Boy meets girl und geht dabei über Leichen. Nein, das
stimmt nicht: Es ist nur eine Leiche, aber das macht die Sache nicht besser.
Das eigentliche Problem ist freilich, dass auch Tsai Ming-Liangs "The Wayward
Cloud" über eine Leiche geht und man nicht sagen kann, weil es der Film
selbst auch nicht sagt, ob er das Entsetzliche, was geschieht, denunziert
oder selbst am Entsetzlichen Teil hat, und sei es nur über die Bilder,
deren Anstößigkeit er nutzt, um selbst zum Höhepunkt, der
das Ende ist, zu kommen.
Es gibt drei Arten von Bildern in "The Wayward Cloud" und im Grunde auch
drei Filme, in die er weniger zerfällt, als er die Frage nach dem
Zusammenhang dieser Filme ständig vor sich her schiebt, um zuletzt zu
einer außerordentlich verstörenden Antwort zu kommen. Film eins
ist die Geschichte von Boy meets Girl. Sie sehen sich wieder, auf einer Schaukel.
"Verkaufst du noch Uhren?" fragt sie und es wird klar, dass es sich um das
Paar aus Tsais "What Time is it there?" handelt. Gespielt wiederum von den
Schauspielern Lee Kang-sheng und Chen Shing-chyi, mit denen der Regisseur
immer wieder arbeitet. "Nein", sagt der junge Mann und beinahe reden sie
mehr nicht miteinander im ganzen Film. Die Frau trägt als Fetisch, der
komödiantisch, aber nicht mit Sinn aufgeladen wird, eine Melone unter
dem Herzen. Das Wasser ist knapp, die Melonen sind es nicht. Ein Scherz,
ein running gag, der seinen Verzicht auf tiefere Bedeutung ausstellt. Damit
könnte man leben.
Film zwei zeigt, wie Szenen zu Porno-Filmen gedreht werden, zu Beginn mit
einer Melone, die die Darstellerin als ins Große geschwollene Metapher
ihrer Vagina zwischen den Beinen hält. Später geht es ohne Melone
zur Sache. Der Pornodarsteller ist der junge Mann, der in Film eins zum
Sympathieträger durchaus taugt. Das Verhältnis der Bilder Tsai
Ming-Liangs zu diesen Porno-Bildern jedoch bleibt unklar. Oder nein: Eigentlich
erlaubt er sich mehr als einen Scherz zu viel auf Kosten der armseligen
Bedingungen, unter denen hier gedreht wird, um nicht selbst, mit Absicht
oder nicht, in den Porno-Dreh hinein zu geraten. Film drei ist sozusagen
die Ausfaltung der metaphorischen Melone der ersten Pornoszene: In
Zwischenstücken hält der Film inne und bricht in Gesang und Tanz
aus, zunächst als Solo des Protagonisten, später mit Melonenschirmen
und schwer angeschrägten Tiller Girls, die zwischen Camp und Busby Berkely
zu Cantopop der gefälligen Art choreografiert werden. Die Ambivalenz
dieser Inszenierungen kann man durchaus genießen, wenngleich auch hier
das Mulmige dem Vergnüglichen sehr eng benachbart bleibt.
Drei Filme also. Am ersten lässt sich die beträchtliche, immer
wieder auch recht großartige Überraschungseffekte Inszenierungskunst
Tsai Ming-Liangs genießen, am dritten der Wille zur grotesken
Überschreitung der von ihm bisher gepflegten Konvention des stillen,
fast dialoglosen Kunstfilms. Mit diesen beiden allein überragt "The
Wayward Cloud", von "Gespenster" mal abgesehen, den bisherigen Wettbewerb
an Kunstverstand um ein Beträchtliches. Der zweite Film aber ist von
Beginn an problematisch. Am Ende begegnen sich die drei Filme, sie treffen
sich in einer Szene, deren Abgründigkeit außer Zweifel steht.
Es beginnt damit, dass die Frau, in die der Protagonist sich verliebt hat,
im Fahrstuhl die offenbar tote, jedenfalls leblose Pornodarstellerin findet.
Sie schleppt sie in ihre Wohnung, sie isst schmatzend eine Melone.
Von der Melone und dem Schmatzen ist es nicht weit zur Pornografie, in "The
Wayward Cloud". Der Pornoregisseur kennt kein Vertun und lässt seinen
Darsteller mit der Leiche weiterdrehen. Das leblose Stück Fleisch
genügt allemal, die gefilmte, nicht die filmende Kamera muss nur den
richtigen Ausschnitt wählen. So weit, so schrecklich. Hinter der Wand
jedoch, in der sich ein vergittertes Fenster befindet, steht die junge Frau
und beobachtet den jungen Mann, der die mutmaßliche Leiche vögelt.
Ihre Blicke treffen sich. Sie schweigt, die Kamera beobachtet ihre Gesichter,
zeigt die Wand, die zwischen beiden liegt. Dann beginnt die Frau orgasmisch
zu stöhnen. Der Mann wird zusehends erregt. Er löst sich von der
Leiche, stürzt auf das Fenster zu und ejakuliert in den Mund der Frau
jenseits des vergitterten Fensters. Lange verweilt die Kamera auf diesem
pornografischen Bild. Boy meets Girl. Schnitt. Die Kamera hat ihr Schlussbild
gefunden: Von hinten ist die Frau in einer Totalen zu sehen, dahinter,
ausgeschnitten durch das Fenster, der Mann, seinen Schwanz in ihrem Mund.
Musik setzt ein, Cantopop, der Titelsong "The Wayward Cloud". Die drei Filme
sind sich begegnet und ich habe das entsetzliche Gefühl, dass Tsai
Ming-Liangs Film, der eigentliche Film, einverständig mit der Pornografie
selbst für den Fall, dass er sie eigentlich denunzieren will, im Mund
seiner Protagonistin kommt.
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