Wenn in französischen Filmen kleine Mädchen allein
eine Reise unternehmen, bekommt der Ernst des Lebens unter Umständen
schon einmal einen anderen Rhythmus. Als Louis Malle 1960 die kleine Zazie
durch Paris schickt, wird die Stadt dem Willen des Mädchens unterworfen
und zu ihrem Kinderzimmer. In Safy Nebbous Le Cou de la Giraffe
ist es die neunjährige Mathilde (Louisa Pill), die eines Nachts heimlich
das Haus verlässt, indem sie allein mit ihrer Mutter Hélène
(Sandrine Bonnaire) wohnt, um ihren Großvater Paul (Claude Rich) aus
dem Altersheim abzuholen. Mit ihm will sie die verschollene Großmutter
aufsuchen, die vor 30 Jahren Paul und Hélène verlassen hat.
Wo sich diese aufhält, weiß Mathilde aus einem Stapel
ungeöffneter Briefe, in denen ihre Großmutter versucht hat, mit
Paul und seiner Tochter in Kontakt zu bleiben. So brechen die beiden
schließlich zum Küstenstädtchen Biarriz auf. Die besorgte
Hélène findet schließlich heraus, was ihre Tochter und
ihr Vater vorhaben weiß jedoch etwas mehr als die beiden und
reist ihnen nach.
Safy Nebbous Film ist eine Reise in die Vergangenheit. Der Weg, den Paul,
Mathilde und Hélène zurück legen hat für sie auch
eine symbolische Bedeutung. Mit Hilfe Mathildes arbeiten die Mutter und ihr
Vater die gemeinsamen Lebenslügen auf, werden sich über ihre Beziehung
zueinander und zu ihrem Leben im Klaren. So ist bereits eines klar: Auch
wenn sie die Großmutter, Mutter und Exfrau nicht finden sollten, haben
sie doch bereits mehr zurück erlangt, als sie hoffen konnten: Paul fasst
den Entschluss, das Altenheim wieder zu verlassen, zurück in seine Pariser
Wohnung zu ziehen und wieder in seinem Buchladen zu arbeiten und die frisch
geschiedene Hélène will die Beziehung zu ihrem Freund
gegenüber Mathilde nicht länger verheimlichen. Das kleine Mädchen
wird zum Katalysator, der die Geheimnisse und Lügen durch seine wache
und liebenswerte Art aufzulösen im Stande ist. Mathilde formt die verzerrte
Lebenswirklichkeit ihrer Familie neu.
Der Debütfilm Safy Nebbous besticht durch seine leichte Erzählweise,
den schwebenden Rhythmus, mit dem die Erzählung schnell zur Sache kommt,
ohne viel Zeit für Charakterisierungen zu ver(sch)wenden. Im Verbund
mit den Reisebildern, zeitweise in betörend schönen
Panorama-Landschaftsaufnahmen, durch die sich die Protagonisten ihrem Ziel
entgegen bewegen, und der leichten, repetitiven Musik Pascal Caignes steht
Le Cou de la Giraffe in enger Verwandschaft zum lebensbejahenden
Kino eines Eric Rohmer. Wie dessen Filme (und überhaupt die Vielzahl
des französischen Autorenkinos) lebt auch Nebbous Erstlingswerk vor
allem von der Konstellation seiner Figuren und deren eindringlicher
Verkörperung durch die Schauspieler. Das Dreieick aus besorgt-strenger
Mutter, ängstlichem Großvater und neugierig-sorglosem Mädchen
bestimmt durch seine Verschiebungen und Veränderungen den Duktus der
Erzählung. Dieser Konstellation ordnet Nebbous seine Reisegeschichte
unter und lässt diese wiederum mehr und mehr Einfluss auf die Entwicklung
der Beziehungen nehmen. Am Ende schließlich finden alle Figuren, was
sie gesucht haben - eine neue, wahrere Familienidentität.
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