt durch den konsequenten Verzicht auf Erklärungen
und glänzt mit kurzen Auftritten der großen Anouk Aimee. Gespannt
sein darf man auf Neues von alten Berlinale-Bekannten wie Chantal Akerman,
James Benning und Barbara und Winfried Junge mit dem letzten, mehr als vier
Stunden umfassenden Film ihrer "Kinder von Golzow"-Dokumentation.
Das Panorama ist neben seinen Dokumentar- und Queerfilmschwerpunkten immer
auch ein Sammelbecken für Spielfilme, die es manchmal aus
Quotengründen, manchmal weil sie die Kriterien verfehlen nicht
in den Wettbewerb geschafft haben oder andererseits jenen Willen zur
Radikalität vermissen lassen, der wiederum fürs Forum qualifiziert.
Das Programm vereint also alles Mögliche an Pechvögeln, an
Halbgelungenem, Unentschiedenem und Überflüssigem wie
künstlerisch nicht weiter interessanter Arthouse-Ware. Erstaunlicherweise
gibt es ab und an auch ein Meisterwerk. Gespannt sein darf man in diesem
Jahr vielleicht auf Marc Forsters (Monsters Ball) neuen
Film Stay, Neil Jordans Patrick McCabe-Verfilmung Breakfast
on Pluto mit dem von manchen als Offenbarung gefeierten Hauptdarsteller
Cillian Murphy als transvestitischem Cabaret-Sänger. Anlass zur Hoffnung
auf Außergewöhnliches bieten nach Maßgabe ihres bisherigen
Werks auch Daniel Burmans Family Law und Royston Tans
4:30.
Bleibt der ganze Rest, der gewiss Unerwartetes und Aufregendes zu bieten
hat, wenn auch ebenso gewiss nicht durchweg. Wir hoffen auf Verrücktes
und Schönes, Rätselhaftes und Umwerfendes, auf Understatement und
Maßlosigkeit. Verschonen möge man uns mit dem Öden und
Vorhersehbaren, dem Prätentiösen und der politischen Botschaft
in simpler Machart. Es wird, das sagt die Erfahrung, nicht jeder dieser
Wünsche in Erfüllung gehen (und der letztgenannte dank Kosslick
leider zuletzt), aber eines ist sicher: Wir halten Sie auf dem Laufenden
über die Nieten und die Perlen des Berlinale-Jahrgangs 2006.
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