Das Dogma-Gespann Thomas Vinterberg (Regie) und Lars von
Trier (Drehbuch) meldet sich mit einem fulminanten Film zurück: "Dear
Wendy" startet heute im Kino.
Wenn eine Geschichte über eine Gruppe junger Pazifisten mit einer Vorliebe
für Handfeuerwaffen im Kugelhagel endet, muss etwas aus dem Ruder gelaufen
sein. Dick ist ein Bücherwurm, ein Außenseiter im Bergarbeiternest
mit Namen Estherslope im Westen der USA. Der Junge soll, wie sein Vater
früher, unter Tage arbeiten, zieht es aber stattdessen vor, im
örtlichen Gemischtwarenladen Regale aus- und einzuräumen. Eines
Tages entdeckt Dick im Schaufenster eines Geschäfts eine Handfeuerwaffe,
die er fortan unter dem hellbraunen Ladenkittel trägt. Wendy, so tauft
er den zierlichen Revolver mit Perlmuttgriff, verleiht ihm Selbstvertrauen
und verändert sein Leben.
Dick gewinnt Freunde. Er schart eine Bande um sich, seine private Posse:
vier heimatlose Typen und ein cleveres Mädchen, die er mit der Passion
für Schießeisen ansteckt. In ihrem selbst geschaffenen Refugium
im unterirdischen Teil des halb verfallenen Zechengeländes machen die
sechs Mitglieder des neuen Dandy-Clubs Schießübungen. Bei Kerzenlicht
vermählen sie sich mit ihren Waffen. Sie kreieren ihren eigenen
unverwechselbaren Look: exaltierte Phantasiekostüme, inspiriert von
Piraten und Cowboys, mit davon abweichenden Accessoires wie pelzbesetzten
Russenmützen. Sie unterrichten sich gegenseitig in der exakten Wissenschaft
von den tödlich treffenden Kugeln.
"Wir waren Loser. Mit den Waffen sind wir keine mehr", so beschreibt Dick
die Wirkung des Bundes auf den Einzelnen. Alle begreifen sich als Pazifisten.
Ihre "Partner", die Waffen, sollen den "Tempel" unter Tage nie verlassen.
Ihr verwegen romantisiertes Spiel gerät außer Kontrolle, als sie
den geschützten Rückzug verlassen und auf einen Gewaltausbruch
in der realen Welt über Tage durch die ihnen zur Verfügung stehenden
Mittel antworten können.
Ähnlich ironisch verspielt und mit einem Hang zum Pathos trat ein realer
dänischer "Geheimbund" 1995 ins Licht der Öffentlichkeit: Regisseur
Thomas Vinterberg legte mit seinem Kollegen Lars von Trier das berühmt
gewordene "Keuschheitsgelübde" ab. Das war der Beginn einer international
erfolgreichen Filmbewegung, die unter dem späteren Label "Dogma 95"
z.B. durch Dreharbeiten an Originalschauplätzen, ohne Requisiten und
künstliches Licht dem "Kino der Illusion" mit Authentizität entgegen
treten wollte. Vinterbergs erster, nach den Geboten des künstlerischen
Manifests gedrehter Spielfilm "Das Fest" (1997) wurde u.a. in Cannes mit
dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Für seinen Ausflug nach Hollywood,
der sich mit dem hochkarätig besetzten Science-fiction-Thriller "It's
all about love" (2003) als Antithese zum einst vertretenen Purismus
interpretieren ließ, konnte sich weder die Kritik noch das Publikum
begeistern.
Während Claire Danes, Joaquin Phoenix und Sean Penn noch in unseren
Kinos durch diese futuristische Vision einer Welt am Abgrund taumelten, suchte
Locationscout Rüdiger Jordan im Auftrag der deutschen Produktionsfirma
Heimatfilm im Ruhrgebiet bereits nach geeigneten Orten für die nächste
Produktion von Vinterberg. Unterstützt von der Filmstiftung NRW begann
der zweite Teil der Dreharbeiten zu "Dear Wendy" im Herbst 2003 auf Haus
Aden in Bergkamen und im Trainingsbergwerk "Fürst Leopold" in Dorsten.
Die stillgelegten Zechen im östlichen Ruhrgebiet, die in der filmischen
Groteske über die Folgen des Waffenbesitzes Minen in West Virginia
darstellen sollen, erinnern Rüdiger Jordan an einen "verschlafenen
Dinosaurier", der während des einige Wochen dauernden Drehs zum Leben
erweckt wurde. Film ist Illusion: Alle Szenen, die aussehen, als wären
sie unter Tage gedreht worden, sind in der Realität über Tage
entstanden.
Zurück zu den Jungen und dem Mädchen, denen der Gebrauch der
Handfeuerwaffe zum Verhängnis wird. Neben Jamie Bell ("Billy Elliot")
in der Hauptrolle überzeugt ein perfekt eingespieltes Team, das im grandios
choreographierten Finale, orchestriert von Songs der "Zombies", untergeht.
Wenn eine Geschichte über jugendliche Pazifisten keine Altersfreigabe
für ein Kinopublikum unter 18 bekommt, hat jemand die Botschaft im
Kugelhagel überhört: Die Moral von der Geschicht, spiel mit der
Waffe nicht!
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