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Berlinale 2006

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Die Nieten und die Perlen. Berlinale-Vorschau zu Wettbewerb, Panorama und Forum

Von Ekkehard Knörer

Sechs deutsche Filme hätte er in diesem Jahr im Wettbewerb zeigen können, hat Berlinale-Leiter Dieter Kosslick im Vorfeld verkündet. Immerhin vier sind’s geworden, in recht bunter Mischung. Außen vor blieb dabei der neue Film von Dominik Graf, der sich für sein DDR-Generationenporträt „Der rote Kakadu“ mit einem Platz im Panorama begnügen muss. Detlev Buck ergeht's nicht besser, er legt mit „Knallhart“ nach sechs Jahren erstmals wieder einen Film vor. Erstaunlicher ist es, dass Ulrich Köhler seinen zweiten Film "Montag kommen die Fenster" nur im Forum vorstellen darf. Seine Geschichte einer Entfremdung ist ein würdiger Nachfolger des allseits und zu Recht gefeierten "Bungalow"; besser noch als im Erstling gelingt es Köhler, Genauigkeit der Form mit bizarrer Komik zu verbinden. Der gespenstische Auftritt des Tennis-Altstars Ilie Nastase in einem geschenkverpackten Hotel gehört zu den großen Momenten des deutschen Kinos der letzten Jahre. Gleichfalls im Forum läuft Henner Wincklers konzentrierte und präzise Jungfamilien-Studie „Lucy“. Im Panorama gibt es Andres Veiels Filmversion seiner Theaterinszenierung „Der Kick“, dazu Jan-Henrik Stahlbergs („Muxmäuschenstill“) Pamphlet „Bye bye Berlusconi“. Der allerbeste Ruf eilt Thomas Arslans Dokumentation einer Reise durch die Türkei mit dem Titel "Aus der Ferne" (Forum) voraus.

Der in den Wettbewerbsvorstellungen versammelten Weltpresse will Kosslick aber lieber Oskar Röhlers neuesten Entwurf verquälter Selbstzerstörungstransgressionen zumuten. Mit Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ dürfte Röhler eine kongeniale Vorlage gefunden haben. Gecastet ist mehr oder weniger das Who is Who der deutschen SchauspielerInnengilde. In einem weiteren Wettbewerbsbeitrag besinnt sich Hans-Ulrich Schmid nach dem allzu thesenhaften und klischeebeladenen „Lichter“ in seiner auf wahren Begebenheiten beruhenden Exorzismus-Geschichte „Requiem“ auf seine große Stärke, die unaufdringliche Darstellung bundesdeutscher Vergangenheiten. Zu hoffen ist, dass Valeska Griesebach das Versprechen, das ihr Erstling „Mein Stern“ gewesen ist, mit „Sehnsucht“ einlösen kann, einer ausschließlich mit Laien besetzten Liebesgeschichte aus dem Osten Deutschlands, deren Produktion, wie zu hören ist, allen Beteiligten einiges abverlangt hat. Mit wieviel Subtilität der bisher als penetranter style-over-substance-Regisseur aufgefallene Matthias Glasner in "Der freie Wille" einen Vergewaltiger porträtiert, bleibt abzuwarten.

So viel zum deutschen Film. Es gibt Interessanteres. So laufen zwei Werke aus dem Iran im Wettbewerb, wahrscheinlich eher aus den falschen, nämlich immer in Richtung Tagespolitik schielenden Gründen. Egal, denn Jafar Panahi, der einst als Assistent Abbas Kiarostamis begann, hat sich längst als Regisseur von eigener Statur profiliert. In dem recht kurzfristig noch eingeladenen „Offside“ geht es um Frauen, die trotz des grundsätzlichen Stadionverbots ein Fußballspiel sehen wollen. Von der desolaten Lage unterer Gesellschaftsschichten erzählen Rafi Pitts in seiner Arbeitslosengeschichte „It’s Winter“ und Nasser Refaie in seinem Forums-Beitrag „Another Morning“, der selten gesehene Alltagsimpressionen vom Rand der von Gegensätzen zerrissenen Gesellschaft zu bieten hat. Einblick in ganz andere Schichten gibt Mani Haghigi (auch er ein ehemaliger Kiarostami-Assistent) mit „Men at Work“, einer Satire, die in der besseren Teheraner Gesellschaft – und unter Männern - spielt.

Den Filmen aus den USA ist fast durchweg das „Roter-Teppich“-Kalkül anzusehen, aber für das jüngste Werk des großen Robert Altman mit dem Titel „A Prairie Home Companion“ sprechen, so ist zu hoffen, auch andere Gründe als die Starbesetzung mit Meryl Streep, Lily Tomlin, Woody Harrelson, Kevin Kline etc. Dem Wettbewerb, aber nicht der Konkurrenz um die Bären stellen sich der Politthriller „Syriana“ mit George Clooney, die nach ersten Testvorführungen hoch gehandelte Alan-Moore-Verfilmung „V wie Vendetta“ und das Oscar-nominierte Biopic „Capote“. Gespannt sein darf man auf Terrence Malicks teils hymnisch gefeierte Amerika-Meditation „The New World“, die der Regisseur nach einem ersten US-Start noch einmal umgeschnitten und um 17 Minuten gekürzt hat.

Recht überraschend kam Ende Januar auch die Meldung von der Einladung eines neuen Films des Routiniers Sidney Lumet, der seine besten Zeilen freilich schon eine ganze Weile hinter sich hat. Mit „Finding Guilty" (Hauptrolle: Vin Diesel) hat er sich nach den Meisterwerken "Die zwölf Geschworenen" und "The Verdict" ein weiteres Mal ans Gerichtsfilm-Genre gewagt. Noch vor dem deutschen Start seiner von der Kritik andernorts begeistert aufgenommenen Tristram-Shandy-Verfilmung "A Cock and Bull Story" zeigt der unermüdliche Michael Winterbottom schon seinen nächsten Film. Mit "The Road to Guantanamo" wendet sich der Brite, wie schon bei seinem Goldenen-Bären-Gewinner "Into this World", wieder der Tagespolitik zu.

Ein herausragender Beitrag im Programm des "Forums des Internationalen Films" ist Amir Muhammads "The Last Communist". Der junge Regisseur aus Malaysia wird nach einigen Kurzfilmen bereits als kommende Größe des Weltkinos gehandelt. Sein Versuch, die Geschichte Malaysias der letzten achtzig Jahre am Leitfaden der Biografie eines kommunistischen Widerstandskämpfers zu erzählen, fasziniert durch eine atemberaubende Mischung aus dokumentarischer Genauigkeit, dem Willen zur Abschweifung und Auslassung und campigen, aber sehr komischen Musical-Clip-Intermezzi. Nach dem starken Auftritt im letzten Jahr ist das chinesische Kino diesmal nicht so prominent vertreten – aber Zhang Mings langsame und enigmatische Strandhotel-Elegie "Before Born" (auch im Forum) hat ihren Reiz.

Etwas unterrepräsentiert scheint auch das französische Kino. Im Wettbewerb ist Claude Chabrols neuer Politthriller "Staatsaffairen" zu sehen, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Außer Konkurrenz läuft Michel Gondrys ("Vergissmeinnicht") "The Science of Sleep", dessen Held sich in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit verliert. Im Panorama findet sich ein weiterer Film Gondrys, die Dokumentation "Dave Chappelle's Block Party". Wettbewerbswürdig wäre auch Brice Cauvins im Forum laufende Terrorismus-Tragikomödie "De particulier à particulier" gewesen, die Öffentliches und Privates aufs Seltsamste ineinander blendet. Der Film überzeugt durch den konsequenten Verzicht auf Erklärungen und glänzt mit kurzen Auftritten der großen Anouk Aimee. Gespannt sein darf man auf Neues von alten Berlinale-Bekannten wie Chantal Akerman, James Benning und Barbara und Winfried Junge mit dem letzten, mehr als vier Stunden umfassenden Film ihrer "Kinder von Golzow"-Dokumentation.

Das Panorama ist neben seinen Dokumentar- und Queerfilmschwerpunkten immer auch ein Sammelbecken für Spielfilme, die es – manchmal aus Quotengründen, manchmal weil sie die Kriterien verfehlen – nicht in den Wettbewerb geschafft haben oder andererseits jenen Willen zur Radikalität vermissen lassen, der wiederum fürs Forum qualifiziert. Das Programm vereint also alles Mögliche an Pechvögeln, an Halbgelungenem, Unentschiedenem und Überflüssigem wie künstlerisch nicht weiter interessanter Arthouse-Ware. Erstaunlicherweise gibt es ab und an auch ein Meisterwerk. Gespannt sein darf man in diesem Jahr vielleicht auf Marc Forsters („Monster’s Ball“) neuen Film „Stay“, Neil Jordans Patrick McCabe-Verfilmung „Breakfast on Pluto“ mit dem von manchen als Offenbarung gefeierten Hauptdarsteller Cillian Murphy als transvestitischem Cabaret-Sänger. Anlass zur Hoffnung auf Außergewöhnliches bieten nach Maßgabe ihres bisherigen Werks auch Daniel Burmans „Family Law“ und Royston Tans „4:30“.

Bleibt der ganze Rest, der gewiss Unerwartetes und Aufregendes zu bieten hat, wenn auch ebenso gewiss nicht durchweg. Wir hoffen auf Verrücktes und Schönes, Rätselhaftes und Umwerfendes, auf Understatement und Maßlosigkeit. Verschonen möge man uns mit dem Öden und Vorhersehbaren, dem Prätentiösen und der politischen Botschaft in simpler Machart. Es wird, das sagt die Erfahrung, nicht jeder dieser Wünsche in Erfüllung gehen (und der letztgenannte dank Kosslick leider zuletzt), aber eines ist sicher: Wir halten Sie auf dem Laufenden über die Nieten und die Perlen des Berlinale-Jahrgangs 2006.

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