Auf dem 11. Filmfestival in Münster, das vom 19. bis
23. Oktober stattfand, wurden am Wochenende die Preise verliehen. Im
europäischen Spielfilmwettbewerb gewann der Beitrag Geh, lebe
und werde des in Bukarest geborenen, in Frankreich lebenden Regisseurs
Radu Mihaileanu. Im Münsteraner Klassiker, dem Kurzfilm-Wettbewerb,
wurden Jan Thüring (Das Floß), Bettina Blümner
und Rouven Rech (La vida dulce) sowie Thomas Wendrich (Zur
Zeit verstorben) ausgezeichnet. Der Gewinner des Publikumspreises für
den besten Kurzfilm in diesem Jahr ist ein alter Bekannter: Stephan Flint
Müller (Fliegenpflicht für Quadratköpfe) ging
bereits 2003 mit dem Preis für den besten Kurzfilm nach Hause.
Münster rockt(e)! Nur ein Paar Schritte vom Kino Stadt New York entfernt,
das fünf Tage lang mit vier Sälen und einer Lounge im kuscheligen
Boudoir-Stil Zentrum des Festivals war, erinnert eine Ausstellung im Stadtmuseum
an den Auftritt der Rolling Stones. Zum Auftakt ihrer Deutschlandtournee
am 11. September 1965 kam die härteste Band der Welt in
die Domstadt. Ihre Posen auf der Bühne sind auf großformatigen
Fotos festgehalten.
Mit einer Imitation dieses zeitlosen Rock n Roll-Habitus rebellieren
die jugendlichen Helden in dem Eröffnungsfilm des Festivals gegen die
familiären und sozialen Zustände in ihrem Heimatdorf in den 60er
Jahren. Populärmusik aus Vittula, von dem im Iran geborenen
und heute in Schweden lebenden Regisseur Reza Bagher, erzählt mit schwarzem
Humor von den Jungen Matti und Niila, die eine Band gründen. Die Freunde
schwören sich, eines Tages aus ihrem provinziellen Alltag in der abgelegenen
Grenzregion zwischen Schweden und Finnland aus- und in eine bessere Zukunft
aufzubrechen.
Eine hoffnungsvolle Perspektive, die sie mit fast allen minderjährigen
Protagonisten der acht Filme (der in poetischen Bildern gedrehte spanische
Beitrag El Cielito lief außer Konkurrenz) im erstmals
ausgerichteten und mit einem Preisgeld in Höhe von 10 000 Euro dotierten
europäischen Wettbewerb teilen. Eine geografische Veränderung oder
die Konzentration auf den kreativen Ausdruck (etwa im Tanz oder durch Literatur)
birgt die Chance auf eine autonome Identität und die Verbesserung der
desolaten Verhältnisse, unter denen die Kinder und Jugendlichen der
sorgfältig zusammengestellten Beiträge der Spielfilmreihe
Growing up oftmals leben. Der Weg zum Happy End aber, wenn es
mal eines gibt, ist in allen Filmen hart erkämpft.
Das Mädchen in dem niederländischen Beitrag Bluebird,
der eine lobende Erwähnung der Jury erhielt, ist zum Beispiel mit dem
Erwachsenwerden überfordert. Die 12-Jährige Merel übernimmt
die Verantwortung für ihren kleinen körperbehinderten Bruder, wird
von Mitschülern gemobbt und verschweigt ihre Probleme den Eltern. Nur
mit einem Fremden, den sie hin und wieder zufällig trifft, spricht sie
über ihr Interesse an Literatur und das Leben. Er bestätigt sie
ohne Hintergedanken, nennt sie liebevoll Bluebird, nach einem
Beatles-Song. Doch federleichte Gesprächsmomente (Du liest Anna
Karenina? Wie geht es ihr? Lebt sie noch?) sind rar im Alltag des
Mädchens, dass zu schnell erwachsen werden muss. Keiner wird mich
besiegen, lautlos singt Merel im Publikum diese Zeile aus der Oper
Turandot mit. Ihr happy ending, das ihr die in Rotterdam lebende Regisseurin
Mijke de Jong zum Abschied zum Geschenk macht, wirkt künstlich aufgesetzt.
In epischer Breite führt ein weiterer Wettbewerbsbeitrag einen Jungen
aus einem Flüchtlingslager ins gelobte Land. Der Film Geh, lebe
und werde von Radu Mihailenanu, der den Preis für die beste Regie
erhielt, schildert die Geschichte eines Neunjährigen, der von seiner
Mutter nach Israel geschickt wird. Er soll sich als Jude ausgeben, gelangt
mit anderen äthiopischen Juden im Zuge der Operation Moses in den
80er-Jahren nach Tel-Aviv und wird dort von einer Familie adoptiert. Der
zu Herzen gehende Film verbindet geschickt Zeitgeschichte mit einer fiktiven
Individualbiografie. Mittels charismatischer Darsteller und einer opulenten
Visualisierung, die im erdfarben kolorierten Flüchtlingslager beginnt
und endet, gelingt ihm der Spagat zwischen aufrichtigem Erzähl- und
auf die Tränendrüsen drückenden Mainstreamkino.
Zum ersten Mal gab es in diesem Jahr auf dem Festival in Münster ein
Symposium, das die inhaltliche Ausrichtung des Spielfilmwettbewerbs vertiefen
sollte. Thema war die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vor der Kamera.
Die Veranstaltung unter dem Titel Auf ewig Kinderstar? mit
Pippi-Langstrumpf-Darstellerin und Jury-Mitglied Inger Nilsson war besonders
gut besucht. Die 46-jährige Schwedin, die in Stockholm lebt und dort
am Theater arbeitet, hat sich längst von ihrer berühmten Rolle
emanzipiert. Allein ihre Fans halten an dem Bild von der rotbezopften,
anarchischen Göre mit Sommersprossen fest. Man sollte nie etwas
bereuen. Das ist mein Lebensmotto. Daher würde ich diese Rolle wieder
spielen. Aber es ist verrückt, wenn Leute meinen, Pippi Langstrumpf
wäre das Größte in meinem Leben gewesen.
Populärmusik aus Vittula; Filmstart: 19. Januar 2006
Geh, lebe und werde; Filmstart: 6. April 2006
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