Bereits in der ersten Einstellung ist Angela Schanelecs Film
Mein langsames Leben ganz bei sich. Zwei Freundinnen im Café,
im Dialog über Dinge des Lebens, Zukunft, Erwartungen, auch
Alltägliches. Die eine fährt den Sommer über nach Rom, die
andere bleibt in Berlin. Valerie, die bleiben wird, folgt der Film, an ihr
reiht er in loser Bekanntschaftsverknüpfung die Figuren und
Beziehungskonstellationen auf, von denen er erzählt. Wie er sie aber
erzählt, das wird bereits aus diesem ersten Einstellungsbild ersichtlich.
Schanelec entwirft einen Film als Serie von (wunderschön lichten, klaren,
unauffällig komponierten) Quasi-Fotografien, die grammatikalische
Grundstruktur ist das Standbild - jeder Schnitt, jede Kamerafahrt wird so
zum Moment des Außergewöhnlichen. Die Kamera bleibt starr, über
Minuten hinweg, die Bewegungen der Figuren sind minimal, fast könnte
man sagen, die Kamera ist solidarisch eher mit den unbewegten Hintergründen
als mit den Vordergründen der talking heads. Mehr als einmal
verharrt die Kamera noch lange Sekunden auf dem von den Figuren verlassenen
Schauplatz, lässt Bild und Ton, der so ins Off wandert, auseinander
treten.
Das zurückgenommene, oftmals fast unlesbare Spiel der Darsteller
passt dazu bestens. Die Kamera soll nicht ablenken, einerseits: von den Dialogen,
den Gesichtern, der - allerdings kaum je manieristischen - Mise-en-Scène
von Mensch/Stadt/Umgebung. Die Kamera will, wie der ganze Film, andererseits,
aber auch keinem zu nahe rücken, sondern aus ruhiger Distanz beobachten.
Am weitesten geht Schanelec dabei in einer Einstellung, die Valerie mit ihrem
sterbenden Vater - gerade nicht zeigt: eine nur semitransparente Glasscheibe
lässt nicht mehr als die Umrisse des Mannes erkennen. Und verblüfft
konstatiert man, dass diese starren Einstellungen auf starre Tableaus
tatsächlich jeder emotionalen Manipulation vorbeugen. Nicht der Anteilnahme:
man interessiert sich, möchte mehr wissen, bewegt sich in einem
Denkspielraum, für den die Bilder und auch die Dialoge Platz lassen.
Auch Schanelecs Dialogkunst ist faszinierend: sie balanciert stets auf einem
schmalen Grat zwischen Beiläufigkeit, die nicht Banalität, und
Verschweigen, das nicht Verrätselung ist. Auch hier bleibt die Halbdistanz
gewahrt zwischen Entdecken und Verbergen. Und obgleich es, und sei es in
Andeutungen, Geschichten gibt, Entwicklungen, vergehende Zeit, verzichtet
der Film doch auf alles Zu-Ende-Erklären, auf Deutungen und Urteile.
Einen Schritt weiter noch in der Zurückhaltung gegenüber
den Figuren geht der Film in seiner großartigsten Einstellung. Narrativ
geht es darum, dass Marie, eine der Hauptpersonen, ihrem Bruder erzählt,
dass ihr Mann Alexander sie seit einem Jahr betrügt, der dramatische
Höhepunkt des ganzen Films. Die Einstellung, die einige Minuten dauert,
besteht aus einer sehr langsamen Kamerafahrt aus einiger Entfernung: man
sieht die Figuren, aber mehr noch sieht man die Bäume, an denen die
Kamera in ihrer parallelen Bewegung zum Spaziergang der Personen, zu denen
sich später weitere gesellen, vorübergleitet. Das Verhältnis
von Kamera als Beobachter und Figuren als Beobachteten ist dramatisch gelockert
durch das Auseinanderfallen von Kamera- und Figurenbewegung in jeweilige
Eigentempi: die Kamera behält ihre gleichmäßige Geschwindigkeit
bei - was dazu führt, dass die Figuren gelegentlich aus dem Bild-Rahmen
geraten, zurückfallen und dann wieder ins Bild zurückkehren.
Sekundenlang gibt es nichts als den Dialog, aber auch sonst nur die Schemen
in der Entfernung, die zusätzlich noch in einer eigenen Bewegung der
Annäherung und des Abstands choreografiert sind.
Auch die Erzählung der vielen Einzelgeschichten folgt ihren
eigenen, mit der Kameragrammatik, dem Spiel, den Dialogen abgestimmten Gesetzen.
Es gibt keine durchgehende Handlung, sondern immer nur scharf begrenze
Ausschnitte. Die Auslassungen sind mit Händen greifbar, ohne dass man
den Eindruck bekommt, es würde ein Spiel mit einem getrieben. Man kann
sich in vielem an Rohmer erinnert fühlen, aber der entscheidende Unterschied
besteht eben darin, dass bei ihm die Geschichten stets Experimente sind,
Versuchsanordnungen, Proben aufs Exempel von Sprichwörtern, Thesen.
Bei Schanelec wird dagegen nie eine Erzählinstanz spürbar, die
die Fäden zieht, Lust an Zufällen hat, mit Figuren anderes im Sinn
hätte, als sie nur zu zeigen. Umgekehrt fällt Mein langsames
Leben aber auch nicht in Episoden, in beliebig Unzusammenhängendes
auseinander: man kann gewiss sein, dass einmal aufgegriffene Motive zu einem
(und sei es) vorläufigen Abschluss geführt werden, dass auch die
arabesken Seitentriebe der Figurenverknüpfung etwas zum Gesamtbild
beitragen. In dieser wie in jeder anderen Beziehung ist Mein langsames
Leben ein überaus kunstvoller Film, ein Meisterwerk, wie das deutsche
Kino lange keines hervorgebracht hat.
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