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"Pater familias" (Im Schoße der Familie), Regie: Francesco Patierno,
Italien 2003, 90 Minuten;
Von Ulrike Mattern
Rezension zum Panorama-Beitrag Berlinale 2003
Derweil alle Journalisten über den etwas sechs Sekunden lang zu sehenden
Hintern von George Clooney im Wettbewerbsbeitrag "Solaris" räsonieren,
lässt mehr als ein männlicher Schauspieler in dem italienischen
Film "Pater Familias" unbeachtet von der Öffentlichkeit die Hosen runter.
Was ist schon das Gesäß eines Neapolitaners gegen das eines
Schauspielers aus Hollywood, der mit einem Ferkel zusammenlebt?
"Max", das Hausschwein von George Clooney, schafft qua Geschlecht und Gattung
den Übergang zu einem Thema, das in dem Panorama-Beitrag von Francesco
Patierno bis zur körperlichen Erschöpfung des Publikums
überzeugend dargestellt wird: Männer sind Schweine. Sie lassen
ihre Hosen runter, um Ehefrau oder Schwester zu vergewaltigen, die Freundin
im Auto oder eine unbekannte Passantin auf der Straße zu nötigen
oder vom Kontrahenten an dieser empfindlichen Stelle gepackt und verletzt
zu werden. Dass Sexualität Macht bedeutet und Vergewaltigung nichts
mit Sex zu tun hat, bleibt bei Patierno keine graue Theorie, sondern ist
Alltag in einem kriminellen Milieu in Süditalien.
"Neapel sehen und sterben", die pathetische Erinnerung an den pittoresken
Charme einer verfallenden Stadt heißt bei dem italienischen Regisseur
in der gewalttätigen Gegenwart: in Neapel leben und sterben. Alle sterben,
töten, werden ermordet: die Klassenkameraden, Freunde, Verwandte und
Bekannte von Matteo, den man am Anfang des Films sieht, wie er auf seine
Entlassung aus dem Gefängnis für einen Tag Hafturlaub wartet. Ein
schmaler, ernsthafter Mann im ordentlich gebügelten Jackett. Verurteilt
für einen Mord aus Rache. Mit dem Bus reist er nach Hause, in den Vorort
von Neapel, wo seine Familie lebt. Sein Vater liegt im Sterben, und Matteo
will ihn noch einmal sehen. Eine Reise in die Vergangenheit, welche die Kamera
mit marmorierten Bildern gegen eine deutlich dargestellte Gegenwart abgrenzt.
Ein Bild - vier Jungen, die in langsamen Bewegungen nach und nach eine
weißgraue Steinmauer herunter springen - rahmt den Film, taucht immer
wieder auf und wird zu Beginn mit Musik unterlegt, die ihm den Anstrich eines
MTV-Videos gibt. Diese gefällige Ästhetik verliert sich im Verlauf
der Handlung, um kurz vor Schluss wieder aufgenommen zu werden, wenn nur
noch einer der Jungen von der Mauer springt.
So viel Tristesse, Gleichgültigkeit, Gewalt und lässt sich nur
ertragen, weil Matteo und Rosa, seine Jugendfreundin, die Spirale durchbrechen.
Am Sterbebett macht der Sohn dem Vater zum Vorwurf, dass er ihn nie
geschützt habe. Wenn man den Titel "Pater familias" in dem Sinne
interpretiert, dass sich das - ansonsten hier als gewalttätig geschilderte
- männliche Oberhaupt um die Familie kümmert, übernimmt Matteo
am Ende diese Funktion für Rosa und ihre Tochter. Er holt sie aus der
arrangierten Ehe mit ihrem gewalttätigen Mann und vertraut sie einer
Nonne an.
In den letzten Jahren zeichneten sich die viele italienische Beiträge
auf der Berlinale, insbesondere in den Sektionen Wettbewerb und Panorama,
durch die gepflegte Langeweile der Mittelschicht, hysterische Beziehungsdramen
oder öde Kostümfilme aus. Diesen Trend hat der Film von Francesco
Patierno beendet. |