Bestialisches Bürgertum
Der französische Regisseur Patrice Chéreau inszeniert in seinem
neuen Film Gabrielle. Liebe meines Lebens die Ehe als emotionales
Gefecht und schafft ein Meisterwerk
Isabelle Huppert, die auf dem Filmfestival in Venedig im letzten Jahr für
ihre Darstellung mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, und Pascal
Greggory (Wer mich liebt, nimmt den Zug) spielen das einander
vertraute, aber innerlich fremde Paar am Anfang des 20. Jahrhunderts, am
Ende der Belle Epoque. Die beiden führen ein nach außen offenes
Haus. Sie empfangen regelmäßig Gäste zu festlichen
Abendveranstaltungen, schließen sich selbst aber, wenn die Besucher
den Salon verlassen haben, zwischen glatten Marmorsäulen und griechischen
Skulpturen wie in ein unterkühltes Grabmal ein, durch das Hausmädchen
wie eine Schar emsiger Geister huschen, einzig dazu da, um ihren Herrschaften
zu Diensten zu sein.
Am Anfang des Films ist Jean auf dem Weg nach Hause. Er steigt aus dem Zug.
Verlässt den Bahnhof und geht in einer anonymen Masse Anzug tragender
Männer durch einen dunklen Tunnel. Erwidert beiläufig den Gruß
eines Bekannten. Spaziert durch die Straßen des wohlhabenden Viertels,
in dem er lebt, und verschwindet, nachdem er geläutet und ihm eines
der Mädchen geöffnet hat, in einer Villa, seinem Heim, das er seit
zehn Jahren mit seiner Ehefrau teilt.
Als Abbild des bestialischen Bürgertums bezeichnete der
Autor Joseph Conrad, auf dessen in der Neuübersetzung knapp 100 Seiten
umfassenden Erzählband der neue Film von Patrice Chéreau beruht,
das moralisch makellose Leben von Jean und Gabrielle, das durch eine ehrlose
Tat erschüttert wird. Als Jean nach seinem Gang vom Bahnhof zu Hause
ankommt, findet er in einem der Privaträume einen an ihn gerichteten
Brief seiner Frau vor.
Dieser vom geregelten Ablauf abweichende ungewöhnliche Vorgang bereitet
Jean Verdruss (Warum schreibt sie ihm, wenn sie gleich gemeinsam zu Tisch
gehen?). Er gießt sich irritiert ein Glas Wein ein, überfliegt
die Zeilen flüchtig, liest dann konzentrierter, ungläubig. Das
Glas fällt aus seiner Hand. Es zersplittert, sein Inhalt bildet auf
dem Boden eine Lache. Spürbar, wie ein Donnerschlag, ist der Moment
der Entdeckung des Treuebruchs inszeniert (Sie hat ihn verlassen, ist mit
einem anderen durchgebrannt).
Der Rotation der Kontraste folgt spontan: Waren die ersten Filmszenen in
Schwarzweiß gedreht, wechseln die Bilder unvermittelt zur Farbe und
kehren von einem Moment zum anderen ins Monochrome zurück. Sätze
werden aus dem Kontext in Lettern auf die Leinwand gewuchtet und schaffen
eine theatralischen Intensität im Raum, wie man sie etwa aus den Filmen
des italienischen Regisseurs Visconti (Die Verdammten) kennt.
Dem irrationalen Ausbruch, der Panik, folgt das Gefecht, als Gabrielle unerwartet
zurückkehrt und symbolisch für alles Nachfolgende den Schleier
ihres breitkrempigen Hutes lüftet. Es war, als hätte sich
ein Visier geöffnet, formuliert Joseph Conrad in seiner Kurzgeschichte
den Beginn der verbalen und körperlichen Schlacht zwischen Mann und
Frau. Regisseur Patrice Chéreau, dessen Film von seiner Darstellerin
Huppert als Art natürlicher Fortsetzung von ,Intimacy
beschrieben wird, seziert mit frostiger Leidenschaft das beklemmende Ende
einer Ehe.
Die Erzählung von Joseph Conrad Gabrielle oder die
Rückkehr ist bei dtv erhältlich, 6,50 Euro
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