Nur wer nicht wegschaut, wenn es brennt, kann auch
Lust am Leben empfinden. (Thomas Hailer, Leiter Kinderfilmfest/14
plus)
Stellen wir uns vor, die Internationalen Filmfestspiele, die zehn Tage lang
in Berlin stattfanden, wären Gallien 55 v. Chr. Am Potsdamer Platz strecken
alle die Waffen vor den einfallenden Römern, pardon, anreisenden Stars.
Das Interesse der Medien ist ihre Rüstung. Das Blitzlicht der Fotografen
ihre Waffe. Nur ein kleines gallisches Dorf nahe dem Bahnhof Zoo leistet
dem Star-Auftrieb auf dem roten Teppich Widerstand
So oder ähnlich könnte die Story über eine mit zu viel
Aufmerksamkeit bedachte Spielwiese der Berlinale namens Wettbewerb und eine
zu Unrecht völlig unterschätzte Attraktion namens Kinderfilmfest
beginnen. Zum 28. Mal zeigte letzteres 10 Spiel- und 20 Kurzfilme. Für
die im zweiten Jahr existierende ergänzende Sparte 14plus, den Wettbewerb
des Jugendfilms, wurden neun internationale Produktionen ausgewählt.
Im Gegensatz zum verschnarchten Programm im gut gepolsterten Showroom des
Berlinale-Palasts konnten es sich die jugendlichen Zuschauer auf den
durchgesessenen Kinosesseln des eher ranzigen Kinos Zoo Palast (ohne Popcorn!)
mit der Gewissheit bequem machen, immer einen interessanten Film zu sehen.
Der Gläserne Bär im Jugendfilmwettbewerb ging an Voce Inocentes
(Innocent Voices).
Uns lief ein kalter Schauer über den Rücken, wir saßen
da mit zugeschnürten Kehlen und wollten am liebsten nur nach Hause.
Durch herausragende Schauspieler und Bilder, die sich in unserem Gedächtnis
festgesetzt haben und trotzdem noch Hoffnung vermitteln, zeigte der Film
ein Thema, das uns sprachlos macht, über das man aber reden muss.
(Jugendjury 14plus)
Mit dieser emotionalen Begründung verlieh die Jugendjury der Internationalen
Filmfestspiele in Berlin in diesem Jahr den Gläsernen Bären an
den Eröffnungsfilm des Jugendfilmwettbewerbs. Voces Innocentes
(Innocent Voices) von dem mexikanischen Regisseur Luis Mandoki kommt am 21.
April bei uns ins Kino. Für diese Produktion, die von Mexiko für
den Oscar 2005 als Bester Ausländischer Film eingereicht,
aber von der Filmakademie bei den Nominierungen nicht berücksichtigt
wurde, drehte Mandoki nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder in seinem Heimatland.
Nach einem erfolgreichen Kinodebüt Ende der 80er (Gaby: A true
Story) hatte der Regisseur ausschließlich in den USA gearbeitet
und landete Box-Office-Hits im romantischen Genre (Eine fast perfekte
Liebe mit Meg Ryan; Message in a bottle mit Kevin Costner)
sowie mit dem Action-Thriller 24 Stunden Angst, in dem Charlize
Theron die Hauptrolle übernahm.
Der packende Film über ein kleines Dorf auf der Frontlinie von Guerilla
und Armee in El Salvador in den 80er Jahren arbeitet mit den dramaturgischen
Mitteln des Hollywood-Kinos eine wahre Geschichte auf. Auf den persönlichen
Erinnerungen des 1972 in El Salvador geborenen Drehbuchautors Oscar Orlando
Torres beruhend, beginnt die Handlung mit einer Gruppe von Jungen, die von
schwer bewaffneten Soldaten im strömenden Regen durch ein Dorf geführt
werden. Die Kinder haben ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt,
stapfen verängstigt, den Blick gesenkt, durch den aufgeweichten braunen
Schlamm über eine Landstraße in den Dschungel. Beobachtet von
den Dorfbewohnern, die vor ihre Häuser treten und die Militärs
mit ihren minderjährigen Gefangenen ohne ein Wort oder eine Geste des
Widerstands vorbei ziehen lassen. In einem Rückblick wird die Geschichte
dieser Jungen-Clique aufgerollt.
Der elfjährige Chava steht im Mittelpunkt, überzeugend von dem
Schauspieler Carlos Padilla dargestellt, der erste berufliche Erfahrungen
in den in Südamerika beliebten Telenovelas sammeln konnte. Chava will
für immer elf Jahre bleiben, weil das Militär die Jungen aus seinem
Dorf mit zwölf Jahren aus den familiären Zusammenhängen
reißt, sie zwangsrekrutiert und für den Kampf gegen die eigenen
Landsleute drillt. In El Salvador herrscht Bürgerkrieg, und die Armee
braucht Kindersoldaten. In einer Szene des Films kann man den gewalttätigen
Zugriff im Innenhof der Schule von Chava verfolgen. Ein Junge, dessen Namen
aufgerufen wird, läuft weg. Ein Soldat rennt sofort hinter ihm her.
Ein Schuss fällt. In den Gesichtern der Kinder spiegelt sich das Wissen
um den Mord an einem ihrer Mitschüler wider. Vor Angst weint ein anderer
Junge, er zittert, pinkelt sich in die kurze Hose der Schuluniform. Urin
läuft an seinen nackten Beinen herunter.
Überall ist das Militär präsent: Amerikanische und einheimische
Soldaten gehen bewaffnet über die Straßen des Dorfes. Lastwagen
stehen vor der kleinen Dorfkirche, misstrauisch werden die Einwohner bei
ihren alltäglichen Verrichtungen beobachtet. Immer wieder kommt es zwischen
den ärmlichen Häusern mit Wellblechdächern, in den Gärten
am Rande des Regenwaldes zu Gefechten mit den Widerstandsgruppen. Wenn
Schüsse durch die dünnen Hauswände pfeifen, weiß Chava
genau, wie er sich und seine beiden Geschwister in der Abwesenheit der Mutter
schützt: Er reißt blitzschnell die Matratzen aus den Betten,
drückt sie verstärkt durch Tische und Stühle an die Wand und
verkriecht sich darunter. Die bedrückenden Szenen wechseln ab mit
Schilderungen aus einem ganz gewöhnlichen Kinderalltag: der erste
Blickkontakt, die erste Liebe zu einer Mitschülerin, Streit mit den
Freunden beim Spiel am Fluss, Ärger mit der überarbeiteten allein
erziehenden Mutter oder die trotzige Herausforderung der Gefahr, wenn Chava
den verbotenen Sender der Guerilla und ihren Protestsong auf offener
Straße, unter den wachsamen Augen der Militärs auf seinem kleinen
Radio hört.
Auch die Botschaft des Films ist unüberhörbar, der Wunsch,
Betroffenheit über das Schicksal der Kinder und ihrer Familien zu erzeugen,
in der ästhetischen Bebilderung unübersehbar. Ein schwieriger
Balanceakt, der einerseits eine Tendenz in Richtung eines politisch gut
gemeinten, pathetischen Gefühlskinos aufweist, das die Gefahr für
die selbst im schlammigen Dauerregen noch niedlich anzusehenden Jungen bis
zum unerträglichen Höhepunkt am Ende durch ein grausames Szenarium
zu steigern weiß. Andererseits wird gerade durch den dramaturgischen
Spannungsbogen Empathie für deren Schicksal erzeugt. Bei den makellos
inszenierten, brillant gespielten und die Klaviatur der Emotion gekonnt
bedienenden politischen Filmen amerikanischer Machart zerfließt jeder
am Ende in Tränen. Deren Wahrhaftigkeit, wenn es das im Tränenstrom
zu finden gibt, lässt sich nur an einer aufrichtigen
Erzählhaltung messen, die nach Meinung von Thomas Hailer, Leiter
von Kinderfilmfest/14 plus, Anspruch an alle ausgewählten Filme war.
Innocent Voices wird dem gerecht, lässt aber jenseits
unreflektierter Betroffenheit allzu viele Fragen nach den Ursachen der Gewalt
in El Salvador in den 80er Jahren offen.
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