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Lucrecia Martel: La niña santa (Argentinien 2004)

Kritik von Stephane Boeuf

 

„Der Instinkt, mein jungfräulicher Instinkt, er ist es, der mir den Weg zeigen wird!“

Gombrowicz: Erinnerungen aus der Zeit der Unreife

Schon im Vorspann, eine zarte singende Stimme: eine schöne, junge Frau, die wir in der ersten Einstellung entdecken. Sie singt, sie hat Tränen in den Augen. So sehr, dass sie ihr Gesang unterbrechen muss.

Am Klavier begleitet singt eine junge Frau. Tränen in ihren Augen, sie muss vor Rührung ihren Gesang unterbrechen. Sie wird von einer Schar junger Mädchen beobachtet, deren Blicke für den Zuschauer unentscheidbar zwischen Konzentration, Spott und Feindseligkeit schwanken. Unter ihnen wird von Hand zu Hand ein Bild gereicht. In den Bemerkungen der Zuhörer geht es um die tiefen Zungenküsse, nach denen sich die Sängerin sehnt.

La niña santa: das heilige Mädchen. Wer soll das nun sein? Die weinende Sängerin nicht. Aus der Schar junger Mädchen tritt Amalia hervor, Tochter der Verwalterin des Hotels, in dem der ganze Film während der Dauer eines Ärztekongresses spielt. Amalia und ihre engste Freundin José verbringen ereignisarme Tage zwischen Religionsunterricht, Swimmingpool, der Wäscherei des Hotels und einem Schaufenster, vor dem jeden Tag ein Ondes Martenot spielender junger Mann eine neugierige Menschenmenge versammelt.

Es ist ein bisschen so, als wären die Schwestern von Sofia Coppolas „The Virgin suicides“ in ein von Gombrowicz geprägtes polnisch-katholisches Argentinien geraten. Wobei die jungen Mädchen hier keine Schwestern sind, und es eben darum geht, Schwestern zu werden, in der Ambivalenz zwischen Verwandtschaftsgrad und religiösem Orden (eine Ambivalenz, die Coppolas Film nicht fremd ist, hatte doch der Schwesternbund der „Virgin suicides“ in seiner Mythisierung durch die beobachtenden Jungen durchaus auch die Dimensionen eines mystischen Bundes).

Erste Station, also, der Religionsunterricht, in dem über die Frage der Berufung debattiert werden soll. Die Schülerinnen sollen zu diesem Thema Zitate aus Büchern sammeln, doch bringen sie, sehr zur Verzweiflung der jungen Lehrerin, immer nur Kolportagen mit. Die Geschichten, die sie erzählen, ähneln sich: es geht um Unfall- oder Katastrophenopfer, die als alleinige Überlebenden zu ihrer Berufung finden – Geschichten eines auf Opfertum beruhenden Weges zum Heiligen.

In den in der Langeweile brütenden Gemütern der jungen Mädchen vermengt sich dieser hysterische Katechismus mit den Verstörungen der aufkeimenden Sexualität. Die Begierden kristallisieren sich im Film an zwei Orten: der Swimmingpool als klassischer Ort der begehrenden Blicke und die Menschenmenge vor den Ondes Martenot – Ort der flüchtigen Berührungen. Hier sind die Blicke alle unschuldig in die eine selbe Richtung gerichtet, auf das Schaufenster, während Dr Jano, einer der am Kongress teilnehmenden Ärzten, sich in die Menschenmenge einmischt und deren Enge ausnützt, um unauffällig sein Geschlecht gegen den Hintern eines jungen Mädchens zu halten. Eine flüchtige Erregung, dann geht er wieder.

Amalia wird zu einem seiner Opfer und glaubt in diesem Akt einer potentiellen Entjungferung und in der Person Janos den Weg zu ihrer Berufung gefunden zu haben. Sie folgt ihrem Instinkt, von dem wir nicht wissen, ob sie selber weiß, wohin er sie führen soll. Wir verfolgen ihre Annäherungs- und Erkundungsversuche – bis das leise Unbehagen der Beziehungen durch die Einmischung der Freundin José zur Explosion gesteigert wird und die fiktive Entjungferung, als Vergewaltigung ausgegeben, in einem Skandal dem Kongress, und vermutlich Janos Karriere, ein Ende bereiten soll. Doch davon werden wir nichts sehen.

Der Film endet im Swimmingpool. José bietet sich an, für Amalia eine Schwester zu werden. Beide schwimmen nebeneinander und beschreiben Diagonalen im Pool, während in den Räumen des Hotels, die sie verlassen haben, eine ganze Welt zusammenbricht. Sie bleiben exakt parallel im Rückenschwimmen: Schwestern eines aquatischen Ordens, die dem Salz der Tränen die nicht ganz klaren Gewässer eines Swimmingpools vorgezogen haben.

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