Die Filme des Amerikaners James Benning sind kinematografische
Grundlagenforschung. Man kann dazu auch Experimental- oder Konzeptfilm sagen,
schon weil man die Großartigkeit seines Unternehmens damit präzise
zu fassen bekommt. Wenn das Experiment von lateinisch
experiri: erfahren eine Erfahrung beschreibt und damit einen Vorgang
, der sich in der Zeit erstreckt und nach einem Subjekt verlang, das etwas
erfährt, dann benennt das Konzept den Begriff, die Idee, die im Entwurf
eines Experiments stecken. Das Konzept hat keine Erstreckung in der Zeit
und bedarf dieser genau dann, wenn es zu einer Erfahrung führen soll.
Das Konzept lässt sich verstehen, aber nicht erfahren. Dass die
minimalistischen Konzepte der Filme von James Benning für den Betrachter
zu intensiven Erfahrungen werden, das ist die im Kino der Gegenwart wohl
einmalige Stärke seines Werks.
Das Konzept: Die Titel seiner beiden jüngsten Filme sind so lakonisch
wie genau. 13 Lakes: Zu sehen sind 13 Seen. Jeder See wird von
der Kamera aus einem festen Aufnahmewinkel aufgenommen, für je zehn
Minuten realer Zeit. Man hört dazu, teils in nicht sehr brillanter
Qualität, den Originalton. Ein Grundgeräusch, das nicht aus der
Natur, sondern von den Aufnahmegeräten stammt, ist stets anwesend,
drängt sich manchmal in den Vordergrund. Die Kamera bleibt starr und
es geschieht, was geschieht. Wie man sich vorstellen kann, geschieht nicht
viel. Auf den ersten Blick jedenfalls. Still und ziemlich starr ruht der
See. Etwas oberhalb der Bildhälfte teilt der Horizont die Leinwand.
Im Vordergrund jeweils der See, der Horizont hat die Gestalt von Bergen,
einer Hafenbefestigung, auch einer Autobrücke, oder er ist nicht mehr
als die dünne Linie, gelegentlich beinahe verschwindend, an der Himmel
und Erde aneinander stoßen, ineinander übergehen. Die dreizehn
Seen, genauer: die See-Ausschnitte sind ähnlich kadriert. Das Wetter
ist unterschiedlich, sie sind unterschiedlich groß und bewegt, aber
stets befindet sich der Horizont, als gezackter, gerader, verschwindender,
die Grenze einer Spiegelung bildender split im screen.
10 Skies. Zu sehen sind 10 Himmel (oder Ausschnitte aus zehn
Himmeln oder zehn Ausschnitte aus dem Himmel im Unterschied zum See,
der eine Grenze hat, ist ein Himmel niemals vollständig zu erfassen,
nicht von der Kamera, nicht vom Denken. In diesem Sachverhalt gründet
die Idee der Erhabenheit der Natur bei Kant.). Jeder Himmel wird aus einem
festen Aufnahmewinkel aufgenommen, für je zehn Minuten realer Zeit.
Die Kamera bleibt starr und es geschieht, was geschieht. Tatsächlich
geschieht sehr viel, schon auf den ersten Blick. Wolken ziehen vorüber,
formen sich zu Figuren. Man sieht Figuren und Formen entstehen und sich
auflösen. Nur einmal kommt eine Art Horizont ins Bild, am unteren Rand
des dritten Himmels, die Spitzen der Wipfel von Bäumen.
Die Erfahrung: Sie ist, wie jede Erfahrung, an das Subjekt gebunden und für
jedes Subjekt eine andere. Ich kenne Menschen, die im Angesicht der Bilder
von James Benning in eine Art Rausch verfallen. Ich kann das verstehen, erfahre
und erlebe aber eher eine Art Auf- und Abschwünge zwischen Begeisterung
und Langeweile. Die stets gleich lange Zeit kann unterschiedlich schnell
verlaufen. Ein See ist nicht ein See ist nicht ein See. Der zweite See etwa
ist flächig und leer, kontrastiert kaum mit dem Himmel, in den er
übergeht. Ein öder See. Ins Grafische dagegen spielt der zwölfte
See, an der Kante von Land und Wasser bilden sich in der spiegelnden Verdopplung
von Bergen und Bäumen weiße Gravuren, pfeilförmig. Manche
Seen und fast alle der Himmel beginnen zu erzählen. Jedenfalls entstehen
Abfolgen, Verwandlungen, sich wandelnde Erstreckungen von Geschehen in der
Zeit. Einmal fährt auf einem der Seen ein Schiff in den Hafen. Es
gerät ins Bild und verschwindet wieder daraus. Das ist die Geschichte,
die dieser See erzählt. Am Ende ruht er wieder, als wäre nichts
gewesen. Ins Bild hinein gerät eine Bewegung und verschwindet.
Die Himmel dagegen sind fortwährend bewegt dank der Wolken. Kürzlich
gab es in Hamburg und Berlin eine große Ausstellung von Wolkenbildern
in der Malerei, aber keines von ihnen reichte an die Wolkenbilder von James
Benning heran. Vor unseren Augen ereignen sich dramatische Figurbildungen
und ebenso dramatische Auflösung. Im vierten Himmel formt sich
für mein Auge wenigstens eine dicke Frau wie von Botero,
plötzlich schwill ihr rechtes Bein an, quillt auseinander, explodiert
beinahe. Das ist der Splatter-Film, der in Ten Skies steckt.
Überaus dramatisch das Geschehen im sechsten Himmel. Von unten her zieht
ein grauer Dunst über den von gelegentlichen weißen Wolken besiedelten
blauen Himmel. Er zieht nach oben, bis fast die ganze Leinwand bedeckt ist.
Bevor das aber geschieht, bevor also ein vollständiger Vorhang das Bild
verdeckt, drängt von links unten wieder etwas Leichtes, Helles heran,
scheint ohne Mühe den grauen Dunst auflösen zu können. Es
folgt eine Schwarzblende. Stets trennen etwa zehn Sekunden lange Schwarzblenden
eine Einstellung von der anderen, liegen zwischen See und See, zwischen Himmel
und Himmel.
Die Bilder, die man sieht, auch die Töne, die man hört (Vogelgeschrei,
eine Bahn, die außerhalb des Bildes vorüberfährt, Schüsse),
referieren auf die Welt. 13 Lakes und 10 Skies sind
in diesem Sinne Dokumentarfilme. Weder wird, wie im Spielfilm, etwas in Szene
gesetzt außer im buchstäblichsten Sinne: durch die Kamera,
die einen Ausschnitt wählt, im Raum, in der Zeit noch sind die
Bilder, die man sieht, abstrakt. Eine Böschung ist eine Böschung,
der Mond ist der Mond. In einem bestimmten Sinne aber ist, anders als im
gewöhnlichen Dokumentarfilm, der Gegenstand, den man sieht und wahrnimmt,
nicht wirklich von Interesse. Die Seen, die Himmel sind gewöhnliche
Seen und gewöhnliche Himmel. Was wir als Betrachter wahrnehmen, über
kurz oder lang, und gerade dann, wenn uns die Zeit lang wird, ist vielmehr
unsere Erfahrung. Als Reflexion und als Erlebnis (bis hin zum Rausch. Man
kann sich, das erfährt man bei James Benning, am schieren Wahrnehmen
berauschen.) Wir erleben, wie wir Zeit wahrnehmen, wir erleben, wie wir aus
Wolkenschlieren am Himmel Figuren zu bilden beginnen, wir erleben, wie wir
uns ganz zufällige Veränderungen in der Figuration von Licht und
Schatten als Geschichten zu erzählen anfangen. Natürlich
sind das in einem bestimmten Sinne ganz einfache Erfahrungen, nichts Besonderes.
Es sind aber auch Erfahrungen, die das Kino, wie wir es kennen, uns immer
schon aufnötigt: als Gegenstand, den es hat, als Geschichte, die es
uns erzählt. Indem James Benning uns den besonderen Gegenstand, die
interessante Geschichte verweigert, betreibt er kinematografische
Grundlagenforschung. Uns, dem Betrachter, ermöglicht er so zu erfahren,
was es heißt, etwas zu erfahren. Wenn das nicht großes Kino ist.
zur Jump Cut Startseite |