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Albertina Carri: Geminis (Argentinien 2005)

Kritik von Stefan Höltgen 

Die 15-jährige Meme und der ein wenig ältere Jere(mias) führen eine Liebesbeziehung – die erste ihres Lebens. Sie sind füreinander da, unterstützten einander in Streitsituationen und führen eine leidenschaftliche sexuelle Beziehung. Meme und Jere sind Geschwister. Sie leben im Haus der Eltern in Rio de Janeiro, wo vor allem die Mutter die bürgerliche Moral bestimmt. Als der große Bruder Ezequiel mit seiner Verlobten aus Spanien anreist, entdeckt er die heimliche Beziehung seiner kleinen Geschwister, verprügelt Jere und schwört diesen darauf ein, die Mutter nichts erfahren zu lassen. Doch bald darauf erwischt auch diese ihre Kinder in flagranti und das mühsam konstruierte Bild der heilen Familie bricht zusammen.

Schon gleich zu Beginn macht die Kamera dem Zuschauer klar, dass es in „Geminis“ um einen „anatomischen Blick“ geht: In Detailaufnahmen bekommen wir zu sehen wie einer Person Blut abgenommen wird. Solche Einstellungsgrößen begegnen dem Betrachter im Verlauf des Film immer wieder – dann jedoch, um eine soziale Anatomie zu konstruieren: Es geht um die Brüchigkeit der bürgerlichen Kleinfamilie. Während vordergründig alles mit der Hochzeit des erwachsenen Sohnes beschäftigt ist, entwickelt sich im Hintergrund, im Verborgenen eine leidenschaftliche Katastrophe.

Die Kamera ist in den brenzligen Situationen immer dabei: Ihre voyeuristische Position demaskiert sie dabei stets auffällig: Sie schaut über Schultern, durch Kondenswasser-vernebelte Scheiben, hinter Säulen und Mauervorsprüngen hervor, um einen Blick auf die „verbotene Liebe“ erhaschen zu können. Die übrigen familiären Szenen werden indes ohne optische Auffälligkeit wie eine jener Telenovelas vorgeführt, die sich die Mutter abends im Fernsehen anschaut. Der heimliche Blick indes, der zwar nicht subjektiv inszeniert ist, aber ebenso suchend und entdeckend durch die Räume des Hauses fährt, um den Ursprung knarrender Betten und lasziven Stöhnens zu finden, ist es, der die Hauptattraktion des Films darstellt.

Es ist schwer, „Geminis“ nicht die Exploitation seines Sujets – einer tabuisierten sexuellen Beziehung minderjähriger Geschwister – zu unterstellen. Viel zu sehr erfüllt der Kamerablick den „Wunsch“ der Filmzuschauer, zu sehen. Dass er sich dabei selbst als voyeuristisch entbirgt, mutet wie eine Ausrede an. Nun wäre aber, bevor man „Geminis“ pornografische Tendenzen unterstellt, zu fragen: Wie soll es denn anders gezeigt werden? Ist es zulässig, die Geschwisterliebe nur anzudeuten und in den Diskurs zu verbannen? Wird man den psychologischen Implikationen des Tabubruchs gerecht, wenn man pietätvoll verschweigt, anstatt zu zeigen? Schließlich: Können die jugendlichen Figuren überhaupt an Plastizität gewinnen, kann ihre Motivation überhaupt klar werden, wenn man ihre Liebe und ihre Leidenschaft nicht nachvollziehbar in den Blick rückt?

„Geminis“ gibt keine Antwort auf diese Fragen – er entscheidet sich dafür zu zeigen. Er dokumentiert das Geschehen um einen Kontrast zum Alltag auch im Bild zu verdeutlichen. Die Bilder von Oberfläche und Tiefe ergänzen und kommentieren einander. Sicherlich hätte auch ein „Weniger“ an Sexszenen gereicht, um das Thema plastisch zu transportieren (übrigens wäre auch ein „Mehr“ möglich gewesen, wenn der Film ein transgressives Moment, wie etwa bei Katherine Braillat zu finden, hätte ausloten wollen). Das Drama jedenfalls wird nachvollziehbar. Die Identifikation des Zuschauers mit dem Pärchen wirft diesen auf seine eigenen moralischen Vorstellungen zurück. Indem „Geminis“ so ist, wie er ist, hat er die Möglichkeit nachzuwirken. Wenn er dies erreicht, hat er schon (s)einen Sinn.

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