Es sind die Geschichten aus dem Leben mit all ihrer Tragik,
ihren komischen Momenten und ihren authentischen Figuren, die den italiensichen
Neorealismus der 1940er und 1950er Jahre ausgezeichnet haben. In bis heute
eindringlichen Werken wie de Sicas Ladri di Biciclette (1948)
oder Germania Anno Zero (1948) von Roberto Rossellini sind es
vor allem immer wieder die Kinderschicksale, die die zeitgeschichtliche
Wirklichkeit repräsentieren. Genau in dieser Tradition steht auch Andrea
und Antonio Frazzis Certi Bambini. Mit auf der Straße
gecasteten Laien-Kinderdarstellern.
Im Zentrum des Films steht ein Einzelschicksal: Rosario (Gianluca Di Gennaro)
lebt zusammen mit seiner Grußmutter, die er pflegt, in einem Vorort
Neapels. Der 11-jährige geht nicht zur Schule, trifft sich häufig
mit seinen Freunden, begeht kleine Diebstähle, besucht Prostituierte,
trinkt Alkohol. Als der Junge die 20-jährige Caterina (Miriam Candurro)
kennen lernt, verliebt er sich auf der Stelle. Die junge Frau lebt in einem
kirchlichen Wohnheim, ist von ihrem Freund schwanger und hadert mit ihrem
Leben. Die abwechselnd zärtlichen und frechen Annäherungsversuche
des kleinen Rosario nimmt sie gar nicht wahr. Doch der setzt alle Hebel in
Bewegung, zuerst ihren Freund aus dem Weg zu schaffen und sich
bei Caterina beliebt zu machen. Als das Mädchen bei einer Fehlgeburt
im Krankenhaus stirbt, schwört Rosario Rache und gerät vollends
auf die schiefe Bahn.
Certi Bambini zeichnet aus, dass er keinerlei moralische Stellung
zu seinen Protagonisten einnimmt. Die Alltäglichkeit, mit der etwa
Kinderprostitution, Mord und Missbrauch inszeniert wird, ist erscheckend,
frappiert den Zuschauer jedoch nicht. Grund dafür ist, dass die Figuren
des Films stets (realistisch) ambivalent bleiben. Zusätzliche Distanz
gewinnt der Betrachter dadurch, dass die Brüder Frazzi ihre Geschichte
in episodenhaften Rückblenden erzählen: Während Rosario mit
der U-Bahn an den Ort seines (künftigen) Verbrechens fährt, kommen
ihm all jene Erlebnisse ins Gedächtnis angenehme wie
erschütternde die ihn dahin gebracht haben, wo er jetzt ist.
Die Wiederbelebung neorealistischer Erzählweisen ist hier nicht nur
erfreulich, sondern auch zweckmäßig. Der Wechsel von Leichtigkeit
und Dramatik steht ganz im Dienst der Charakterierung der Lebensumstände
der Hauptfigur, die keine Perspektive hat, sich aber darüber aber auch
nicht sorgt: Er kann Verbrechen begehen oder gute Taten vollbringen;
er kann Menschen töten oder ihnen helfen; er kann sich kriminell bereichern
oder alles weggeben, was er besitzt und alles mit demselben
Desinteresse, charakterisieren die Regisseure ihre Hauptfigur. Mit
dieser Indifferenz Rosarios, die sich in der Darstellung der Stadt und ihrer
Menschen verdoppelt, gelingt ihnen einer der hervorragendsten und
ambitioniertesten Beiträge des italienischen Kinos dieser Tage.
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