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Ilya Khrzhanovsky: 4 (Russland 2005)

Von Ekkehard Knörer 

"4" ist ein Film, der einen zwingt, sich nach seiner Ordnung zu fragen, nach seiner Struktur, nach einem Prinzip. Der Anschein, den der Titel gibt, trügt: Zwar bekommt man bald einen Schlüssel in die Hand, in einer schummrigen Kneipe nachts, im Gespräch der drei Personen (+1), mit denen wir es weiterhin zu tun haben werden (aber anders als wir denken), aber was sollen wir tun, in schummriger Nacht im postsozialistischen Russland, den Schlüssel in der Hand, auf leeren Straßen mit kläffenden Hunden?

Er schließt nämlich nichts auf. Tür für Tür öffnet sich, ohne Zutun des Schlüssels. Der Schlüssel, der nichts öffnet, der blanke, suggestive Zahl bleibt, "vier", immer wieder "vier", ist also vielleicht ein Schlüssel, aber nicht zu diesem Film, der seinen grandiosen Anfang aus dem Nichts nimmt, um im Weiteren Bewegungen zu vollziehen, denen es an simpler Logik gebricht. Der Mann, der Klaviere stimmt, gibt sich aus als Genetiker und erzählt von Experimenten mit dem Klonen und davon, dass die Vervierfachung stabilere Resultate produziert als die Verdopplung. Da ist der Schlüssel: "vier".

"Vier" wie vier Schwestern. Eine davon macht sich auf nach der Nacht in der Bar in den Märchenwald, den wir auch "Zone" nennen könnten. Jemand, haben wir erfahren, ist gestorben. Es ist ihre vierte Schwester, aber die Umstände und die Menschen, unter denen sie gelebt hat, spotten jeder Beschreibung. Man muss es sehen, um es zu glauben, auch um zu glauben, dass der Anschein des Beginns, das Gespräch in der Bar, keine Ahnung vermittelt von dem, was kommt. Puppen mit Schwänzen - und Masken aus Kaubrot.

Nach recht radikal Entscheidendes abschneidenden Halbnahen in der Bar wechselt der Film das Tempo, den Stil, auch die Gangart. Die Kamera ist jetzt ganz oft ganz dicht dran und bewegt. Umsprung vom asiatischen in den dänischen Stil. Von alten, zahnlosen Weibern wird mit viel Spucke das Enigmatische mit dem Psychosozialen zu meinethalben allegorischem Postsozialismus gespeichelt. Aber das Entscheidende bleibt dabei, mit der hektischen Kamera beim Kauen zuzusehen und im Kauen selbst, nicht im Allegorischen, liegt das Herz, liegt vielleicht gar der Schlüssel des Films.

Abseits der "vier", nur die Brote, das Kauen, die hartgebackenen Masken und natürlich die Hunde, die durch diese Geschichte streunen. Die Hunde, die aus dem Plot gerade jene entscheidenden Momente herausgefressen zu haben scheinen, an denen er zusammenhielte, Momente, an denen die Struktur des Ganzen erhellte, ein Prinzip, eine Logik, die plausibel machte, was geschieht. So aber haben die Hunde alles gefressen und was bleibt, ist der Ekel, ist die Faszination dieses Ekels. Und was auch bleibt, oder sich einstellt, ist ein nicht abweisbares Gefühl von Eigensinn, mit dem dieser Film weiß, was er tut, ohne Prinzip, Ordnung, Struktur, so dass man sich durchs gewundene Innere seiner Bilder bewegt wie durch die Zahnlandschaft eines übergroßen, riesigen Schlüssels. Wenn das ein Schlüssel ist, was nichts aufschließt, auch nicht sich selbst.

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