Die erste Kamerafahrt: über die Zuschauerreihen eines Theaters auf den
Vorhang zu, durch das Proszenium auf die Bühne, von dort über die
Treppe, die sich im Zentrum des Bühnenbildes befindet, hoch in die Kulissen;
ein Schnitt setzt der Fahrt ein Ende und markiert zugleich den Registerwechsel
von der theatralen zu einer filmischen Führung des Blicks. Die letzte
Kamerafahrt: aus den Kulissen heraus zurück auf die Höhe der Treppe,
von dort rückwärts die Stufen hinunter, durch das Proszenium in
den Zuschauerraum, weiter über die Reihen der Sitze, so dass der letzte
Auftritt der Schauspielerin, an der Rampe, vor dem geschlossenen Vorhang,
nurmehr aus der Distanz gezeigt wird. Zwei Fahrten, eine in die Welt der
Bühne hinein, eine andere aus dieser Welt heraus, in der, für die
Dauer von eineinhalb Stunden, die Prinzipien des Films gewaltet haben (Schnitte,
Einstellungswechsel, Sprünge, Montagen), und die doch ganz und gar eine
theatrale ist.
Theatral, das heißt zunächst: eine der Repräsentation, für
die es hier mehr Experten gibt als nur die Vertreter des Theaters, und unter
den Experten nicht nur solche, die dem Theater freundlich gesinnt sind. Die
dramatis personae, die Renoirs Film versammelt, ließen sich mit gewissem
Recht als ein Ensemble von Repräsentationsfachleuten bezeichnen, allen
voran der Vizekönig der namenlosen südamerikanischen Kolonie, der
klug über den rechten Einsatz von Symbolen und Insignien zu plaudern
weiß und ebenso darüber, dass Souveränität zuallererst
eine Sache der gelungenen Inszenierung ist. Sein Königtum indes bleibt
abhängig von Wohlwollen und Billigung des Bischofs, dem seinerseits
eine gewisse Theaterfeindlichkeit unterstellt wird und, man darf es vermuten,
auch gewisse Vorbehalte gegenüber allzu ungehemmter Prachtentfaltung
auf Seiten der weltlichen Macht. Neben diesen beiden Würdenträgern
finden sich ein Vertreter des Gerichts, der gegen das Theater hetzt, ein
Hofstaat, der ganz und gar aus Larven und Kostümen besteht, ein Torero,
der im Wettstreit um Gunst und Achtung des Publikums eine ernsthafte Konkurrenz
darstellt, und ein Volk, dem ein Spektakel so viel gilt wie das andere, weshalb
es sich für die Auftritte von Königtum und Kirche ebenso begeistern
kann wie für die Kunst des Stierkampfes oder die Darbietungen der aus
Italien angereisten Schauspielertruppe. Zwischen all dem ein etwas verdrossener
junger Mann (ein Rosseauist - man weiß, was das für das Theater
bedeutet), der erst das Schwarz des Kaufmannssohnes trägt und später
den Rock eines Hauptmanns der staatlichen Armee, und der die Schauspielerin
liebt, um die sich ebenso der Torero und später der Vizekönig
bemühen.
Eine andere Lesart des Theatralen: Kulissenhaftigkeit, Draperien, Fassaden,
Konstrukte, Staffagen, wohin das Auge blickt. Das Ganze bevölkert mit
Akteuren, die manchmal eine Perücke tragen und immer ein Kostüm,
so wie sie auch immer einen Text zu sprechen und eine Rolle zu gestalten
haben, was sie mit mehr oder weniger Grandezza tun. Bei Renoir tritt der
Soldat als Soldat auf (ein Dreispitz und ein Waffenrock - in dieser Verkleidung
scheint selbst der Rousseauist dem Theater nicht mehr so fern), der König
als König (Tressen, Puder, silberne Knöpfe und goldene Schnallen),
die Intriganten als Intriganten, die Mätresse als Mätresse, die
Schauspieler als Duplikate derer, die sie auf der Bühne verkörpern,
und zugleich als fahrende Komödianten, wie sie schon auf tausend
Bilderbögen dargestellt worden sind. Ein Karren, ein paar alte Soffitten,
ein Kostümfundus als schäbiger und dennoch kostbarster Besitz,
rote Beinkleider, Schellen, Gitarren, Schminke, Lärm: In Die goldene
Karosse werden Klischees, vor allem solche über das Theater, als
unverzichtbar behandelt.
Ein Klischee auch: die Schauspielerin, aber ein übergroßes,
überhöhtes, Allegorie ihrer Kunst und zugleich Allegorie des
Weiblichen. Die Schauspielerin (Anna Magnani) ist schön, unbeständig,
launenhaft; sie setzt Gefühle frei, ohne sich auf sie verpflichten zu
lassen; sie ist, was man in ihr zu sehen glaubt und niemals das, was man
von ihr verlangt; sie gibt sich hin und entzieht sich und wird, Zentrum eines
Schauspiels der Kabale und Affekte, am Ende den Rückzug auf die Bühne
(nicht: von der Bühne) antreten und alle Optionen auf einen Kulissenwechsel
an den Hof, in die Arena, in die unberührte Natur ausschlagen.
Nicht die Welt als Theater ist das Konzept, das am Ende des Films steht,
sondern ein Theater, das es gegen die Welt zu sichern gilt: ein Ort, an dem
sich vielerlei abspielen kann, ohne dass jemand ernsthaft zu Schaden käme
oder aus einer Handlung dauerhafte Verbindlichkeiten entständen.
Zuvor jedoch (Vorhang auf, Proszenium, ab in die Kulissen) dominiert das
andere Konzept, ist die Welt Theater und ist das Theater in jedem einzelnen
Auftritt. Fliegende Türen, doppelte Böden, Hintertreppen, versteckte
Liebhaber, blinde Verehrer, hastige Wortwechsel, wackelnde Dekors, Musik,
Lauscher hinter nur halb verschlossenen Türen, heftige Abgänge,
Zusammenstöße, Verwechslungen, Rede und Widerrede, ein paar Ohrfeigen
gibt es auch. Es ist das Spiel der Commedia dellArte, das die Theatergruppe
in den Königssitz importiert und somit auch in den Film: teatro povero,
auch in den Effekten, was deren Aufnahme aber keinen Abbruch tut.
Rätselhafter als diese offensiv entfaltete Theatralität ist das
Schauspiel, das die goldene Karosse abgibt. Abgibt und nicht abgibt, denn
tatsächlich gewinnt dieses begehrte, viel bewunderte Objekt seine
Faszination zu einem guten Teil daraus, dass es gleich zu Beginn eingeführt
wird, um dann bis kurz vor Schluss in einer Remise verschlossen zu bleiben.
Die Karosse, zunächst Emblem des königlichen Prunks, wird sehr
bald von der Mätresse, den Höflingen, den Vertretern des Gerichts
beansprucht, statt dessen aber der Schauspielerin übereignet, die es
schließlich, um den bald folgenden Querelen ein Ende zu bereiten, der
Kirche zu frommen Verwendungszwecken überlässt. Renoirs Karosse
zirkuliert, fast ohne sich von ihrem Platz zu bewegen, aber ebenso gut
könnte man auch sagen: alles zirkuliert um die Karosse, ein Prunkstück
ohne Inhalt und unbezahlt obendrein, doch ganz dazu geschaffen, dem Streit
um Repräsentationsmacht einen Gegenstand zu geben. Unter allen Requisiten,
deren sich das Kino in seinen Darstellungen des Theaters bedient hat, ist
dies eines der bezaubernsten: nichtig, eitel, billig und prächtig zugleich,
ein Wunderwerk aus Blattgold und Pappmaché, das seine höchste
Wirkung dort entfaltet, wo es Objekt des Begehrens, nicht aber des Gebrauchs
ist.
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